Der in Sozial Extra 2|22 erschienene Beitrag von Bohrer et al. berichtet über erste Ergebnisse eines (DFG finanzierten) Forschungsprojekts unter Leitung von Prof. Dr. Christian Schrapper (Universität Koblenz-Landau) und Prof. Dr. Heinz Kindler (DJI), das im Zusammenwirken mit der Ärztlichen Kinderschutzambulanz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf (KSA) durchgeführt wurde und zu dem einige Teilstudien bereits veröffentlicht sind. Rahmend möchten wir in diesem Beitrag die beforschte Kinderschutzeinrichtung (KSA) vorstellen, etwas zum Zustandekommen dieser wissenschaftlichen Zusammenarbeit sagen und einige der Forschungsergebnisse aus unserer Perspektive kommentieren.

Hierbei beziehen wir uns direkt auf in Bohrer et al. (2022) vorgestellte Ergebnisse von Teilstudien. Die Absicht ist nicht, Ergebnisse oder Methodik im Detail zu hinterfragen. Wir wollen den Dialog anstoßen, konstruktive Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis ermöglichen und dazu beitragen, Kritik und Konstruktion in den Dienst der Praxis zu stellen.

Kritik und Konstruktion im Dienst der Praxis

Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung über Praxis, wie in Bohrer et al. (2022) berichtet, prüft nicht die spezifische Effektivität konkreter Praxisvorgänge (z. B. um Verbesserungsvorschläge zu machen), sondern sie untersucht die historische, gesellschaftliche und diskursive Einbettung von Praxis; das heißt, sie analysiert die in den Handlungen/Entscheidungen/Dokumenten der Praktiker_innen ausgedrückten Relevanzsetzungen und Deutungsrahmen und zeigt deren Auswirkungen für die Beteiligten. Dennoch ist solche Grundlagenforschung über Praxis auch reflexiv und dynamisch, das heißt, sie speist sich aus der Praxis und generiert Anstöße, Einsichten, Konstrukte, die sich mittelbar oder unmittelbar auf die diskursive Einbettung solcher Praxis auswirken können, insofern sie die Diskurse, innerhalb derer die Praxis agiert, ändert, anreichert oder verschiebt (Motzkau 2011). Das liegt daran, dass solche Grundlagenforschung über Praxis oft nicht nur im wissenschaftlichen Rahmen rezipiert wird, sondern auch von denen, die Praxis betreiben, lehren, finanzieren, organisieren, nutzen, über sie in den Medien berichten oder selbst Gegenstand/Subjekt solcher Forschung sind. Das ist gut, denn auch diese Forschung hat den Anspruch, wenn auch mittelbar, zu Kritik und positivem Wandel von Praxis beizutragen. Es ist allerdings unmöglich, die Rezeption von Forschung und deren Auswirkungen auf die Praxis direkt zu steuern (Motzkau 2005, 2009). Dies gilt noch viel mehr in einem so spannungsreichen und komplexen Praxisfeld wie dem des Kinderschutzes, wo Forschungsergebnisse nicht nur von Forscher_innen und Praktiker_innen, sondern auch z. B. in den Medien und in der Politik rezipiert werden (Ruch et al. 2014; Featherstone et al. 2014, 2018). Daher ist es wichtig, den Beitrag, den Grundlagenforschung über Kinderschutzpraxis explizit und implizit zur Konstruktion dessen leistet, was als Diagnostik, Expertise, gefährdete Kindheit oder Kinderschutz wahrgenommen wird, im Auge zu behalten, denn auch sie trägt zu den wirkmächtigen Relevanzsystemen bei, die beeinflussen, wie Kindern zugehört wird (Motzkau und Lee 2022; Motzkau 2007; Parton 1985; Biesel et al. 2021).

