Haltung ist eine auch unter ungünstigen Umständen wirksame, relativ dauerhafte subjektive Grundorientierung. Der deutsche Ausdruck „Haltung“ ist sprachlich abgeleitet vom vielfach verwendbaren Tätigkeitswort „halten“ und bezeichnet damit vor allem ein Verweilen, etwas Beharrendes. Im Allgemeinen kann sich der Begriff transitiv oder intransitiv auf Dinge, Tiere, Körperliches, Mentales oder Soziales beziehen. Als moralische Orientierung stellt eine Haltung ein Gefüge von individuell inkorporierten Grundwerten dar.

Während in der heutigen professionstheoretischen Debatte um den Begriff der Haltung die Ethik allenfalls als ein Teilaspekt neben anderen fachlichen und persönlichen Kompetenzen thematisiert wird, hatte er ursprünglich, bei Aristoteles (um 330 v. Chr., 1984), von vornherein die Bedeutung der ethischen Haltung. Er fungierte als Korrektiv gegenüber einer allzu vernunftzentrierten Ethikkonzeption. Aristoteles registriert, dass sich einige Tüchtigkeiten, die mit Wissen zu tun haben, lehren lassen, andere jedoch nicht, nämlich die des Charakters. Sie entwickeln sich auf der Grundlage natürlicher Gegebenheiten durch Gewöhnung. Aus vielen gleichförmigen Einzelhandlungen erwächst eine Haltung, die ihrerseits zu weiteren entsprechenden Handlungsweisen führt. Haltung ist demnach eine willentlich eingeübte Wahl, die sich in Handlungsvorsätzen äußert.

Im heutigen fachlichen Diskurs wird die Bezugnahme auf eine sozialpädagogisch-professionelle „Haltung“ oft als allzu nebulös beklagt: Kaum ausreichend zu präzisieren sei, was „Haltung“ beinhaltet, wie sie von Gesinnung, Einstellung, Überzeugung abzugrenzen ist, wie sie entsteht und, im Professionalisierungskontext, ob sie sich lehren und lernen lässt, und wenn ja, wie. Auch scheint sie zu einer rückwärtsgewandten, subjektivistischen Kompensation einer objektiv haltlos gewordenen Welt zu tendieren. Eine gut funktionierende Haltung scheint an relativ statische gesellschaftliche Rahmenbedingungen gebunden zu sein, die in der Postmoderne kaum noch gegeben sind. Und schließlich scheint Haltung einen Subjekt-Zentrismus zu implizieren, der Intersubjektivität vernachlässigt.

Andererseits erweist sich der Begriff von der Sache her immer wieder als unverzichtbar. Denn um in Frage stehende Handlungen zu verstehen oder zu erklären, reicht der Rekurs auf vorgegebene Zielsetzungen nicht aus. Vielmehr ist der Sinn einer Entscheidung oder Handlung erst in Bezug auf eine weitergehende Grundorientierung der Handelnden zu verorten. Eine bestimmte Haltung ist dafür maßgebend, wie handlungsleitende Normen und Werte in unterschiedlichen Situationen durch Handlungen zur Geltung kommen. So kann zum Beispiel eine Haltung langfristiger Fürsorge sowohl eine kurzfristige Hilfemaßnahme als auch eine Alternative dazu begründen. Ein und dieselbe Haltung kann unter verschiedenen Umständen unterschiedliche Handlungen generieren, und ein und dieselbe Handlungsweise kann unterschiedlichen Haltungen entspringen (vgl. Schmid Noerr 2018, S. 70 ff.).

Auch wenn sie rationalen Entscheidungen entstammt, wirkt sie als lebensgeschichtlich sedimentierte eher emotional. Sie ist in der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur verankert und tritt nur dann (und wohl auch nur teilweise) ins Bewusstsein, wenn sie in Frage steht. Im Rahmen einer Professionsethik der Sozialen Arbeit ist sie vor allem als Verantwortung im Umgang mit Klienten relevant. Was in der geisteswissenschaftlichen (Sozial‑)Pädagogik der beiden vergangenen Jahrhunderte als philosophisch begründetes, zeitloses Ethos gleichsam über Ausbildung und Praxis schwebte, wird in neueren Untersuchungen empirisch, gesellschaftlich bedingt, auf seine Realität im praktischen Miteinander hin befragt. Statt einer wertenden Perspektive wird schwerpunktmäßig eine beschreibende und erklärende Perspektive eingenommen.

