Hochschulen für angewandte Wissenschaft als intermediäre Orte zwischen Wissenschaft und Praxis haben die Aufgabe, Studierenden Räume zur Entwicklung ihrer Professionalität (Wissen – Können – Haltung) zur Verfügung zu stellen und entsprechende Aneignungsprozesse zu unterstützen. Die dem Beitrag zugrundeliegende These lautet: Wir haben ausreichend Erkenntnisse und Konzepte zur Wissensvermittlung und zum Methodenerwerb. Was fehlt sind Räume, die sich vorrangig und vertieft mit Fragen einer haltgebenden (professionellen) Haltung – im ‚Spiel‘ von Beziehungen – befassen.

Zur Bedeutung von Beziehungsarbeit und Beziehungsgestaltung im Kontext Sozialer Arbeit gibt es mittlerweile zahlreiche Veröffentlichungen. Was in der Wissenschaft vielfach beschrieben worden ist, findet auch eine Entsprechung, wenn ich, Michael Domes, Studierende oder Fachkräfte nach der Bedeutung von Beziehung für ihr professionelles Handeln befrage: Beziehung ist wichtig – ohne Beziehung geht eigentlich nichts! Auf die („richtige“) Haltung kommt es an!

Und doch: Eine Auseinandersetzung mit der eigenen (professionellen) Haltung findet in der Lehre überwiegend nur an der Oberfläche oder momenthaft statt. Das Sprechen über Haltung(en) verstummt häufig nach wenigen Worten. Das Wie einer Beziehung, die mir als Fachkraft und meinem Gegenüber potenziell Halt geben kann, bleibt (weiterhin) erstaunlich diffus und oft schwer fassbar. Schnell kommt man zu „Konkretisierungen“, die bei genauerem Hinsehen wiederum selbst eher abstrakt sind: Offenheit, Wertschätzung, Vertrauen oder Anerkennung. Oder man versucht eine gute Beziehung über bestimmte Methoden oder Techniken (quasi Rezepte) herzustellen – ohne, dass ausreichend thematisiert und reflektiert wird, was eine gute Beziehung überhaupt für unterschiedliche Beteiligte alles bedeuten kann. Beziehung wird quasi per se positiv konnotiert, die damit verbundene „richtige“ Haltung unhinterfragt vorausgesetzt. Aspekte von fürsorglicher Belagerung, ungleichen Machtverhältnissen oder fehlender Partizipation, die gerade professionellen Beziehungsverhältnissen strukturell innewohnen, werden so schnell zu wenig wahrgenommen. Oder Beziehung wird eher im Kontext von Störungen oder Nicht-Gelingen näher thematisiert. Die Bedeutung einer professionellen Distanz wird besonders betont. Was hingegen professionelle Nähe bedeutet bzw. bedeuten kann, bleibt relativ konturlos – unabhängig davon, ob es um (professionelle) Nähe zu anderen, zu mir selbst, zu Institutionen, Arbeitsfeldern oder Lebenswelten, in analogen oder virtuellen Räumen geht.

Und ein Weiteres: Wenn die „professionelle Praxis in der Sozialen Arbeit in erster Linie als Beziehungs- und Kommunikationspraxis verstanden werden muss“ (Gahleitner 2017, S. 309), wo findet dies entsprechende Räume der Thematisierung und Reflexion im Studium Sozialer Arbeit? Welchen Stellenwert hat Beziehungsarbeit/Beziehungsgestaltung in der Lehre, auch als ein Bereich der Ethosbildung?

Diese (meine) Erfahrungen in Wissenschaft, Praxis und Lehre führten mich zur Konzipierung eines Seminars mit dem Titel Professionelle Nähe – Erkundungen auf (un)bekanntem Terrain. Mir ging es dabei darum, für Studierende und mit Studierenden (Erfahrungs)Räume der Auseinandersetzung (Dialog und Reflexion) mit der eigenen (professionellen) Haltung (vgl. Domes und Wagner 2020) zu öffnen und zu ermöglichen – abseits reiner Wissensvermittlung und rezepthafter Verwertungslogiken und dies vor allem auch unter dem Aspekt der professionellen Nähe. Damit knüpft das Seminar an eine Aussage von Schäfer und Behnisch (2022, S. 188) aus ihrem Buch Professionelle Nähe in der Heimerziehung an, die als Fazit fordern: „Die Fähigkeit zur Gestaltung ‚guter‘ Nähe muss im Wissen, im Handeln und in der Reflexion angehender Fachkräfte erworben werden“.