Forschung und Praxis in dem komplexen und dynamischen Feld des Kinderschutzes zusammenzubringen, erfordert Mut, Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein auf beiden Seiten. Die Praxis/Institution muss den Forscher_innen Zugang zu vertraulichen Daten und Vorgängen gewähren und sich offen dem wissenschaftlichen Vorgehen und den Forschungsergebnissen stellen; die Forscher_innen müssen ihren methodologischen und epistemologischen Perspektiven folgen, um die Praxis kritisch zu beleuchten, müssen aber auch sorgsam, respektvoll und reflexiv mit den erhobenen Daten umgehen, die Analyse mit Umsicht betreiben und die Rezeption/Wirkung der eigenen Forschung in relevanten Praxisfeldern reflektieren. Die Wissenschaftsphilosophin Isabelle Stengers (2008) fragt in diesem Zusammenhang „cui bono?“, für wen wird geforscht? Wem nützt die Forschung? Diese Frage kann nicht immer eindeutig beantwortet werden, sollte aber immer leitend im Vordergrund stehen. Im Spannungsfeld Kinderschutz sind Fragen und Antworten oft komplex und flüchtig; hier heißt es, sich der Ungewissheit gemeinsam zu stellen, sie konstruktiv aushalten zu lernen. Die Feministin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway hat diese, für die Forschung über komplexe Praxis charakteristische Spannung, analysiert und dieses kollaborative ‚Aushalten Lernen von Ungewissheit‘ als wesentliches Gütekriterium solcher Forschung beschrieben. Sie nennt es ‚staying with the trouble‘ (Haraway 2016). Die folgende Darstellung sollte in diesem Sinne gelesen werden.

Die KSA Düsseldorf

Die KSA wurde im Rahmen der Stiftung Evangelisches Krankenhaus Düsseldorf 1988 am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf (EVK) gegründet – in einer Zeit, in der einerseits körperliche und später auch sexualisierte Gewalt gegen Kinder immer mehr in den Fokus gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit rückte, die aber andererseits durch emotionalisierte gesellschaftliche Debatten um Missbrauch und den „Missbrauch des Missbrauchs“ (Rutschky 1992; Holzkamp 1994; Osterkamp 1997) geprägt war und zugleich gesteigertes Forschungsinteresse an der Erinnerungsfähigkeit/Glaubhaftigkeit kindlicher Zeug_innen weckte, die mutmaßliche Gewalt‑/Missbrauchsopfer sind (Volbert und Steller 2005). Im Gegensatz dazu steht der Befund einer Umfrage unter pädiatrisch tätigen Ärzt_innen, die ergab, dass 1990 in 50 % der Praxen keine einzige Verdachtsdiagnose für Kindesmisshandlung gestellt wurde (Jungjohann 1993). Zugleich erschwerte die Vielzahl zuständiger Institutionen (z. B. juristische, soziale, medizinische) und Fachrichtungen (z. B. Sozialarbeit, Psychiatrie, Psychologie) das Entstehen funktionierender Kooperationsstrukturen mit klaren Zuständigkeitsbereichen. Entwicklungen im Kinderschutz lassen sich nur vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlich-historischen Vorgänge verstehen, und mit Blick auf die KSA bietet Heinitz (2022) hier einen guten Überblick.

Der Wechsel in der Leitung der KSA 2012 war Anlass, nach fast 25 Jahren sich entwickelnder Praxis im Kinderschutz das Praxiskonzept der KSA in seiner Wirksamkeit zu überprüfen, produktive Ansätze einem breiteren Forschungs- und Praxispublikum zugänglich zu machen und die Praxis zur Diskussion zu stellen. Dies sollte vor allem auch den zukünftig an der KSA vorgestellten Kindern und Jugendlichen zugutekommen. Überlegungen, hierfür Spendengelder einzusetzen, machten es möglich, eine kompetente Forschungseinrichtung für das Projekt zu gewinnen. So wurde die Anfrage an Prof. Dr. Schrapper gestellt, der dankenswerterweise einen Weg zur Umsetzung des Forschungsprojekts u. a. als breiter angelegte, DFG finanzierte Grundlagenforschung fand, auch als sich die Hoffnung auf Spendengelder zerschlug. Von 2014 bis heute haben die Forscher_innen, angeleitet von Prof. Dr. Schrapper und Prof. Dr. Kindler und mit der tatkräftigen Unterstützung von KSA-Mitarbeiter_innen, verschiedene Teilstudien durchgeführt, die sich sowohl auf qualitative als auch quantitative Methoden stützen und sowohl Fallakten als auch Interviews mit Erwachsenen zum Gegenstand haben, die als Kinder Teil der Klientel der KSA waren. Bohrer et al. (2022) bieten einen ersten Überblick des Gesamtprojekts und geben einen Eindruck davon, wie wichtig solche vielschichtigen Forschungsprojekte für die Kinderschutzpraxis sind (siehe auch Heinitz 2022 und Haase 2021). Dies gilt vor allem in Deutschland, wo derzeit noch wenig Forschung existiert, die sich im Detail mit den komplexen interdisziplinären und interinstitutionellen Vorgängen im Kinderschutz beschäftigt, aber zugleich praxisleitende Konstruktionen und persönliche Erfahrungen von Beteiligten untersucht. Wir beglückwünschen die Forscher_innen zu diesem wichtigen Projekt und sind froh, zu dessen Anstoß und Durchführung beigetragen zu haben. Im Folgenden möchten wir mit Kommentaren und Erläuterungen den Dialog weiterführen.