In diesem Sinne stütze ich mich hier auf Äußerungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit. Ich untersuche das Transkript einer GruppendiskussionFootnote 1 mit drei in einer Justizvollzugsanstalt arbeitenden Fachkräften hinsichtlich des dort aufscheinenden Haltungsbegriffs. So werden eine damit oft liierte Ontologie des menschlichen Daseins und ein entsprechender existenzieller Tonfall oder auch oder die Proklamation eines leeren Sollens vermieden. Andererseits wird aber der Bezug auf die philosophische Tradition der evaluativen Begrifflichkeit auch nicht abgeschnitten. Denn auf diese kann eine befriedigende begriffliche Analyse nicht verzichten.

Differenz von professionsethischer und allgemein moralischer Haltung

Bei Befragungen zeigt sich immer wieder, dass die Fachkräfte sich nicht nur als ExpertinnenFootnote 2 verstehen, die ihr fachliches Wissen und praktisches Können den Klienten zu spezifischen Zwecken zur Verfügung stellen, sondern dass sie auch als eine Art Katalysatoren fungieren, indem sie zusammen mit den Klienten einen sozialpädagogischen Prozess gestalten (vgl. Müller 1993, S. 31 ff.).Footnote 3 Für ihre Arbeit ist auch der Einsatz ihrer Empfindungen, ihrer Persönlichkeit gefordert. So ist eine professionelle Haltung nicht nur aus den institutionell vorgegebenen Aufgaben eines Berufsfeldes abzuleiten, sondern muss zugleich auch mit dem Kompass individueller Grundorientierungen vermittelt werden. Die Bereiche des Institutionellen und des Individuellen verhalten sich aber nicht unbedingt spannungsfrei zueinander. Spätestens dann, wenn die erforderlichen Einstellungen und Erwartungen allzu weit auseinanderdriften, wird die Auseinandersetzung mit einer professionellen Haltung und ihren ethischen Implikationen unausweichlich.

Dies lässt sich beispielhaft an einem beruflichen Praxisfeld zeigen, bei dem sich alltäglich-lebensweltliches Moralempfinden und professionsethische Anforderungen deutlich unterscheiden, nämlich an der Arbeit mit Straffälligen. In der Gruppendiskussion kommt der seit Jahrzehnten berufserfahrene Sozialarbeiter Freddy Teichert, zuständig für die Arbeit mit Süchtigen und Lebenslänglichen im geschlossenen Vollzug, gleich zu Anfang auf diese Diskrepanz zu sprechen. Die Klienten von vorn herein moralisch einzuordnen, ist, wie er sagt, fast unvermeidbar, aber zugleich durchaus fragwürdig:

„Ich denke, jeder hier hat so’n Bewertungsschema, wo man so einteilt: na ja gut, das kann ich verstehen, was der gemacht hat, oder ich find es nicht so schlimm, Versicherungsbetrug. Man denkt: ja gut, hat er ja keinen persönlichen Schaden angerichtet. Man hat ja für sich selberFootnote 4 so’n Werteschema, wo ich’s dann vielleicht schlimm finde, wenn ich lese: der hat ne alte Oma krankenhausreif geschlagen, um an die Handtasche zu kommen, oder der hat sich an Kindern sexuell vergangen, oder der hat jemanden umgebracht, oder so wat. […] Und dann der zweite Schritt is ja: wie geh ich dann damit um, wie geh ich auf denjenigen zu, wie tret ich ihm gegenüber, mit welchen Gefühlen, aber auch mit welchen Anforderungen an mich, an ihn. Kann ich dat wirklich ganz außenvor lassen, zu wissen, wat er gemacht hat? Es gibt ja Kollegen, die sagen zum Beispiel: ich les nie vorm Erstgespräch die Akte, weil ich dat gar nicht wissen will, weshalb der hier is, ich möchte mir erstmal einen unvoreingenommenen Eindruck von dem Menschen machen, und dann hinterher erst wissen, weshalb er da is.“