Das Seminar

Das Seminar (2 SWS, Teilnehmer_innenzahl ca. 15) kann von Studierenden aller Semester besucht werden; in der Modullogik entweder als allgemeinwissenschaftliches Wahlpflichtfach oder als Angebot aus dem Bereich Kultur, Ästhetik, Bewegung. Um der Thematik ausreichend Raum zu geben, finden immer mehrere Blocktermine statt, wobei die Pausen dazwischen zur weiteren, vertieften Auseinandersetzung dienen. Jede Einheit beginnt ritualisiert mit einem Impuls aus dem künstlerisch-ästhetischen Bereich, ausgewählt und gestaltet von mir oder Studierenden. Dies kann ein Lied, ein Bild, ein Gedicht, ein Filmausschnitt oder ein kurzer Essay sein; z. B. Maike Weisspflug (2021): Die Welt in uns. Begegnungen im Schreiben und Denken oder der Song von Revolverheld „Deine Nähe tut mir weh“. Danach diskutieren wir meistens entlang eines (vorbereiteten) Fachtexts ausgewählte Aspekte der Beziehungsgestaltung, wie zum Beispiel Facetten professioneller Nähe, Emotionen und Gefühle oder auch Atmosphärengestaltung (Input und Diskussion in Kleingruppen wie Plenum), um diese immer auch mit exemplarischen (Praxis)Erfahrungen der Studierenden zu relationieren. Die Einheit endet meistens analog zum Beginn wieder mit einem Impuls aus dem künstlerisch-ästhetischen Bereich. Zwischen den Seminareinheiten gibt es kleine Aufträge (Reflexionsfragen, Übungen, Filme), die die kontinuierliche Auseinandersetzung ermöglichen sollen. Begleitet wird das Seminar durch einen Moodlekurs (verstanden als Impulsspeicher), der sowohl Fachtexte, Webseiten wie auch kreative Zugänge bündelt. Es endet mit einem gemeinsamen Abschluss, bei dem in lockerer Atmosphäre das Seminar reflektiert wird, und einer kleinen Lyrik-Lesung („Denken mit Getränken“).

Der Leistungsnachweis besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil setzen sich die Studierenden künstlerisch-ästhetisch mit ihrem persönlichen Verständnis der Thematik auseinander, sei es über Fotografie, Collage, Zeichnung/Malerei, Film (Video), Podcast, Musik, Gedicht, Slam oder ein Nähe-Tagebuch. Der zweite Teil besteht aus einer fachlichen Auseinandersetzung (Reflexion) mit der Thematik im Sinne eines Essays, in die auch konkrete Praxiserfahrungen einfließen können.

Beschreibungen können immer nur bedingt erlebte Atmosphären und Realität(en) wiedergeben, trotzdem vielleicht so viel: Dieses so andere Seminar (wie Studierende es immer wieder auf ganz vielfältige Weise geäußert haben) hat auch für mich – als lernenden Lehrenden – neue, gemeinschaftliche Räume eröffnet: Gemeinsame und individuelle Such- und Tastbewegungen – ohne „die perfekte Lösung“ zu haben oder haben zu müssen/können, sich einlassen und je unterschiedlich öffnen, berühren und berührt werden über geteilte Berührungspunkte, einander (zu)hören, Fragen stellen und Fragen entstehen lassen – ohne gleich sofort eine Antwort zu liefern; aber auf jeden Fall die Erkenntnis, wie wichtig es ist, genau diese Räume „als Bildungsgelegenheiten (…), die den Subjekten für Entwicklungsprozesse zur Verfügung gestellt werden“ (Domes und Wagner 2020), zu schaffen, ob in der Lehre oder in der Praxis Sozialer Arbeit. Deshalb – um einen vielleicht anderen, direkteren Eindruck in das Seminarkonzept zu ermöglichen: Ich danke Marcus Bahr und Sebastian Kist, die im Folgenden einen Einblick in ihre AuseinandersetzungFootnote 1 mit professioneller Nähe geben.

