Truc-Quynh Vo ist zweite Vorsitzende des Careleaver e. V. Zudem engagiert sie sich seit mehreren Jahren in Wiesbaden ehrenamtlich im Kulturzentrum „KREA“. Beruflich steht sie als Sozialarbeiterin jungen Menschen z. B. im Wohnungsnotstand zur Seite. Darum ist es ihr ein Anliegen, dass auch junge Menschen in prekären Lebenslagen in der Politikberatung beteiligt und die Stigmatisierungen der jungen Menschen bekämpft werden. Das Gespräch mit Truc-Quynh Vo hat der Sozial-Extra-Beirat Wolfgang Schröer geführt. Die beiden hatten sich vorab darauf geeinigt, sich zu duzen.

FormalPara Sozial Extra:

Du hast in den vergangenen Jahren viele Erfahrungen auf kommunaler, aber auch auf Landes- und Bundesebene in der Beteiligung junger Menschen in der Politikberatung gemacht. Wo siehst du besondere Herausforderungen?

FormalPara Truc-Quynh Vo:

Eine große Herausforderung ist, dass die Erwachsenenwelt es nicht zulassen will, dass junge Menschen ebenso mitsprechen und gehört werden und mitentscheiden können. Hier besteht die Grundproblematik, die Erwachsenen handeln immer wieder so – und sie haben letztlich die Macht dazu –, als wenn sie darüber entscheiden könnten, wann junge Menschen gehört werden und wann nicht. Es gilt doch, einfach mal den Schalter umzulegen und zu problematisieren, warum die Erwachsenen so viele politische Beratungsprozesse und Entscheidungsräume von den jungen Menschen abgrenzen oder vor ihnen verschließen(s. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Truc-Quynh Vo

FormalPara Sozial Extra:

Du siehst die Grundproblematik in der grundsätzlichen Machtdifferenz zwischen Erwachsenen und jungen Menschen?

FormalPara Truc-Quynh Vo:

Es geht nicht darum, dass es eine grundsätzliche Differenz zwischen Erwachsenen und jungen Menschen gibt, sondern wie Unterschiede gemacht werden. Die Erwachsenen haben die Macht. In den Diskussionen um Beteiligung wird darum die Differenz zwischen Erwachsenen und jungen Menschen immer wieder machtvoll ausgenutzt. Die Erwachsenen entscheiden allein darüber, wer wann wo mitbestimmen darf.

FormalPara Sozial Extra:

Wenn du sagst: „Einfach mal den Schalter umlegen“, wird damit ja ausgedrückt, dass es eigentlich ganz einfach sei, die Räume zur Beteiligung in der Politikberatung zu öffnen. Doch ist es so einfach?

FormalPara Truc-Quynh Vo:

Ja, es ist eigentlich ganz einfach. Es geht darum, dass die Erwachsenenwelt merkt, wie sehr sie sich gegenüber den jungen Menschen abschottet oder sie in die zweite Reihe drängt. Gleichzeitig ist es aus meiner Erfahrung aber auch sehr schwer. Denn es geht ja nicht nur darum, dass jetzt Erwachsene, die bisher nie mit jungen Menschen gesprochen haben, zu diesen gehen und sagen: „Erzähl mir mal, wie es Dir geht und wie fühlt Ihr Euch und was wollt Ihr ändern?“ Da sehen sich die jungen Menschen häufig nicht verstanden oder fühlen sich dadurch auch nicht angesprochen. Es geht ja auch nicht so einfach, dass junge Menschen – insbesondere junge Menschen in prekären Lebenslagen – sich jetzt einfach öffnen und den Erwachsenen über ihr Leben erzählen. Dann sagen die jungen Menschen berechtigterweise, was soll das, was soll ich mit denen reden, die verstehen ohnehin nicht, worum es geht oder es hat keine Konsequenzen, wenn ich denen etwas erzähle. Hier müssen wir uns Gedanken machen, wie eigentlich wer erst einmal eine Vermittlung schafft und wie Übersetzungen stattfinden können. Wie überhaupt auch Glaubwürdigkeit hergestellt werden kann und das beidseitige Misstrauen bzw. „Nichtzutrauen“ abgebaut wird.

FormalPara Sozial Extra:

Damit verweist du auf eine sehr wichtige Problematik. Würdest Du sagen, dass kaum Strukturen existieren, in denen jungen Menschen sich wirklich in der Politikberatung beteiligen können?