Multidisziplinäre Kinderschutzdiagnostik als Antwort auf komplexe Familiensysteme

In Bohrer et al. (2022) wird die Arbeit der KSA durchgehend als ‚medizinisch‘ bezeichnet („medizinischer Spezialdienst“ S. 119, mit „medizinischer Diagnostik“ S. 123), ohne dass dieser Begriff genauer definiert wird. Unserer Einsicht nach vermittelt dies den Eindruck, die institutionelle Anbindung, die Fachkräfte, das diagnostische Vorgehen und Selbstverständnis der KSA seien durchweg ‚medizinisch‘. Es mag der Kürze des Artikels geschuldet sein, dass ‚Medizin‘ hier zum Synonym der KSA wird, wir finden dies aber problematisch, da der Begriff ‚medizinisch‘, mangels Definition, Leser_innen leicht eine streng somatische, auf den Körper gerichtete Vorgehensweise der KSA suggerieren kann. Wie wir im Folgenden zeigen wollen, vermittelt dies implizit ein falsches Bild des praktizierten Kinderschutzes und verdeckt wesentliche Besonderheiten der Arbeit der KSA (die in der Teilstudie Heinitz 2022 gut erfasst sind).

Die KSA steht bis heute unter kinder- und jugendpsychiatrischer Leitung und kooperiert mit der Klinik für Kinder und Jugendliche im EVK, positioniert sich aber schon immer explizit an den Schnittstellen verschiedener Disziplinen, um das Thema Kinderschutz möglichst vielschichtig und breit im Fachwissen der Medizin, Psychologie, Sozialarbeit, Pädagogik und Kindertherapie zu verankern. Daher arbeiten im Team der KSA Fachkräfte aus all diesen Disziplinen eng zusammen. Ziel war und ist hierbei die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den kinder- und jugendärztlichen Praxen in Düsseldorf und Umgebung, aber auch die Kooperation mit allen beteiligten Institutionen. Wo eine solche Kooperation scheitert, geraten unserer Erfahrung nach potenziell gewaltgeschädigte Kinder und ihre Familien schnell aus dem Fokus der Diagnostik und Hilfe. Dies geschieht vor allem dann, wenn professionelle Vorbehalte/Berührungsängste, unklare Zuständigkeiten oder Sorge um personelle/finanzielle Ressourcen die Oberhand gewinnen. Die Dynamik in Familiensystemen mit Gewalt ist bekanntermaßen von Misstrauen, Interessenkonflikten, Ambivalenzen, Verwirrung, Ohnmacht, Ignorieren, Verleugnung etc. geprägt. Wenn die Zusammenarbeit zwischen beteiligten Institutionen von gleichen oder ähnlichen Gefühlen belastet ist wie ein solches Familiensystem, kann es geschehen, dass sich das System der Helfer_innen dieser Systemdynamik angleicht und es ebenso dysfunktional wird wie das Familiensystem. Ein multidisziplinäres Team ist wesentlich, um dies zu erkennen und zu verhindern (Heinitz 2022 weist hierauf in seinem „zweiten Entwicklungsbogen“ hin). Weiterhin setzte sich die KSA zur Schaffung von Transparenz und zunehmender Vertrautheit untereinander zusammen mit anderen Institutionen für einen Prozess ein, in dem sich die beteiligten Institutionen in ihren verschiedenen Sichtweisen, Problemstellungen, spezifischen Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Grenzen klarer darstellen und verorten konnten. Dies schuf Kontinuität in der Zusammenarbeit und vereinfachte das Verhandeln von klaren Macht- und Entscheidungsstrukturen in und zwischen den beteiligten Institutionen. Dies ist wichtig auch vor dem Hintergrund, dass Kinderschutzprozesse häufig dringlich und mit emotionalem Druck verbunden sind, während die familiären, persönlichen und institutionellen Konstellationen komplex und oft wenig übersichtlich sind, was Entscheidungsfindungen unweigerlich konflikthaft macht.