Immer noch am Suchen – eine Selbstflexion (Marcus Bahr)

Kurz vor Beginn unseres Seminars bin ich in Wien gewesen und habe dort auch die World-Press-Award-Ausstellung besucht. Dort hat sich mir besonders ein Bild eingebrannt: Das von einem gefangenen, gefesselten Mann, mit hinter dem Rücken verbundenen Armen, mit einem übergestülpten Jutesack im Sand sitzend, mit ausgestreckten Beinen, mit nach vorne übergebeugtem Oberkörper. Eng an ihn schmiegt sich ein recht großer Junge, vielleicht so zwölf Jahre alt. So alt wie meine Jungs. Um die beiden herum ist es leer und staubig. Die Farben werden vom staubigen Sand verschluckt. Kein Geräusch scheint die Monochromie durchdringen zu können. Ich bin auf einer Ausstellung für Pressefotografie, das ist eine irgendwo eingefangene Szene, die irgendwo so tatsächlich stattgefunden hat. So etwas kann es doch gar nicht geben, ist mein erster Eindruck. Warum sind die da? Warum so? Es wirkt so surreal. Der Fototext erklärt, das Foto wurde 2003 im Irak geschossen. Im Krieg. Es zeigt einen gefangengenommenen Bauern mit seinem Sohn auf dem Schoß. Der Junge hatte bitterlich geweint, als er und sein Vater voneinander getrennt wurden. Dann haben die Soldaten den Jungen zu seinem Vater gelassen, weil der so bitterlich geweint hat. Nun sind die beiden wieder beieinander, und was auch sonst geschieht, der Junge ist bei seinem Vater, und sein Vater ist für ihn da.

Das Seminar „Professionelle Nähe“ beginnt. Es beginnt sehr langsam. „Wie finden Sie diesen Raum?“ „Warum haben Sie die Stühle nicht anders angeordnet?“ „Wollen wir uns mit Vornamen oder Nachnamen anreden?“. Der Dozent verlässt den Raum. Wir diskutieren. Nichts Wichtiges, finde ich. Nach den Fragen des Dozenten entsteht immer wieder lange Stille, bis jemand antwortet. Alle halten das aus. Ich nicht so gut. Ich muss doch teilnehmen, aktiv sein. Mir brennen Themen auf der Seele. Die haben mit Nähe zu tun, und hier ist alles so distanziert. Ich fange einfach mal an. Ich erzähle etwas von mir. Ich erzähle eine Geschichte aus meinem Praktikum. Ich habe ein kleines erschöpftes Mädchen auf den Armen nach Hause getragen. Ich bin mit ihr bis in den Abend auf dem Spielplatz geblieben, weil sie bleiben wollte. Ihre Eltern gehen nicht mit ihr auf den Spielplatz. Es war mein letzter Dienst mit ihr. Wir gingen erst heim, als es dämmerte. Sie schrie und tobte, weil sie immer noch bleiben wollte. In meinen Armen weinte sie weiter bis zur Erschöpfung. Ich war von Mitgefühl überwältigt. Ich war so traurig. Davon erzähle ich im Seminar. Die Reaktionen sind gedämpft, es sind nur wenige, und die sind vorsichtig, so empfinde ich das. Klar, wir sind in einem Seminar an der Hochschule, das ist kein Selbstfindungswochenende oder so. Womit hab’ ich denn gerechnet?

Wir lesen Texte, über Nähe, über Gefühle, über uns selber und über andere. Ein Text handelt von dem, was andere Sozialpädagog_innen so getan haben, wenn bestimmte Vorgänge bestimmte Empfindungen in ihnen ausgelöst haben. Wenn sie gemerkt haben, dass ihr Handeln jemanden beschämt hat, haben sie etwas an den Umständen geändert. Damit eine Atmosphäre von Würde entstehen konnte. Sie haben ihre Gefühle wahrgenommen und die Ursachen dafür gefunden und ihr Umfeld dahingehend geändert, dass unangenehme Gefühle weniger häufig oder intensiv ausgelöst werden. Was gehört dazu, dass man so handeln kann, frage ich mich. Eine Qualität, die man dazu braucht, ist, die Courage zu haben, einen erkannten Missstand zu benennen und zu ändern, den Mut aufzubringen und sich zu äußern und Dinge anzugehen. Eine weitere Qualität ist es, die eigenen wahrgenommenen Gefühle zuzulassen und ihnen einen bedeutungsvollen Raum zu geben, sie zu beachten und ernst zu nehmen. Ihnen zu vertrauen.