FormalPara Truc-Quynh Vo:

Lass mich anders beginnen. Es ist erst einmal wichtig darauf hinzuweisen, dass gerade auch junge Menschen – auch junge Menschen in prekären Situationen – sich grundlegend gerne beteiligen wollen. Dennoch, und da scheint ein weiteres Problem vorzuliegen, besteht überhaupt nicht der eigene Gedanke, dass sie gefragt werden oder dass sie die Vorstellung haben, jemand könnte sich für ihre Positionen interessieren. Hier ist ein tiefer Graben entstanden, so dass viele gar nicht denken, dass ihre Positionen von Interesse seien, ihnen zugehört wird – geschweige denn, dass sie ernst genommen werden. Kürzlich habe ich im Rahmen der kommunalen Sozialpolitik mit einem jungen Menschen gesprochen, der im Wohnungsnotstand ist und Erfahrungen mit der Straffälligenhilfe hatte. Er war vollkommen verwundert, dass ich ihn gefragt habe, was aus seiner Position und Lebenslage lokalpolitisch anders gestaltet werden müsste. Es war ihm eine absolut neu, dass man sich für ihn interessieren könnte und er auch einen Beitrag leisten könnte, wie politisch Veränderungen gestaltet werden können. Dass seine Erfahrungen auch zur Aufklärung von Missständen beitragen können und er selbst am besten weiß, was ihm in der Situation geholfen hätte, zeigt, dass Betroffene sehr wohl am besten über Lösungen ihrer Problemlagen mitentscheiden sollten. Vielmehr entscheidet die Politik darüber, was die besten Problemlösungen für Betroffene sind, ohne selbst die Auswirkungen und Konsequenzen tragen zu müssen. Meiner Meinung nach ist da schon eine große Distanz zwischen den verschiedenen Positionen entstanden und wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir diese Distanz abbauen.

FormalPara Sozial Extra:

Wenn wir den Schalter umlegen würden, bedeutet es dann wohl auch, Infrastrukturen der Beteiligung aufzubauen. Bisher ist ja nicht zu erkennen, dass junge Menschen – gerade in prekären Lebenslagen – in politischen Beratungsprozessen beteiligt werden.

FormalPara Truc-Quynh Vo:

Dies sehe ich auch so. Die Kinder- und Jugendgrundsicherung, die derzeit ja auf Bundesebene diskutiert wird, könnte wirklich ein hoch interessanter Anknüpfungspunkt sein, um Jugendbeteiligung in der Politikberatung voranzubringen. Hier wäre es doch entscheidend und wichtig, dass junge Menschen, gerade in in prekären Lebenslagen und in ganz unterschiedlichen Lebensaltern – von der Kindheit und Jugend aber auch die jungen Erwachsenen – gefragt werden, was für sie soziale Sicherung und eine Grundsicherung bedeutet. Bisher erlebe ich hier vor allem Diskussionen zwischen Erwachsenenwelten, zwischen unterschiedlichen Expert_innen der Sozialpolitik und der steuerlichen Gestaltung. Wenn danach gefragt wird, wie junge Menschen hier beteiligt werden, wird darauf verwiesen, dass es schon schwierig genug sei, die unterschiedlichen Ministerien und die unterschiedlichen Welten der Sozialpolitik zusammenzubringen. Es ist doch interessant, dass die Beteiligung junger Menschen, um die es hier geht in der Kinder- und Jugendgrundsicherung, dagegen ausgespielt wird, dass es schon in der Erwachsenenwelt schwierig genug sei, sich darauf zu einigen, wie eine Kinder und Jugendgrundsicherung aussehen könnte. Das klingt für mich albern und auch anmaßend. Wenn dies die Perspektive zur Beteiligung junger Menschen in der Politikberatung ist, werden wir kaum weiterkommen. Dabei wäre die Kinder- und Jugendgrundsicherung eine wirkliche Chance, hier eine Infrastruktur aufzubauen, in der man junge Menschen beteiligt. Dies ist sicherlich mindestens genauso schwierig, wie unterschiedliche Ministerien zusammenzubringen, denn wie ich oben gesagt habe, ist der Graben durchaus breit, der zu überspringen ist.

FormalPara Sozial Extra:

Also ist die Beteiligung junger Menschen in der Politikberatung nicht einfach ohne grundsätzliche infrastrukturelle Veränderungen möglich?

