Kulturelle Bildung und Soziale Arbeit werden in öffentlichen und politischen Gesprächen oft als zwei getrennte, nicht durchgehend miteinander harmonierende oder sogar miteinander eng verwobene Handlungsfelder gesehen. Diese immer noch verbreitete Annahme übersieht die engen, strukturellen und inhaltlichen Wechselbeziehungen des Kulturellen und des Sozialen.

Kultur und die Praxis der Kulturellen Bildung werden in alltagsweltlichen Verständigungen tendenziell immer noch dem Elitären, dem Exklusiven, einem ästhetisch-expressiven Feld der Kunst und des künstlerisch Kreativem zugeordnet. Orte und Räume des Kulturellen scheinen – gerade auch im Selbstverständnis junger Menschen (Keuchel und Larue 2012) – demnach zuvorderst Museen und Ausstellungsräume, Theater und Opernhäuser, Literaturhäuser und Ballettsäle zu sein, also öffentliche Orte, die konzentriertes und stilles Betrachten, Zuhören, Genießen und Wahrnehmen hochkultureller Werke zu ermöglichen versprechen. Soziale Arbeit hingegen wird zuvorderst assoziiert mit privaten Räumen des „Schmuddeligen“ und „Dreckigen“, mit Armut und sozialen Problemen, Gewalt und individuellen und gesellschaftlichen Konflikten. Als vornehmliche Räume und Orte Sozialer Arbeit identifiziert werden die Straße und „abgehängte“, prekäre Quartiere und Stadtteile, Familien, denen es nicht gelingt, ihr Leben ohne Unterstützung zu bewältigen, Jugendhäuser, die von Kindern und Jugendlichen aufgesucht werden, die meinen, ihren Alltag mit gewaltvollen Praktiken gestalten zu können.

Diese Beschreibung des Feldes der Kultur und Kulturellen Bildung sowie der Sozialen Arbeit überzeichnet nicht nur, sie ist, obwohl immer noch präsent, zutiefst klischeehaft. Das Bild ignoriert, dass sich erstens das gesellschaftliche Verständnis von Kultur in den letzten Jahrzehnten veränderte. Nicht mehr nur der Besuch von Aufführungen auf den Theater‑, Musical- und Opernbühnen, die Betrachtung von Bildern in den Kunstpalästen oder das Lesen von Literatur und Hören von klassischer Musik wird als kulturelle Praxis angesehen. Das Kulturverständnis verabschiedet sich seit fünfzig Jahren sukzessiv von der Dominanz bürgerlich-elitären Sicht- und Ausdrucksweisen. Nicht nur Graffitis oder neuen literarischen und performativen Ausdrucksformen, auch bislang als trivial abgewerteten Alltagspraktiken oder Medien und swm Spiel wird eine kulturelle Bedeutung zugeschrieben. Diese Anerkennung und Öffnung bezieht sich auch auf Ausdrucksformen und Kulturpraktiken anderer, vor allem nicht-europäischer Kulturkreise. Zweitens wird über die Eingangsbeschreibung ignoriert, dass kulturelle Angebote im Rahmen der Sozialen Arbeit sehr wohl verbreitet sind. Kulturelle Arrangements finden in Kindertageseinrichtungen, der Kinder- und Jugendarbeit und in sozialräumlichen und soziokulturellen Projekten, in Familienzentren oder der pädagogischen Altenarbeit einen Ort. Die beiden Hinweise können drittens als Illustration für den gesellschaftlichen Bedeutungsgewinn des Kulturellen und des Ästhetischen im Kontext der Formulierung von subjektiven Selbstpräsentationen wie auch für die gesellschaftliche Aufwertung des Sozialen im Rahmen der Diskussionen um den Zusammenhalt der Gesellschaft angesehen werden. Die nachfolgenden Hinweise versuchen, diese einleitenden Überlegungen weiter aufzuhellen, auch indem an zuweilen übersehene, historische Thematisierungen von Kultur, Kultureller Bildung und Sozialer Arbeit erinnert wird.