Zurück zu meinem Erlebnis mit dem kleinen Mädchen. Diese Situation hat mehr als unangenehme Gefühle in mir ausgelöst, ich bin diesen Gefühlen selber gegenüber unsicher. Darf so etwas vorkommen in einem professionellen Kontext, schadet es vielleicht jemandem, vielleicht mir? Für mich alleine genommen wäre ein solches Erlebnis vielleicht annehmbar, aber ich will Sozialarbeiter werden. Da wird mir so etwas vielleicht immer wieder passieren, dass ich von meinen Gefühlen überwältigt bin, dass ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll. Ist das professionell oder bin ich zu empfindlich? Sicherlich darf man traurig sein in seinem Beruf, aber ich habe mich eher hilflos und überfordert gefühlt. Und habe Angst vor diesem Gefühl. Angst vor einem Gefühl. Oder Unsicherheit. Oder Misstrauen.

Als ich die ersten Texte las, die uns im Seminar angeboten wurden, habe ich einen Unterschied zwischen deren Auffassung von Umgang mit Nähe und meiner Auffassung gespürt, aber den Unterschied nicht recht verstanden. Deshalb vergleiche ich beide Situationen einmal miteinander. Die Einrichtungsleitung aus dem Text hat auf ein unangenehmes Ereignis adäquat reagiert und es dadurch beseitigt. Ich dagegen bin in eine emotional intensive Situation geraten und weiter ist es mir nicht gelungen, mit den Empfindungen umzugehen. Ich habe meiner Anleiterin davon erzählt, und ich habe, ähnlich wie im Seminar, nicht das Gefühl, verstanden worden zu sein. Ich weiß aber auch nicht, was passieren müsste, um mich verstanden zu fühlen.

Was hat das mit den Soldaten zu tun? Ich sitze schon lange über diesem Text. Ich weiß nicht, was ich noch ausdrücken möchte und lasse meine Gedanken schweifen. Fertig bin ich noch nicht. Warum finde ich kein Ende? Was ist da, das ich noch nicht sehe? Warum komme ich in keinen lebendigen Austausch zu dem Thema? Halte ich etwas zurück? Zeige ich meine Gefühle, aber doch nicht ganz? Vielleicht bin ich beschämt und verstecke mich und zugleich will ich mich mitteilen und das Ganze wird dann vollends unstimmig? Ich finde kein Narrativ. Bin ich ein emotionaler Mann, finde ich die Balance zwischen Nähe und Distanz nicht, dominiert die Scham? Wie vielen anderen wäre es so gegangen wie mir, wenn sie ein zartes, weinendes Kind auf dem Arm nach Hause tragen? Geht es hier um mich und gar nicht um das Mädchen?

Ja, natürlich geht es um mich. Deshalb sind auch die Soldaten und der Bauer mit seinem Sohn in diesen Gedanken. Es geht um Empathie, um Fürsorge, um Nähe. Das wissen sogar die Soldaten. Und ich erlebe es mit einem Kind auf dem Arm. Ich fühle, wie es ist, davon zu wenig zu haben. An ihr und in mir. So gesehen ist es vielleicht nachvollziehbar, dass ich mit dem Mädchen mitgefühlt habe und mich ihre Situation bedrückt und ich selber keine weitere Handlungsmöglichkeit sehe.