Um solchen oft spannungsvollen Interessenlagen gerecht zu werden, betreiben wir Diagnostik als Teamprozess (der Begriff ‚medizinische Diagnostik‘ gibt das schlecht wieder). In der KSA teilen wir die unterschiedlichen Perspektiven der am diagnostischen Prozess Beteiligten auf mehrere Personen des Teams auf: Jeweils ein Teammitglied übernimmt die Kommunikation mit dem Kind, ein weiteres die mit den Eltern – bzw. zwei weitere bei getrennten Partner_innen –, ein weiteres spricht mit den Großelternpersonen und eventuell Pflegepersonen etc., weiterhin sind eventuell beteiligte Fallführungen des Jugendamts an den rahmenden Erst- und Abschlussgesprächen mit den Eltern beteiligt. Eine_r der Elternzuständigen übernimmt die Kommunikation mit weiteren Beteiligten wie Kita, Schule, Kinderarzt/-ärztin. Dieses Vorgehen soll ermöglichen, dass die jeweiligen Perspektiven von unterschiedlichen Teammitgliedern erfasst und dargestellt sowie im Team reflektiert und hinterfragt werden können, so dass im Prozess nicht die Deutung einzelner Fachkräfte (oder diagnostischer Systeme) dominiert, sondern sich ein dynamisches, transparentes und auf das spezifische Kind und die Familie fokussiertes Netzwerk von Deutungen ergibt. So können die entsprechenden Interessenlagen der Beteiligten verhandelt, reflektiert und im Sinne des Kindes einschätzbar gemacht werden, wobei das Team als Gesamtheit auch für den Gesamtblick zuständig ist.

Diese reflexive und iterative Teamarbeit sowie die Gesprächsinhalte sind aus Ressourcengründen üblicherweise nicht im Detail (z. B. Wortprotokolle oder Aufzeichnung/Transkription von Sitzungen) zu dokumentieren. Solche Details sind also nicht den Akten zu entnehmen und somit den in Bohrer et al. (2022) berichteten Teilprojekten, die Fallakten zum Gegenstand hatten, unzugänglich. Die Abläufe dieser Teamarbeit im Detail zu beforschen, könnte weiter Aufschluss geben über Ursprung und Wirkung der Kinderschutzdiskurse, in die die Praxis eingebettet ist.

Kindzentrierte Diagnostik als Beziehungsarbeit statt Ermittlungsarbeit

Weiterhin berichten Bohrer et al. (2022) Ergebnisse eines Teilprojektes (siehe auch Haase 2021), das basierend auf 28 Fallakten analysiert hat, „welche Stellung den Kindern, ihrem Wohlbefinden und ihren Sichtweisen“ (Bohrer et al. 2022, S. 123) in der Diagnostik gegeben wird. Das Forschungsergebnis ist die Metapher ‚Kind als Kronzeuge‘, die, so wird berichtet, als übergeordneter „Sinngebungsmodus“ die „Diagnostikprozesse rahmt und die Arbeitslogiken steuert“ (ebenda S. 124), was dazu führt, dass die „Interessen und Sorgen“ (ebenda S. 124) der Kinder „den Erfordernissen der Situationsaufklärung untergeordnet“ werden, da von den Kindern „erwartet wird, dass sie sich zu den von den Fachkräften formulierten angenommenen Verdachtsmomenten umfassend und glaubwürdig artikulieren“ (ebenda S. 124). Dieses Ergebnis steht in direktem Gegensatz zu unserem Anspruch, kindzentrierte Diagnostik als Beziehungsarbeit zu betreiben, und nicht, wie hier angedeutet, dem Duktus polizeilicher Ermittlungsarbeit folgend. Wir möchten diese ‚Diagnostik als Beziehungsarbeit‘ und ihren Gegensatz zu polizeilicher Ermittlungsarbeit zunächst beschreiben und dann das Forschungsergebnis kommentieren.