Kultur und Gesellschaft

Kultur ist Lebensform und -weise, Artikulation von Lebensqualität, Ausdruck davon, wie der Mensch lebt und arbeitet (zu diesem erweiterten Verständnis von Kultur siehe auch die Beiträge von Birgit Althans und Stefanie Kiwi Menrath sowie in Bezug auf frühkindliche Bildungsangebote den Beitrag von Fabian Hofmann in diesem Schwerpunkt). Diese Sichtweise, Konstruktion von Kultur, mündet in den 1970er-Jahren in dem Anspruch, Modelle einer „Kultur für alle“ (Hoffmann 1979) zu entwickeln und umzusetzen. Wiederbelebt wird damit eine Vorstellung von Kultur, die am Ursprung des Begriffs, der „cultura agri“, dem Ackerbau und dem Bewirtschaften des Bodens, wie der „cultura animi“, dem Philosophieren über das Sein und den Sinn und das Leben anknüpft. Sukzessive verabschiedet wird dieses archaisch-philosophische Verständnis von Kultur in der Frühen Neuzeit und endgültig in der Moderne. Als Kultur wird jetzt angesehen, was in der feudalen Gesellschaft nicht durch und über das Volk, sondern vom Klerus und vom Adel als solche ausgewiesen wird. Kultur präsentiert sich nicht über die Produktionsweisen, das Leben und Denken bäuerlicher und handwerklicher Milieus, sondern wird diesen über Liturgien, Rituale, Prozessionen, Feste und Feiern repräsentiert durch die klerikale und adelige Herrschaft. Die Begriffe Kunst, Kultur und Bildung verschmelzen und werden zu dieser Zeit weitgehend synonym verwendet. Auch mit der Herausbildung einer bürgerlich-plebejischen als Pendant zur aristokratisch-klerikalen Öffentlichkeit verändert sich diese Gleichsetzung von Kunst und Kultur nicht wesentlich. Kultur ist fortan jedoch nicht mehr einzig das in den Klöstern und monarchistischen Herrschaftshäusern situierte, sondern auch das, was in den Stuben bürgerlichen Lebens, in den Wirtshäusern und Cafés, in den Werkstätten und Manufakturen, auf Kirmessen und Festen stattfindet. Kultur ist von nun an nicht mehr nur eine Kultur. Die Kultur der Handwerker und Bauern wird als „Volkskultur“ gesehen und von der weiterhin existierenden ständischen und der neuen bürgerlichen Kultur abgegrenzt.

Mit der Formatierung und Stabilisierung des Kapitalismus und der Etablierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickeln sich Ideen und Formen bürgerlicher Kultur, die das 20. Jahrhundert als dominante, hegemoniale Kultur prägen. Die Durchsetzung der bürgerlich-kapitalistischen Kultur als hegemoniale bedeutet nicht, dass andere kulturellen Lebensweisen und -formen nicht parallel existieren. Jedoch werden diese an der hegemonialen Kultur gemessen und im Vergleich zu dieser verortet und bewertet. Das öffentliche Bild von Kultur wird geprägt durch am bürgerlichen Mainstream ausgerichteten, öffentlich kommunizierten Konstruktionen von Kultur. Die Bestimmung von klassischer Musik, E‑Musik, als „Hoch-“ und von Schlagermusik, U‑musik, als Volks- oder „Trivialkultur“, ist Ausdruck dieser Thematisierungspraxis von Kultur.

Über Sichtweisen wie „Kultur für alle“ können diese Hierarchisierungen kultureller Praxis wie die damit verbundenen Dynamiken kritisch befragt und über kultur-, ungleichheits- beziehungsweise modernisierungstheoretische Ansätze zu verstehen versucht werden. Die englischen Jugendforscher des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) (vgl. u. a. Clarke et al. 1979; Willis 1978) bezeichnen mit dem Begriff Kultur die Praktiken gesellschaftlicher Gruppen, selbstständige Lebensformen zu entwickeln, um „ihren sozialen und materiellen Lebenserfahrungen Ausdrucksformen“ zu verleihen. Kultur wird verstanden als „die Art, die Form, in der Gruppen das Rohmaterial ihrer sozialen und materiellen Existenz bearbeiten (…), die Praxis, welche das Gruppenleben in sinnvoller Form realisiert und objektiviert“, umfasst „die Bedeutungen, Werte und Ideen, wie sie in den Institutionen, in den gesellschaftlichen Beziehungen, in Glaubenssystemen, in Sitten und Bräuchen, im Gebrauch der Objekte und im materiellen Leben verkörpert sind (…) und wie diese Formen erfahren, verstanden und interpretiert werden“ (Clarke et al. 1979, S. 40 f.). In bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften werden auf Basis dieser Bestimmung zwei Formen von Kultur, die des Bürgertums und die der Arbeiterklasse, lokalisiert. Jugendliche können aus Sicht der Birminghamer Kulturforscherinnen eigenständige Jugendkulturen, Jugendsubkulturen, entwickeln (siehe in diesem Schwerpunkt den Beitrag zu Jugend und Digitalität von Julia Rohde) – Jugendliche aus dem Bürgertum als kreativer Stilbastler*innen oppositionell zur hegemonialen Kultur des Bürgertums, Jugendliche aus dem Arbeiter*innenmilieu in Renitenz zur hegemonialen Kultur wie zu der ihrer Klasse.