Ich spreche darüber mit einer guten Bekannten, die selbst schon viele Jahre im stationären Bereich arbeitet. Ich erzähle ihr von meinem Flattern, meinem Gefühl der Überwältigung und Rührung, wenn ich von den Soldaten, der Fürsorge und dem Mädchen spreche. Ja, sagt sie zu mir, das gehe ihr auch noch so. Immer noch auch nach all den Jahren. Sie kenne das von Kolleg_innen, die darunter auch schnell einen Schlussstrich zögen, jetzt ist auch mal gut, weiter geht’s. Ihr tue es gut, solche Gefühle bedingungslos zuzulassen. Auch nach all den Jahren rühren sie bestimmte Ereignisse noch immer an, und sie gebe sich dem hin, und das finde sie gut und richtig so. Ich finde es angenehm das so von ihr zu hören. So langsam finde ich meinen Frieden mit dem Erlebten. Ist es nicht vielleicht vielmehr so, dass die meisten Menschen gerührt gewesen wären von solchen Erlebnissen und die wenigsten hätten sich über ihre Reaktionen darauf gewundert. Bin ich als einer der Wenigen überrascht, so überwältigt worden zu sein? Und warum überrascht mich das? Manchmal, wenn ich eine neue Wahrnehmungsweise an mir kennen lerne, spüre ich eine Irritation wie leichten Schwindel durch mich gehen und das spüre ich gerade auch wieder. Ich beginne die Empfindungen zu verinnerlichen, sie anzunehmen als etwas, das dem Menschen innewohnt und mir verloren gegangen war und nun wieder sichtbar, spürbar geworden ist. Und fühlend zu sein, auch überwältigt zu sein und damit einverstanden zu sein. Weil es zum Leben dazugehört, ihm nicht immer gewachsen zu sein. Ich lerne, dass ein Ereignis und die Gefühle, die es auslöst, mich auch einmal umwehen, überfordern können. Und dass ich das aushalten kann, dass es in Ordnung ist, wenn das passiert und dass es auch vorbeigeht. Und dass ich als Sozialarbeiter einen Gestaltungsrahmen haben werde, um auf solche Ereignisse angemessen zu reagieren. Vielleicht haben es die Kolleg_innen aus den Texten ähnlich erlebt wie ich, vielleicht sind in ihnen auch Gefühle aufgewallt, vielleicht sind sie wütend geworden oder es hat sie traurig gemacht Missstände zu erleben und dann sind sie am Ball geblieben, und es ist ihr Antrieb geworden, die Missstände abzuschaffen.

Persönliche Grenzsetzung (Sebastian Kist)

Ich bin in dörflichen Gebieten aufgewachsen und meine Eltern haben dort ehrenamtlich bei Kinder- und Jugendfreizeiten mitgearbeitet, wohin ich von klein auf mit genommen wurde. So war es für mich auch selbstverständlich, dass ich als ehrenamtlicher Mitarbeiter bei Freizeiten mitgearbeitet habe, sobald ich zu alt war, um als Teilnehmer durchzugehen. Da ich in dörflichen Gegenden gewohnt habe, kannten sich dort auch viele Menschen. Somit kannten meine Eltern Eltern der anderen Teilnehmer_innen und auch schon Teilnehmer_innen selbst. Meine Einschätzung gegenüber der Atmosphäre würde deswegen als sehr familiär ausfallen. Die Umgangsweise war immer sehr herzlich und die Mitarbeiter_innen haben auch immer Witze zu Situationen gemacht, die man außerhalb der Freizeiten erlebt hatte. Wenn es Probleme auf den Freizeiten gab, haben die Teilnehmer_innen auch nie davor zurückgescheut zu den Mitarbeiter_innen zu gehen und sich dort Hilfe zu holen. Teilweise haben die Teilnehmer_innen auch einfach über ihr Leben mit den Mitarbeiter_innen gesprochen. Es gab Kissenschlachten in einer Polsterecke zwischen Mitarbeiter_innen und Teilnehmer_innen, es wurde zusammen Fußball, Geländespiele oder Gesellschaftsspiele gespielt oder einfach am Lagerfeuer gesessen und gesungen. Diese Verhaltensweisen waren für mich so normal, dass ich sie einfach als Mitarbeiter übernommen habe. Nach der Schule habe ich dann einen Bundesfreiwilligendienst (BFD) in einer Tagespflege gemacht und habe dort zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass ich eine gewisse Distanz zu Klient_innen benötige. Ich habe mir dort anfangs alles zu Herzen genommen, was Besucher_innen mir gesagt haben und das waren nicht immer nur nette Worte. Hier habe ich gemerkt, dass ich eine gewisse Distanz zu den Aussagen von Klient_innen aufbauen muss, weil mich sonst diese Aussagen zu sehr psychisch belasten würden. Allerdings habe ich das zu diesem Zeitpunkt instinktiv gemacht und nicht reflektierend hinterfragt.