Der Sozialarbeiter weist auf die in seinem Bereich verbreitete Berufserfahrung hin, dass die privat erlebte Moral den für die Arbeit notwendigen offenen Zugang zum jeweiligen Probanden verstellen könnte. Nach dieser Moral ist beispielhaft die Zufügung eines persönlichen Schadens gravierender als die eines unpersönlichen Schadens, und die Anwendung physischer Gewalt ist umso verwerflicher, je mehr sie sich gegen Wehrlose (alte Frauen, Kinder) richtet. Die Fachkräfte empfinden es nicht nur als schwierig, von der eigenen alltagsmoralischen Haltung professionell abzusehen, sondern auch, mit befremdlichen Reaktionen aus dem sozialen Umfeld umzugehen. Teichert:

„Wenn Leute mich fragen: ‚wo arbeitest du?‘, und du sagst dann: ‚im Knast‘, is ja die ganz häufige Reaktion: ‚boah, dat könnt ich nich, ne, und du has ja nur mit solchen Leuten zu tun, wie kannste denn mit jemandem zusammenarbeiten, der Kinder da vergewaltigt, die gehören doch alle und dies und jenes‘, ne. Also da is ja auch öffentliche Meinung, die auch hier reinspielt.“

Die alltäglich geteilten Moralauffassungen sind sowohl individuell-lebensgeschichtlich als auch soziokulturell geprägt. Umso anspruchsvoller ist die mit der professionellen Haltung verbundene Anforderung an die Fachkraft, Anteile ihrer privat gelebten Moral wie auch der gesellschaftlichen Erwartungen gleichsam einzuklammern, um eine davon möglichst unbelastete professionelle Haltung einnehmen zu können.

Von der Person zur Tat: Achten, Erklären, Verstehen

Mit ihr wird zunächst von der Tat und den begleitenden Umständen abgesehen, um sich möglichst unvoreingenommen der Persönlichkeit des Täters zuwenden zu können. Ohne die Haltung einer achtenden Zuwendung zum Klienten hätte der Sozialarbeiter gar kein Kriterium, an dem er die Möglichkeit einer produktiven Arbeit mit ihm bemessen könnte. Dieses Kriterium besteht im Gelingen der Kommunikation mit dem Klienten:

„Ich sage mir immer, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was der gemacht hat, sondern wie er mir gegenübertritt, wie ich mit ihm klarkomme […], ne also en Draht zu dem kriege, oder wenn der mir normal im Gespräch gegenübertritt, dann kann ich teilweise zu jemandem, der ne ganz fürchterliche Sache gemacht hat, en besseren Draht kriegen als zu nem kleinen Eierdieb, der mir irgendwie von Anfang an querkommt, zu dem ich keinen Draht finde.“

Diese Haltung, die Tat zugunsten des Täters zurückzustellen, wird von Teicherts Kollegin Anja Seehusen geteilt, die als Psychologin in der Sozialtherapeutischen Abteilung arbeitet. Sie bemerkt, dass sie nur dann insgeheim zu einer dem Professionsideal widersprechende Abwertung von Probanden neigt, wenn diese eine eingehendere Kommunikation und Reflexion verweigern:

„… wenn die wirklich viel Zeit bei uns verbracht haben, und man dann merkt, dass sie noch anfangen, ihre Straftat zu beschönigen oder zu bagatellisieren. Das ist so der Zeitpunkt, wo ich anfange, wirklich diese Menschen zu verurteilen. Aber nicht für ihre Straftat, sondern nur, wie sie diese Chance der Therapie – oder wie sie mit der Chance der Therapiemöglichkeit umgehen, ne. Dass sie’s nämlich mit Füßen treten. Das ist, wo’s mir dann schwerfällt, die professionelle Haltung beizubehalten und auch zu sagen: na, vielleicht hat er nicht die Kapazitäten, das zu schaffen, vielleicht braucht er noch viel mehr Zeit.“

Diese Ausrichtung der Perspektive auf den Verlauf der Kommunikation mit den Probanden ist persönlichkeitstheoretisch durch die psychischen Hintergründe der Delinquenz begründet, auf die sich die Sozialtherapeutin derart bezieht:

„Ja, in der Regel haben die alle Persönlichkeitsstörungen, und Persönlichkeitsstörungen heißt ja, eigentlich ist es ne Beziehungsstörung, die die haben.“

Auch die andere Mitarbeiterin Marlies Prange, die als Sozialtherapeutin vor allem mit Sexualstraftätern arbeitet, hält die Fokussierung der Wahrnehmung des Täters anstatt der Tat für unabdingbar. Wie aus ihrer Beschreibung ersichtlich wird, ist sie zu ihrer Haltung erst im Laufe eines praktischen Lernprozesses gekommen:

„Für mich war’s am Anfang so, dass ich gesagt hab, ich möchte wirklich nur mit drogenabhängigen Menschen arbeiten, ich möchte niemals mit Lebenslänglichen zum Beispiel arbeiten oder mit Sexualstraftätern, das war für mich ganz, ganz schlimm, diese Vorstellung, auch vor dem Hintergrund wahrscheinlich, dass ich grad zu dem Zeitpunkt Mutter geworden bin. Das hat sich im Laufe der Jahre bei mir ganz, ganz drastisch verändert, ich bin dazu übergegangen, dass ich wirklich so das Bild habe, dass jeder Strafgefangene in erster Linie Mensch ist, unabhängig von seiner Straftat, jeder Mensch gute Eigenschaften mitbringt und unter irgendwelchen Bedingungen zum Straftäter geworden ist, ganz egal, ob, was weiß ich, Beschaffungskriminalität, Bankräuber, Schwerverbrecher, Mörder oder halt Sexualstraftäter. […] Ich messe keinen an seinen Straftaten. Und ich glaube, das ist ganz, ganz wichtig, sonst kann man die Arbeit da nicht machen.“

Die anfänglich als Zumutung empfundene Aufgabe, als Mutter mit Sexualstraftätern arbeiten zu sollen, zeigt, dass eine professionelle Haltung nicht nur aus erlerntem wissenschaftlichem Wissen und praktischem Können besteht, sondern mit der eigenen, lebensgeschichtlich verankerten Moral vermittelt werden muss. Dabei gelingt es der Fachkraft, sich eine ethische Haltung anzueignen, innerhalb derer die private Persönlichkeit und die berufliche Aufgabe gleichermaßen als Momente enthalten sind, ohne doch ineinander aufzugehen.

Den Probanden vorrangig als Person, nicht als Täter zu sehen, bedeutet, ihn in seiner anfänglichen Fremdheit zu achten. Achtung (hier: des Anderen als „Mensch“) ist eine asymmetrische Haltung des Respekts und der Offenheit für die noch unbekannten Entwicklungspotenziale des Gegenübers. Wenn dieser Prozess gelingt, kommen zur Achtung die Haltungen des Erklärens und Verstehens hinzu. Auch Erklären (hier: der Andere mit seiner „Beziehungsstörung“) ist eine asymmetrische Beobachtung auf der Grundlage des Fachwissens, geht aber ineins mit dem symmetrischen Verstehen in einem offenen Gespräch (hier: die „Chance der Therapie“ nutzen).

Selbstreflexion und Bereitschaft zur Perspektivenerweiterung

So wichtig die Fokussierung auf die Person des Täters anstatt der Tat ist, so sehr kann dies doch wiederum auch die professionelle Haltung gefährden, wenn man das Kriterium der unmittelbaren Beziehungsfähigkeit verabsolutiert. Dies wird dadurch nahegelegt, dass die Fachkräfte ihre soziale Anerkennung und Identität ja nicht zuletzt aus dem befriedigenden Verlauf ihrer Arbeit mit den Probanden schöpfen. Die Überlegung Anja Seehusens, ihre Verurteilung als vorschnelle zu überwinden, lässt sich in der Richtung verallgemeinern, dass zu einer professionsethischen Haltung nicht nur die Ausrichtung auf die Person des Täters gehört, sondern auch die kritische Selbstbeobachtung der Fachkraft, dass sie dann zu einer Abwertung zweiter Ordnung neigt, wenn die Arbeit mit dem Klienten auf Anhieb nicht gelingt. In diesem Fall ginge es darum, ihr erweitertes sozialtherapeutisches Wissen und Können (hier in Bezug auf Kapazitäten und Zeitverläufe) derart einzusetzen, dass sie ihre Haltung der Zugewandtheit unter widrigen Umständen beibehalten kann. Die Reflexion der eigenen unprofessionellen Impulse erweist sich so ebenfalls als ein wichtiges Element der professionellen Haltung.