Die damit verbundene, binäre, auf zwei Klassen bezogene Sichtweise und darüber herausgebildeter zwei Kernkulturen sieht Pierre Bourdieu (1982) kritisch. Zwar meint auch er von einer macht- und klassenbezogenen Strukturierung der Gesellschaft ausgehen zu können, doch scheint aus seiner Sicht nicht mehr allein die ökonomisch-soziale Lage ausschlaggebend für die Entwicklung von Kultur zu sein. Neben dem ökonomischen Kapital – Einkommen und Vermögen – kommt der Verfügbarkeit über soziales Kapital – Freundschaften, Beziehungsnetzwerke, Kontakte – sowie die kulturelle Kapitaldisposition – Besitz an kulturellen Produkten wie Bücher oder Musikinstrumente, erworbene Bildungsabschlüsse und Titel und sowie familial und institutionell erworbenes Wissen – für die Herausbildung von Lebensformen und -stilen eine prägende Bedeutung zu. Vermittelt über die so grundierten Formen des Lebens ist Kultur nicht milieugebunden – naturhaft – gegeben, sondern wird erarbeitet, in den imaginären Räumen von möglichen Lebensstilen hergestellt. Kultur artikuliert sich als Habitus, als „Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata zum Erkennen, Interpretieren und Bewerten (…), als Lebensstil“ (Bourdieu 1982, S. 278). Aufgrund mannigfaltiger Distinktionsprozesse und -dynamiken kann P. Bourdieu vielfältige Formen von Kultur, die jeweils auf spezifische wie eigensinnige Praktiken der Herstellung und Positionierung hinweisen, im gesellschaftlichen Raum identifizieren.

Die Formen von Kultur und die Praktiken des Kulturellen werden diesem Verständnis von Kultur folgend durch unterschiedliche Herstellungsorte in den divergenten sozialstrukturellen Feldern – Milieus – der Gesellschaft zugleich präfiguriert wie durch diese über Praktiken des Kulturellen und Sozialen geprägt und verändert (siehe hierzu auch den Beitrag von Maria Neumann, die Fragen von Digitalität, sozialer Ungleichheit und Sozialer Arbeit in ländlichen Räumen diskutiert, sowie den Beitrag von Birgit Althans zu Praktiken der Herstellung von Kultur in diesem Schwerpunkt). Über eine nicht klassifizierende und nicht hierarchisierende Lokalisierung von Kultur im gesellschaftlichen Raum wird ermöglicht, kulturelle Stile entsprechend der artikulierten Alltagspraktiken klassismus-, gender- sowie rassismuskritisch und -sensibel im Ensemble gesellschaftlich präsenter Kultur zu verorten (siehe hierzu den Beitrag von Stefanie Kiwi Menrath).

Kulturelle Bildung – erste Annäherung

Kultur und Kulturelle Bildung erfahren in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten einen enormen Aufmerksamkeitsgewinn (vgl. u. a. Bockhorst 2018). Die seit den 2010er Jahren realisierten empirischen Forschungsvorhaben, der auf Kulturelle Bildung fokussierte vierte Bildungsbericht (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012) wie auch die Adressierungen Kultureller Bildung auf handlungspraktischer Ebene sowie damit verbundene Förderstrategien können als Indiz für diese Wahrnehmung angeführt werden. Zu beobachten ist allerdings auch, dass kaum noch wie in den 1980er-Jahren (vgl. u. a. Müller-Rolli 1988) der Frage nachgespürt wird, was unter Kultureller Bildung, Kulturpädagogik, ästhetischer Bildung, Kulturvermittlung, Soziokultur oder sozialer Kulturarbeit jeweils verstanden werden kann. Kulturelle Bildung ist inzwischen ein Containerbegriff (vgl. Weiß 2017), der ohne inhaltliche Eindeutigkeit eine Vielzahl von Assoziationen erlaubt. Er erweist sich einerseits enorm anschlussfähig zu unterschiedlichen Praktiken, Konzepten und Trägerstrukturen, insbesondere wenn von weiten Kultur- und Bildungsbegriffe ausgegangen wird. Die momentanen zu beobachtenden Diskurse zur Kulturellen Bildung zeigen anderseits allerdings keine theoretisch fein justierte, differenzierende und empirisch abgesicherte Auseinandersetzung mit dem Begriff Kulturelle Bildung und die älteren Theorieversuche scheinen parallel zu der sich immer breiter entwickelnden Landschaft kultureller Angebote und Projekte in Vergessenheit zu geraten. Zu erkennen ist eine gewisse Abwehr, vielleicht auch Müdigkeit gegenüber dem Anliegen, den Begriff weiter zu schärfen.