Im Vergleich kooperierender Institutionen ist, unserer Erfahrung nach, der Gegensatz zwischen den Zielsetzungen und Arbeitsgrundlagen der Polizei und der KSA am größten. Auf der einen Seite unterliegt die Polizei (und leitend die Staatsanwaltschaft) der gesetzlichen Pflicht, allen zur Kenntnis gekommenen Verdachtsfällen von Straftaten gegen Kinder nachzugehen und diese bei zureichender Beweislage zur Anklage zu bringen; unsere Aufgabe hingegen ist, streng dem Interesse und Hilfebedarf von möglicherweise geschädigten Kindern zu folgen; das bedeutet, zunächst die aktuelle körperliche und psychische Situation des jeweiligen Kindes aus dessen Perspektive kennenzulernen, mögliche unmittelbare Gefährdungen abzuwenden und unabhängig von etwaigen Straftatbeständen oder Gefährdungslagen Hilfeangebote zu vermitteln. Aufgrund von, oft aus der Situation erklärlichen, Unsicherheiten, Defiziten, Ängsten, Ambivalenzen und Interessenkonflikten stehen Kinder häufig vor einem unauflösbaren Dilemma, wenn sie ihre Einschätzungen, Wünsche und Gefühle zum Ausdruck bringen sollen. Um Kindern dabei zu helfen, diese zu klären, zu erklären und zu entzerren, ist unserer Erfahrung nach Beziehungsarbeit erforderlich, die neben pädiatrischen ebenso kinderpsychiatrische und -psychologische Kenntnisse sowie systemisches Verständnis erfordert (Wirsching und Stierlin 1982; Simon und Stierlin 1984). Was also im Kontext der KSA oft knapp, und scheinbar medizinisch, als Diagnostik oder etwas treffender als diagnostischer Prozess bezeichnet wird, ist eine langfristige, komplexe, multidisziplinäre, diagnostische Beziehungsarbeit, die nur von einem Team geleistet werden kann. Für das Gelingen dieser diagnostischen Beziehungsarbeit ist es zudem wichtig, das Kind vor Beginn ausführlich und entwicklungsangemessen über Grund, Ablauf und Ziel der Diagnostik zu informieren. Allerdings liegt die Zuständigkeit dafür auch bei den Sorgeberechtigten, die von uns hierzu informiert und bei Bedarf beraten werden. Zum Ende der Diagnostik besprechen wir mit dem Kind in altersangemessener Form, welche Informationen wir gewonnen haben, und stimmen soweit möglich mit dem Kind ab, welche Informationen wir an welche Personen/Stellen weitergeben. Dabei ist es uns wichtig, den Willen des Kindes so vollständig wie möglich einzubeziehen. Dies geschieht unter Berücksichtigung möglicher Verantwortungsgefühle des Kindes für Erwachsene, von Ängsten, Interessenkonflikten, Ambivalenzen und möglicher Dilemmata.

Insofern sich das eingangs zitierte Forschungsergebnis auf die persönlichen Zielsetzungen (Erwartungen) der Fachkräfte bezieht (so lesen wir es), steht es im direkten Widerspruch zur intendierten Zielsetzung unseres Vorgehens. Dies würde bedeuten, dass wir (zumindest bezüglich der 28 Fallakten) unsere Zielsetzung (Diagnostik als kindzentrierte Beziehungsarbeit) entweder nicht ernsthaft verfolgt hätten oder bei dem Versuch gescheitert wären. Dies ist eine sehr ernst zu nehmende Kritik. Wiederum ist aber anzumerken, dass auch diese kindzentrierte Beziehungsarbeit nicht im Detail in den Akten dokumentiert sein kann. Insofern sind es möglicherweise die Dokumentationspraktiken (die Akten selbst), die den Eindruck vermitteln, es werde über die Kinder gesprochen, nicht mit ihnen (siehe Bohrer et al. 2022, S. 124). Diese Beobachtung ist wichtig und sollte weiter beforscht werden, denn die Akte ist ein Bedeutungsträger, der Kinderschutzkarrieren lebenslang begleiten und beeinflussen kann. Es könnte daher problematisch sein, dass die in den Akten dokumentierten Ergebnisse nicht die vollständigen Verläufe der Arbeit mit den Kindern selbst deutlich machen. Sie geben häufig nicht wörtlich, sondern nur mittelbar Auskunft darüber, inwiefern das Kind als Akteur in den diagnostischen Prozess einbezogen ist. Insofern wird in der Folge weiterer wissenschaftlicher Bemühungen diese Dimension – vor allem in Hinsicht auf die aktive Beteiligung der Kinder – zu betrachten sein.