Kritisches Menschenbild

Dasjenige Element, das das Individuelle mit dem Institutionellen verbindet und insofern auch die professionsethische Haltung abstützt, ist, wie Freddy Teichert resümiert, ein Menschenbild, durch das allzu sichere Selbstgewissheiten relativiert werden. Der offene Arbeitsumgang mit Straffälligen erfordert ein Menschenbild, das Delinquente und Nicht-Delinquente einschließt:

„… dass man da auch so mit Wertungen so’n bisschen vorsichtiger wird, ne, und nich in die Kategorie so leicht reinfällt: ‚so wat, boah, dat könnte mir nie passieren‘, oder so wat, ne. Sondern dass man da auch sagt: ‚okay, wär ich in’ner ähnlichen Situation gewesen oder unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen, dann hätte mir dat ein oder andere auch so passieren können, dat is unter bestimmten Bedingungen zwar nicht verzeihbar, nicht richtig, aber zumindest nachvollziehbar, verstehbar, dass ich in so ne Situation kommen kann‘. Ich glaub, dann bewert ich dat auch anders und dann geh ich auch anders mit so ner Gesamtsituation, mit so ner Straftat und so um, ne, und dann is so dieser moralische Aspekt ja auch’n Stück weit relativiert, ne so.“

Hatten die Interviewten zuvor ein positives Menschenbild nahegelegt, insofern sie bei ihrer Arbeit davon ausgingen, dass „jeder Strafgefangene in erster Linie Mensch ist, unabhängig von seiner Straftat jeder Mensch gute Eigenschaften mitbringt“ (Marlies Prange), so ist nun von der ebenso notwendigen negativen Kehrseite die Rede, nämlich dass jeder Mensch unter dem zivilisatorischen Deckmantel ein zerstörerisches Potenzial in sich trägt. Beide Seiten stehen in einer unauflöslichen Beziehung zueinander, was man als kritisches Menschenbild bezeichnen kann.

Kritikbereitschaft und Identifikation mit dem Sinn des Arbeitsauftrags

Dabei geht es nicht nur um ein theoretisches Menschenbild, in dem – philosophisch gesprochen – das Wissen um Freiheit und Determiniertheit, Kultur und Barbarei zusammengedacht werden, sondern um die sozialethische Dimension dieses Menschenbildes, nämlich, wie Anja Seehusen ergänzt, um den Sinn der Haftstrafe und der Arbeit mit den Straffälligen:

„Dass sie für ihre Straftat verurteilt werden, find ich ja richtig, dass sie ihre Strafe hier absitzen, is ja auch richtig, aber damit sie daran etwas ändern können, is doch genauso diese Arbeit auf der Sozialtherapie das, was auch wichtig ist, ne, dass sie für sich Handlungsalternativen erlernen können, dass sie für sich ne Möglichkeit und ne Chance überhaupt bekommen, in ner erneuten Stresssituation oder in ner erneuten ungünstigen Situation überhaupt anders zu reagieren.“

Hier wird thematisiert, was in den Straftheorien als Generalprävention sowie Spezialprävention bezeichnet wird. Nach ersterer hat die Gesellschaft ein Recht zu strafen, wenn durch Abschreckungsprävention und Integrationsprävention verhaltensregulierende Normen bekräftigt werden, nach letzterer soll auf den Täter entsprechend eingewirkt werden. In diesem Zusammenhang betont Freddy Teichert, dass zur professionellen Haltung in seiner Arbeit auch gehört, sich soweit mit dem sozialethischen Aspekt der Strafe zu identifizieren, als es die eigenen individualethischen MaßstäbeFootnote 5 erlauben:

„Inwieweit trage ich denn so Konferenzentscheidungen mit, wenn hier Disziplinarmaßnahmen ausgesprochen werden für bestimmte Sachen. Dat heißt, ‚Sie gehen zwei Wochen in den Bunker, in den Arrest‘, oder: ‚Sie kriegen jetzt keinen Urlaub mehr, bis –‘, oder dies oder jenes, ne. Dat sind ja alles so Sachen, wo ich, ich sag mal bösartig, ein Stück weit meine Seele hier auch mit verkauft habe, indem ich hier auch sage: das ist das System, hier arbeite ich, hier mach ich mit, dann unterstütz ich dat. […] Also die wirkliche Frage, die dahintersteckt, ist: wo arbeite ich hier überhaupt, ne, wat mach ich hier in letzter Konsequenz? Ich bin im System, was Straftäter verschließt.“

Und im weiteren Verlauf spitzt er das Problem weiter zu, indem er es als das einer fehlenden kollegialen Anerkennung thematisiert: Andere Fachkräfte, die außerhalb der Justiz in normalen Beratungsstellen im Rahmen freiwilliger Begegnungen arbeiten, bezweifeln, dass man Drogentherapie und sonstige Hilfen auch in Zwangskontexten sinnvoll durchführen kann.