Die Ursprünge der heutigen, institutionalisierten Kulturellen Bildung sind in der Singbewegung der bürgerlichen Jugendbewegung, die aus dem Wandervogel des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsteht und von lebensreformerischen, kulturkritischen und reformpädagogischen Ideen einer industriekritischen Strömung des Bildungsbürgertums angeregt wird, zu finden. In den ersten Schriften der Singbewegung ist noch von musikalischer Erziehung die Rede. Ab Mitte der 1920er-Jahre wird die damit verbundene Idee erweitert und fortan von musischer Erziehung und Bildung gesprochen, über die gemeint wird, eine Veränderung von Gesellschaft – und Kultur – zu erreichen. Dass jedoch über das Musische die Welt verändert werden kann, sei illusorisch und die gesamte musische Bewegung sei gespeist von einem mystischen Irrationalität, meint Theodor W. Adorno. Die durch ökonomische Realitäten gestalteten gesellschaftlichen, entfremdeten Verhältnisse können nicht durch Singen, Tanzen oder rhythmisches Klatschen ihrer Wirkmächtigkeit beraubt werden. Die musische Singbewegung prägt nicht nur ein nationalkonservativer, präfaschistischer Idealismus, so ist den vorgetragenen Einwänden zu entnehmen, sondern auch die Idee, dass ein ästhetischer Gemeinschaftswille die ökonomische Sphäre ernsthaft und radikal beeinflussen kann (Adorno 1972 [1956]). Th. W. Adornos Einwände, so zutreffend sie auch sein mögen, sind allerdings auch geprägt von einem elitären Kultur- und Kunstverständnis. In Kulturpraktiken wie Filmen, Comics oder Jazzmusik sieht er eine Trivialisierung des Kulturellen und der Kunst, die einzig der Zerstreuung dient, um von den katastrophalen Zuständen der Wirklichkeit abzulenken und im „Vergnügen“ „Einverstandensein“ (Horkheimer und Adorno 1979, S. 130) zu erzeugen.

Kritiken gegen die musische Bildung überzeugen angesichts ihrer partiellen Involviertheit der musischen Idee und Bewegung in das nationalsozialistische Herrschaftssystem. Gleichwohl knüpft die musisch-kulturelle Bewegung in den 1950er-Jahren an traditionelle Ideen an. Erst mit dem Beginn der 1960er-Jahre werden die Überlegungen zur musischen Erziehung auch von den damaligen Protagonist*innen vorsichtig kritisch befragt. Allerdings nicht die ideologiekritischen Einwände, sondern pragmatisch pädagogische Motive geben den Anlass, die bisherigen Ideen und Konzepte zur „musischen“ Erziehung zu überdenken. Die ehemals musische Bildung versteht sich jetzt als musisch-kulturelle Bildung und neben Schule und Familie als dritten Sektor einer allgemeinen Jugendbildung. Ein zentrales Ziel wird aber weiterhin in den Möglichkeiten gesehen, über Angebote der musischen Erziehung zur Entwicklung von kulturellen Identität beizutragen. Ein radikalerer Wandel von der musischen zur musisch-kulturellen Bildung ist erst ab den 1970er-Jahren zu erkennen. Diesen beförderten nicht zuletzt die soziokulturellen und kulturpolitischen Projekte, Initiativen und Experimente, die sich ab Anfang der 1970er-Jahre erst vereinzelt, dann jedoch immer zahlreicher entwickelten. Klassisch musisch kulturelle Tanz‑, Spiel‑, Rhythmik‑, Sing‑, Theater‑, Mal- und Literaturprojekte sehen sich jetzt konfrontiert mit neuen, nicht mehr nur die individuellen Ausdrucksformen des einzelnen fördernden Experimenten und mit einem sich deutlich gesellschaftspolitisch orientierenden Trägerspektrum. Musische Bildung wird zur soziokulturellen Animation und unter diesem Begriff gewinnt das Soziale im Kulturellen an Bedeutung und als Projekt im und der Bildung kulturellen Alltagslebens verstanden.