In diesem Zusammenhang finden wir auch die Metapher der „Kinder als Kronzeugen“ problematisch. Sie ist eingängig und euphonisch, erscheint uns aber irreführend, da sie, statt einen komplexen Praxiszusammenhang vereinfacht, aber griffig darzustellen, wesentliche Aspekte der Rolle von Kindern in unserer Diagnostik in ein falsches Licht zu setzen scheint. Der Begriff ‚Kronzeuge‘ ist im juristischen Kontext gemeinhin assoziiert mit jemandem, der/die selbst eine Straftat begangen hat, für die er/sie im Rahmen eines Strafprozesses aufgrund von belastenden Aussagen gegenüber Komplizen Straffreiheit oder -milderung erhält. Das „Kind als Kronzeuge“ suggeriert in diesem Sinne also, dass Kinderschutzkinder selbst Mittäter_innen seien. Dies ist natürlich nicht der Fall, und eine solche Mittäterschaft wird auch von Haase (2021) nicht behauptet. Weiterhin ist uns bewusst, dass Metaphern in der qualitativen Forschung nicht gegenständlich oder wörtlich gemeint sind, und dies wird in der entsprechenden Arbeit von der Forscherin inklusive der Einschränkungen des Metapherngebrauchs erläutert (Haase 2021, S. 228). Solcher Erklärungsbedarf macht die Metapher aber ungeeignet. Dies ändert zudem auch nichts daran, dass eine solch griffige und prominent als Titel der Teilstudie situierte Metapher für die Leserschaft – gemäß der Funktion von Metaphern, die Überzeugung, die wir in Bezug auf das Bekannte haben (Kronzeuge), auf den sich neu zu erschließenden Sachverhalt zu übertragen – einen missverständlichen Deutungsrahmen schafft. Insofern die Metapher mit ihren explizit forensisch-juristischen Assoziationen darauf abzielt, die Konstruktion des Kindes als ‚Indiz‘ (Nicht-Akteur) in einem allein auf die Beweiserhebung fokussierten Prozess darzustellen, wäre die Metapher des Kindes als ‚Corpus Delicti‘ geeigneter. Diese ist aber unserer Ansicht nach gleichermaßen problematisch, da auch sie einen strafprozesslichen Bedeutungsrahmen suggeriert, der auf die Reduktion des Kindes zum Beweismittel hinausläuft. So geht auch diese Metapher am Kern der in der KSA praktizierten Arbeit vorbei, bei der das Kind gerade nicht Indiz in einer zu erstellenden Beweiskette, sondern aktive_r Gesprächspartner_in in/bei der Ermittlung von Hilfebedarf ist. Es mag sein, dass wir diesem Anspruch in der täglichen Praxis nicht immer vollkommen gerecht werden können, und hier ist weitere Forschung nötig, dennoch ist es uns wichtig zu betonen, dass dieser Anspruch besteht und dass die Kinder und Familien, die zu uns kommen, sowie beteiligte Kooperationspartner_innen und involvierte Privatpersonen sich darauf verlassen können, dass wir kindzentrierte Diagnostik nicht als Ermittlungsarbeit, sondern als systemische Beziehungsarbeit verstehen und durchführen.

Auftragsanlass: Kindeswohlgefährdung und allgemeiner Hilfebedarf

Die Ergebnisse der Teilstudie zu den Fallverlaufsmustern (für die in 30 Fällen KSA-Akten und Jugendamtsakten zusammengeführt und analysiert wurden) beleuchten interessante Muster und geben Hinweise auf Abläufe und Charakteristiken bei guten und weniger guten Fallausgängen. Hieraus ergibt sich für die Praxis, an welchen Stellen nach Ursachen und Zusammenhängen geschaut werden muss, um ungünstige Ausgänge zu vermeiden. Kritisch kommentieren wollen wir jedoch die Tatsache, dass die vier vorgestellten ‚Falltypen‘ (siehe Bohrer et al. 2022, S. 122) ausnahmslos als auf einem zu klärenden Verdacht der Kindeswohlgefährdung basierend dargestellt sind. Auch wenn dies sicherlich das Fallsample akkurat wiedergibt, scheint uns dies problematisch, da es bei der Leserschaft den Eindruck erwecken kann, die KSA nehme ausschließlich Fälle an, in denen explizit die Aufklärung von Kindeswohlgefährdung im Vordergrund steht (ebenda S. 121). Uns ist bewusst, dass die Studie beispielhaft Verlaufsmuster identifiziert und nicht den Anspruch hat, ein repräsentatives Bild aller vorkommenden Fallkonstellationen zu geben (was bei einem Sample von 30 aus 5000 Akten ohnehin nicht möglich wäre). Aber auch wenn in dem Fallsample kein solcher Fall vorkam, finden wir es wichtig anzufügen, dass für die KSA eine Kooperation mit dem Jugendamt (bei vorhandenem Einverständnis der Sorgeberechtigten) vereinbarungsgemäß immer dann besteht, wenn es ein wie auch immer geartetes Interesse des Jugendamtes an der Diagnostik bzw. ihren Ergebnissen gibt. Dies gilt nicht nur bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung im engen Sinne (also im §8a-Verfahren), sondern auch dann, wenn es um die Ermittlung von Hilfebedarf im Sinne guter Entwicklungschancen eines Kindes im Rahmen von Hilfen zur Erziehung geht.