Im Studium wurde dann im Modul „Theorien der Sozialen Arbeit“ darüber geredet, was Soziale Arbeit zu einer Profession macht und was professionelle Hilfe von Laienhilfe unterscheidet. Hier hat mich besonders die Aussage zu einem theoretischen Ansatz, die besagt, dass bei einer professionellen Beziehung die Gespräche nur klar aufgabenbezogen sind und nur bei einer Laienhilfe Gespräche privater Natur stattfinden, zum Nachdenken gebracht. Ich war von dieser Aussage irritiert. Ich habe gerade während meines BFD beobachten können, dass sich Klient_innen auch über Alltagsgeschichten, bzw. wenn sie selbst etwas von sich erzählen konnten, sehr gefreut haben. In weiteren Modulen wurde dann immer wieder der Begriff „Professionelle Distanz“ erwähnt, aber nie von Nähe im positiven Kontext gesprochen. Ich habe aber immer daran festgehalten, dass Nähe einen in der Arbeit mit Menschen weiterbringen kann.

Allerdings konnte ich den Bezug zur Distanz nach meinem TPT-Praktikum in einem Jugendamt viel mehr nachvollziehen. Dort konnte ich in verschiedene Bereiche hineinschauen und in jedem dieser Bereiche gab es Situationen, die mir auf Dauer zusetzen würden, wenn man es nicht schafft, diese von seinem privaten Leben zu trennen. Von Geschreie, Verfluchungen, Beleidigungen, Verleumdungen bis hin zu Klagen. Diese Situationen verbinde ich mit einer negativen Note, aber es gab z. B. auch Situationen, bei denen ein Kind sich mit einer Sozialarbeiterin bei einem Hausbesuch so gut verstanden hat, dass es nicht wollte, dass wir wieder gehen. Hier habe ich für mich auch eine Barriere aufbauen müssen, damit meine Gedanken den Rest des Tages nicht immer wieder diese Szenen durchgespielt haben, um herausfinden zu können, was diese Situation vielleicht verhindert hätte. Das ist zwar meiner Meinung nach auch wichtig, aber irgendwann nach Feierabend habe ich für mich gemerkt, dass ich unbedingt auf andere Gedanken kommen muss.

Beim Austausch mit Kommiliton_innen habe ich immer wieder gemerkt, dass diese auch mit dem Verhältnis von Nähe und Distanz in Berührung kommen. Allerdings schien es mir so, dass diese ihre Abwägungen bereits gemacht und für sich klare Grenzen gezogen haben. Für mich war es aber immer eine verschwimmende Grenze und deswegen hat sich hier Unsicherheit über meine Einstellung zur Thematik breitgemacht. Ich wollte mir auch klare Grenzen ziehen, habe aber diese nicht genau ausmachen können.

Mein Praxissemester habe ich in einem Jugendverband absolviert. Hier habe ich die komplett gegenteilige Erfahrung zum Thema Nähe, wie beschrieben, gemacht. Hier war die Stimmung sehr familiär und die Sozialarbeiter_innen schienen auch mit den Jugendlichen sehr gut zu stehen. So haben die Jugendlichen z. B. Handynummern der Sozialarbeiter_innen und die meiste Kommunikation findet über irgendeinen Messenger-Dienst statt. Ich habe mich anfangs schwer getan, meine Nummer rauszugeben, damit ich in den Gruppen mitreden und somit auch mitplanen konnte. Bei Gesprächen konnte ich auch beobachten, dass die Jugendlichen mit den Sozialarbeiter_innen über alles Mögliche reden. Dies ging auch so weit, dass die Gespräche so klangen, wie wenn ich mit Freunden reden würde. Außerdem war es auch nicht unüblich, das ein oder andere alkoholische Getränk zusammen zu trinken. Ich konnte aber nicht nur diese Beziehungen beobachten, sondern kam auch selbst in zwei Situationen, bei denen ich mir nicht sicher war, wie ich reagieren sollte. Zum einen wurde ich bei einem Frühstück bei einem Seminar von Jugendlichen Dinge gefragt wie: Wo ich genau wohne? Wer denn so meine Freunde sind? Denn man kennt ja Leute aus den Orten. Ich habe hier immer nur versucht, um eine genaue Antwort herumzureden. Zum anderen gab es eine Situation, in der Jugendliche mich überreden wollten, mit ihnen Bierpong zu spielen. Ein Nein wollten die Jugendlichen lange nicht akzeptieren, denn das sei doch normal. Bei diesen Situationen habe ich also Grenzen automatisch gezogen, auch wenn die Situationen in einem familiären Umfeld stattfanden.