FormalPara Truc-Quynh Vo:

Es beginnt schon damit, dass junge Menschen ihre Beteiligung fast immer ehrenamtlich erbringen. Sie sollen – so die Erwartung der Erwachsenenwelt – dankbar sein, dass sie gehört werden. Selten wird zudem gesagt, was mit ihren Beratungen weiter politisch passiert oder wo ihre Positionen bleiben. Die Ehrenamtlichkeit ist ja nicht per se das Problem, sondern die Haltung der erwarteten Dankbarkeit, dass Erwachsene sie angehört haben, halte ich für höchst problematisch. Es braucht auch nicht große Formen von Entlohnung oder Bezahlung, aber es gilt zu berücksichtigen, dass ehrenamtlich auch bedeutet, dass die jungen Menschen nicht einfach schnell mal verfügbar sind, z. B. für die Terminsetzungen der Fachkräfte in Politik und Verwaltung. Für mich geht es hier unter anderem auch um die kostenfreie Weitergabe von Wissen und Erfahrungen der jungen Menschen an die Erwachsenen, die nur in der regelhaften Arbeitszeit gehört werden würde, wenn sich die jungen Menschen nach den Erwachsenen richten. Außerdem haben junge Menschen oft wenig Erfahrung mit den Formen der politischen Administration und diese wiederum kaum mit der Beteiligung junger Menschen. Das ist nicht sonderlich förderlich für den Prozess. Weiterhin haben junge Menschen viele Informationen nicht. Auch in der Schule können sie selten lernen, wie sie sich an politischen Beratungsprozessen beteiligen können. Es muss hier viel mehr Informationsarbeit gemacht werden. Es braucht eine Förderung der jungen Menschen. Dies ist ja auch die Idee, wenn ich es richtig verstehe, die jetzt im SGB VIII, also im Kinder- und Jugendhilfegesetz, steht, dass Selbstorganisationen junger Menschen mehr gefördert werden sollen. Auch hier ist zu sehen, dass junge Menschen dieses fast immer ehrenamtlich tun. Insgesamt bedeutet es doch, dass es eine eigene Infrastruktur dafür braucht, wie junge Menschen sich in der Politikberatung beteiligen können.

FormalPara Sozial Extra:

Interessant – was ist denn deine Erfahrung mit der Beteiligung von Selbstorganisationen?

FormalPara Truc-Quynh Vo:

Es ist ja sehr gut, dass jetzt im SGB VIII Selbstorganisationen einen eigenen Platz bekommen haben und auch in den entsprechenden Gremien, z. B. den Kinder- und Jugendhilfeausschüssen beteiligt werden können. Wenn es rechtlich auch sehr wenig stark formuliert ist, um es vorsichtig auszudrücken. Dennoch liegt die Herausforderung auf einer anderen Ebene. Selbstorganisationen junger Menschen brauchen eine eigene Infrastruktur. Selbstorganisationen können zwar auch gegen die nicht unbedingt förderlichen Bedingungen entstehen und arbeiten. Sollen sie aber produktiv und nachhaltig im Kontext der Kinder- und Jugendpolitik sowie -hilfe mitgestalten können, müssen sich die Infrastrukturen ändern. Die eigene jugendpolitische Qualität der Selbstorganisation muss anerkannt werden. Meine Erfahrung ist, dass bisher so getan wird, als wenn Selbstorganisationen professionelle Fachverbände seien oder als wenn sie aus sich heraus eine unerschöpfliche Energie haben. Dabei müssen sie sich mit den vorhandenen Bedingungen immer wieder neu auseinandersetzen und abkämpfen. Meine Befürchtung ist aber, dass die bisherigen, teils sehr guten Strukturen der Selbstorganisation deshalb bald an ihre Grenzen stoßen und erschöpft sein werden. Entweder müssen sich die Selbstorganisationen neu organisieren und aufstellen oder die Infrastruktur etabliert sich zu ihren Gunsten. Besser noch wären, vor allem die finanziellen Unterstützung bzw. Förderungen noch auszubauen, um sich (noch) besser strukturieren zu können. Zumindest in der Kinder- und Jugendhilfe und Jugendpolitik sind Selbstorganisationen bisher nicht infrastrukturell in der Förderung eigenständig anerkannt. Dies geht von der lokalen Ebene bis auf die Landes- und Bundesebene. Wenn der eigene Charakter von Selbstorganisationen nicht anerkannt wird und sie nicht entsprechend gefördert werden, wenn also keine eigenen Infrastrukturen für Selbstorganisationen geschaffen werden und keine eigenen Informationskampagnen und Programme aufgelegt werden, wenn nicht gezeigt wird, dass es systematisch gewollt ist, dass junge Menschen und ihre Selbstorganisationen sich in der Politikberatung beteiligen, werden die aktuellen Bemühungen eine Alibi-Funktion bleiben.

FormalPara Sozial Extra:

Vielen Dank für Deine Zeit und das Gespräch.