Verschiedene Lesarten von Untersuchungsergebnissen

Abschließend ein Kommentar zum Fazit der Teilstudie, die, basierend auf der quantitativen Auswertung von registrierten Fallzahlenentwicklungen, Anmelde- und Kontaktanlässe von 1984-2014 untersucht: „Ob Bedarfe und Risiken von Kindern erkannt und behandelt, ob und wie sie und ihre Eltern unterstützt oder kontrolliert werden, hängt wohl weniger von ‚objektiven‘ Lebensumständen oder Gefährdungslagen ab. Vielmehr scheint relevant, was jeweils politisch und fachlich diskutiert wird und welche gesellschaftlichen Entwicklungen den Kinderschutzdiskurs bestimmen.“ (Bohrer et al. 2022, S. 122). Zwei Autor_innen (Komesker und E. Motzkau) lesen dieses Fazit mit Sorge, denn aus ihrer Sicht kritisiert es die KSA-Fachkräfte für Voreingenommenheit und mangelnde Objektivität, wonach diese, insofern sie sich von Politik, Medien/Fachdebatten leiten ließen statt von den Lebensumständen/Gefährdungslagen der Kinder, ihren Auftrag verfehlten. J. Motzkau weist darauf hin, dass eine so spezifische Praxiskritik sich aus einer solchen Fallzahlenstudie nicht ableiten ließe. Sie liest das Fazit als eine Erläuterung zu dem Befund, dass Kinderschutz sich als „wandelbare soziale Konstruktion darstellt“ (ebenda S. 122), womit die Teilstudie wichtige Hinweise darauf liefert, inwiefern sich die jeweils dominanten Kinderschutzdiskurse in den Fallzahlen, aber auch in den dokumentierten Begrifflichkeiten widerspiegeln (was aber nichts über die Entscheidungsprozesse, Kompetenz oder Objektivität einzelner Fachkräfte aussagt). Es ist wichtig, solche Lesarten ernst zu nehmen und zu klären, egal, ob es sich um unklar ausgedrückte oder um missverstandene Forschungsergebnisse handelt.

Fazit

„Wer schreibt, der bleibt“ (Haase 2021, S. 242), merkt Haase richtig an, und dies gilt sowohl für das Schreiben von Akten als auch für das Veröffentlichen von Forschungsergebnissen. Akten und Forschung werden von Beteiligten unweigerlich unterschiedlich rezipiert. Solche Rezeptionen ernst zu nehmen, gibt Aufschluss darüber, wie weiter zusammengearbeitet werden kann. Das heißt nicht, dass Praktiker_innen bei Forschung über Praxis Deutungshoheit haben oder diese zensieren dürften, dass Fehler in der Praxis nicht vorkommen, nicht ermittelt oder angemahnt werden dürften, oder dass problematische Praxiskonstruktionen von Kinderschutzkindern nicht herausgearbeitet werden sollten. Um das gegenseitige Vertrauen, das zukünftige Forschung erst möglich macht, aufrecht zu erhalten, und auch Ergebnisse von Grundlagenforschung der Praxis zugänglich zu machen, ist es aber genauso wichtig zu verfolgen, wie Forschung rezipiert wird, denn so wird die gemeinsame Kritik und Konstruktion von Kinderschutzpraxis möglich (Biesel et al. 2021). Das hieße, noch konsequenter mit den Praktiker_innen und nicht über sie zu forschen (Nissen 2012).