Das Seminar hat mir dabei helfen können, mich nochmal vertieft mit dem Thema auseinanderzusetzen, die vorangegangenen Gedanken zu ordnen und für mich eine zufriedenstellende Lösung für den Umgang mit diesem Thema zu finden. Beim ersten Treffen gab es ein Gespräch, bei dem eine Kommilitonin und ich uns darüber ausgetauscht haben, warum wir uns für dieses Seminar angemeldet haben. Dieses Gespräch war für mich fundamental, denn in diesem Gespräch habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass es nicht nur mir so geht, keine genaue Vorstellung von der Nähe in der Sozialen Arbeit zu haben. Außerdem habe ich, während des Gesprächs, mir ein Ziel für dieses Seminar festgelegt: Finde heraus, inwiefern feste Grenzen überhaupt sinnvoll für deine Art zu arbeiten sind. Und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass feste Grenzen nicht sinnvoll sind. Es kommt letzten Endes immer auf die Situation an, in der man mit Klient_innen arbeitet. Emotionen sind bei verschiedenen Settings nicht von gleicher Relevanz. Außerdem wurde darüber geredet, dass auch ausgelernte Sozialarbeiter_innen Gefühle zum Bewerten von möglichen Handlungsoptionen heranziehen. Dies hat mir gezeigt, dass auch diese nicht die eine Lösung gefunden haben und sich auch auf ihre Gefühlslage verlassen. Für mich bedeutet dies, dass das Austesten der Grenzen ein lebenslanger Prozess ist, über den man sich immer weiter Gedanken machen sollte. Somit werden sich die Grenzen immer hin und her verschieben. Wichtig dabei ist, dass ich meine Beobachtungen und Erfahrungen festhalte und mich dieser bewusstmache, damit ich immer zwischen diesen abwägen kann und mich dann entscheide, welche Form von Nähe in einer Situation angebracht und notwendig ist.

Zum (vorläufigen) Ende

So wie der Leistungsnachweis (idealerweise) nicht das Ende der Auseinandersetzung bedeutet – spätestens in der Praxis setzt sich diese fort –, so ist das vorliegende Seminarkonzept eben auch nur vorläufig fertig. Es lebt und verändert sich durch die Interaktionen mit Studierenden und durch meine eigene Beschäftigung mit der Thematik. Es ist damit im besten Sinne work in progress oder besser process: Wissen, Können und Haltung – Professionalität, die sich in konkreten Praxissituationen in Verbindung mit den eigenen biographischen Erfahrungen entfaltet. Das Seminar kann dies – als ein Mosaikstein, als ein Ort der Ethosbildung (vgl. hierzu auch Leupold 2018) – ermöglichen. Es stellt quasi selbst eine Form der Beziehungsarbeit dar, als biographische Selbstreflexion sowie Arbeit an und mit der eigenen (professionellen) Haltung als nicht abschließbarer Prozess.

Und hier stellt sich für mich (mindestens) eine Frage: Wie können in der Lehre strukturell genügend geeignete Lernorte (auch als Schutzräume) geschaffen werden, in denen diese Aneignungsprozesse ermöglicht und reflektiert werden können, ohne dass sich dies in einem Wahlpflichtfach oder bloßem Buzzwording erschöpft?

Wenn der professionellen Beziehungsgestaltung und deren Reflexion eine so hohe Bedeutung zukommt, wenn nach Mührel „die Person der Sozialpädagogin (…) mit ihrer professionellen Haltung das zentrale Organon (Werkzeug) der Sozialen Arbeit“ (2019, S. 47) ist, muss dies auch verstärkt und dezidiert Inhalt des Studiums werden – in Räumen, die diese offenen (Bildungs‑)Prozesse leistungsdruck-frei ermöglichen. Haltung ist nicht umsonst zu haben. Sie entwickelt sich quer oder gerade auch gegen neoliberale Wissensverwertungslogiken. „Haltung bedarf der Bildung“ (Winkler 2011, S. 23), einer Bildung, die sich nicht auf den Erwerb listenförmiger Kompetenzen reduzieren lässt.