Der Sozialarbeiter lässt hier offen, inwieweit er dem eigenen Anspruch einer professionsethischen Haltung, sich fragwürdigen Regeln der Einrichtung zu widersetzen, einlöst oder ihn durch Anpassung unterläuft. Ähnlich schildert die Sozialtherapeutin Marlies Prange eine Begegnung mit einem stark depressiven Probanden:

„Der war ja nun wirklich in einem schrecklichen Zustand, wo ich dachte, was würd ich jetzt aus meiner Sicht tun, er muss aufgefangen werden, da muss Sorge getragen werden, dass es dem gut geht. Und hier diese Institution hält im Endeffekt nur die Möglichkeit bereit, zu sagen: ‚ja, der ist jetzt suizidal, ab in den BGHFootnote 6, ne‘. Und das war für mich –, also ich hab nicht mit dieser Entscheidung gerechnet, weil so von meinem Verständnis her dachte ich, da muss jetzt Sorge getragen werden, dass der regelmäßige Gespräche hat, dass man guckt, dass es dem gut geht. Und so’n BGH mit seinen kahlen Wänden und unter Umständen ner Fixierung is so das Gegenteil von dem, was ich mir unter psychologischer Fürsorge vorgestellt hab. Also das war wirklich der Schockmoment für mich und das erste Mal, dass ich hier so mit dem System hier konfrontiert worden bin. Wo ich wirklich dachte, das kann doch nicht sein, die Entscheidung kann doch jetzt nicht sein.“

Die Sozialtherapeutin erkennt, dass ihr eigener fachlicher und professionsethischer Anspruch an die Grenzen institutioneller Regeln, Üblichkeiten oder Zwänge stößt. Sofern sie sich mit ihrem eigenen Anspruch identifiziert, wird sie entweder versuchen, die Bedingungen in ihrem Sinn zu ändern, oder sich in letzter Instanz ein anderes Arbeitsfeld suchen müssen. In jedem Fall gehört auch die Institutionenkritik mit zur professionsethischen Haltung.

Sensorium für Zielkonflikte

Die Sozialtherapeutin ist ein Teil des Systems des Justizsystems, gerät jedoch aufgrund ihrer professionsethischen Haltung, nach der eine psychotherapeutische Fürsorge erforderlich ist, in Widerspruch zur Maschinerie des Vollzugssystems und seinen organisatorischen Zwängen. Sie sieht sich in einem Dilemma zwischen Klientenmandat, sozialstaatlichem Mandat und Professionsmandat (vgl. Staub-Bernasconi 2018), das noch überlagert wird durch den mit der Arbeit verbundenen Verwaltungsaufwand und die notorische Knappheit der für die einzelnen Klienten zur Verfügung stehende Zeit. Da die professionsethische Haltung eng mit der eigenen Persönlichkeit verbunden ist, verlangt das Dilemma letztlich eine Abwägung und dann Entscheidung darüber, ob die Arbeit innerhalb eines kritisch betrachteten Systems als möglich erachtet wird. Anja Seehusen formuliert dabei für sich einen Kompromiss, der freilich, bei aller Kritik im Einzelnen, eine grundsätzliche Bejahung der Institution des Justizvollzugs voraussetzt:

„Ich würd mal sagen, solang unsere Gesetzgebung so ist, dass es diesen Strafvollzug gibt, das liegt ja nicht in unserer Macht, wir entscheiden ja nich: das System wird geändert und wir gehen weg vom Strafvollzug, sondern es ist da, wir haben keinen Einfluss und keine Macht drauf, da würd ich ja immer sagen, dann hab ich doch wenigstens als Psychologe oder als Sozialarbeiter die Möglichkeit in diesem System, was ich auch nicht für gut heiße, das Möglichste dafür zu tun, dass es ein bisschen weg von dem rein strafenden System geht.“

Die professionsethische Haltung ist in solchen Fällen weniger ein Kompass zur Orientierung als ein Sensorium für strukturelle Widersprüche, die manchmal nur pragmatisch ausgeglichen werden können. Dies gilt auch für die sich oft unmittelbar widersprechenden Ziele des Schutzes der Gesellschaft und der Resozialisierung der Täter:

„Also man kann die Gesellschaft schützen, und verhindert dann komplett die Resozialisierung. Das ist ein Dilemma, ne, das Gefühl zu haben, das muss eigentlich ein A‑FallFootnote 7 sein, weil, wenn ich das jetzt nicht so einkategorisiere und dann nochmal was passiert, das möchte man so nicht erfahren. Und wenn man das aber tut, ja was macht das dann mit dem Täter, ne? Eine dauerhafte Überwachung, wie wirkt sich das aus? Und gibt’s da überhaupt ne Chance für diesen Täter, nochmal ein anständiges Leben zu führen?“

Professionsethische Dilemmata durchziehen die Soziale Arbeit auf vielfältige Weise. Sie äußern sich oft dadurch, dass die Fachkraft in Entscheidungssituationen das Gefühl hat, dass sie, indem sie etwas richtig macht, unvermeidlich etwas anderes verfehlt. Die bekanntesten Spannungsfelder dieser Art sind Hilfe und Kontrolle, Nähe und Distanz, Klientenwohl und Allgemeinwohl. Strukturelle Dilemmata lassen sich nur pragmatisch lösen, etwa durch Kompromisse (wie den von Anja Seehusen angedeuteten) oder durch das Auffinden eines dritten Wegs jenseits von sich ausschließenden Alternativen (vgl. Schmid Noerr 2022).

Resümee

Allein auf der Grundlage einer einzelnen Gruppendiskussion lässt sich noch nicht auf die reale Verbreitung einer professionsethischen Haltung bei Fachkräften der Sozialen Arbeit und die Schlüssigkeit dieses Begriffs schließen. Dennoch kann man bereits einem solchen Material wie dem hier herangezogenen wichtige Hinweise darauf entnehmen, inwiefern der Begriff tatsächlich empirisch gehaltvoll ist und deutlicher expliziert werden kann als Skeptiker befürchten.

Demnach ist eine professionsethische Haltung zunächst erforderlich, um die ethischen Anforderungen des spezifischen Arbeitsauftrags im Unterschied zur eingelebten, individuellen wie sozialen Moral zu begründen. In der Haltung sedimentiert sich die Erfahrung dieser Differenz. Der spezifische Arbeitsauftrag beinhaltet auch eine spezifische ethische Anforderung an die Gestaltung der Klientenbeziehung. Wird diese fokussiert, dann tritt die Bedeutung der inkriminierten Tat als Merkmal der Person zugunsten ihrer Kommunikationsbereitschaft zurück. Die professionelle Haltung ist verlaufs- und situationsabhängig eine achtende, erklärende und verstehende. Weiterhin zeigt sich eine professionsethische Haltung in der selbstkritischen Reflexion der impliziten Abwertung von Klienten. Damit öffnet sich die Fachkraft gegenüber dem breiteren Arsenal verfügbaren fachlichen Wissens und Könnens (auch mit Hilfe von Fortbildung oder Supervision). Wissen und Können werden in der professionsethischen Haltung zu einem kritischen Menschenbild synthetisiert, das zur Förderung der Klienten motiviert, ohne die Realität ihrer „dunklen“ Seiten zu verdrängen. In der praktischen Umsetzung des Menschenbildes geht es um die Identifikation mit der eigenen Arbeit, insofern diese im institutionellen Rahmen als sinnvoll bejaht wird. Davon ausgehend nimmt die Fachkraft äußere Beeinträchtigungen der eigenen Fachlichkeit nicht fraglos hin, sondern steht für diese praktisch-institutionenkritisch ein.

Dabei fungiert die professionsethische Haltung als Sensorium für die in der Sozialen Arbeit allgegenwärtigen Spannungsfelder, die sich nicht einfach nach der einen oder der anderen Seite auflösen lassen. Die strukturellen Dilemmata durchziehen auch die Themen des hier behandelten Datenmaterials: Lebensweltliche Moral und Professionsethik, Person- und Tatzentrierung, Achten, Erklären und Verstehen, Beobachtung und Selbstreflexion, positives und negatives Menschenbild, Kritikbereitschaft und Identifikation mit dem Sinn der eigenen Arbeit. Das Sensorium für diese Gegensätze verbietet es, einer bequemen Einstellung zu folgen, die der amerikanische Publizist Walter Lippmann (zit. n. Toulmin 1991, S. 321) ironisch zugespitzt so formuliert hat: „Zu jedem menschlichen Problem gibt es eine Lösung, die einfach, sauber und falsch ist.“