Sozio-kulturelle Animation – Bildung – wird als Projekt der Veränderung von städtischen Sozialräumen gesehen und versucht, kulturtheoretische und sozialpolitische Ansprüche über Projekte, die sich an Milieus und Adressat*innengruppen wenden, die einem bürgerlich-hegemonialen Kultur- und Kunstverständnis nicht durchgehend nahe stehen, insbesondere auch Jugendlichen, umzusetzen. Kommunikationszentren, Jugendzentren und andere soziale Räume können erkämpft und geschaffen werden.

Sukzessive entwickelt sich eine neue Idee von Kultureller Bildung, die nicht zuvorderst in den „Tempeln“ und Angeboten der Hochkultur, Museen, Theatern oder Musikschulen ihren Praxisort findet, sondern auch in Kulturhäusern, in der sozialen Gemeinwesenarbeit, in der Kinder- und Jugendarbeit, in der Jugendverbandsarbeit sowie in kultur-, medien- und spielpädagogischen Projekten und dann, etwas später, auch in der Gründung von Jugendkunstschulen.

Kulturelle Bildung – eine zweite Annäherung

Ob Kultur und Kunst überhaupt als ein Teil und Gegenstand von Bildungsprozessen verstanden werden können, ist eine Frage, die in der Geschichte des Nachdenkens über Bildung durchzieht. In immer neuen Gewändern eingefüllt wird in Beiträgen aber auch davor gewarnt, Kunst und Ästhetik sowie Erziehung und Bildung miteinander in Beziehung zu bringen oder gar zu verwechseln.

Demgegenüber setzt Klaus Mollenhauer auf das Projekt einer ästhetischen Alphabetisierung, die die Differenz zwischen „Bild“ und „Begriff“ toleriert. Die individuellen Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen akzeptierend, hält er ästhetisch-kulturelle Bildung durch pädagogische Prozesse für möglich, wenn dem besonderen Verhältnis zwischen Werk, künstlerisch-kultureller Produktion und subjektiver Wahrnehmung entsprochen wird (Mollenhauer 1995; vgl. auch Fuchs 2015). Wie sich der Zusammenhang zwischen Bildung und Kunst in Abhängigkeit vom gesellschaftlich gegebenen Ort der Betrachtung und Produktion von Kultur und Kunst herstellt, zeigt Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands. Coppi, Heilmann und das Erzählerische Ich von Peter Weiss unterhalten sich Mitte der 1930er-Jahre in der Küche von Coppis Mutter und in ihrem Beisein über den von ihnen in Berlin besuchten Pergamon-Altar. Sie versuchen die gesellschaftlichen Bedingungen und das Alltagsleben derjenigen nachzuzeichnen, die den monumentalen Altar erschufen. Während denjenigen, die den Pergamon-Fries in harter Arbeit angefertigten, so stellen sie fest, die Darstellungen im „magischen Dunkel“ fremd blieben, wussten die Kundigen, diejenigen, die die Darstellung in Auftrag gaben, die Priester, Künstler und Gelehrten, neben der handwerklichen Leistung sehr wohl die Bedeutung der dargestellten Ereignisse zu erkennen und einzuschätzen. Wie heute können die „Eingeweihten“, die bildungsbeflissenen Spezialisten, die Handwerkskunst würdigen, versehen diese jedoch mit dem Narrativ Kunst. Hingegen jedoch können die, die „nicht den Begriff der Bildung kannten“ (Weiss 1983, S. 9), die Skulpturen des Altars zwar sehen, jedoch die dargestellte Geschichte nicht vollends verstehen.

Für Coppis Mutter scheint die besprochene Sache weniger kompliziert. Für sie ist klar, dass, „die Last der Peinigungen, mit der das Zustandekommen der Kunstwerke bezahlt worden war“ (Weiss 1983, S. 50), die Eigentumslosen zu tragen hatten. Sie regt die Sichtweise an, dass die „Privilegien der Herrschenden nicht aufgehoben“ werden können, „ehe wir uns Einblick in die Verhältnisse verschafft und grundlegende Kenntnisse gewonnen“ (Weiss 1983, S. 53) haben. Gemeinsam teilen die Diskutant*innen die Erkenntnis, dass es unbedingt erforderlich ist, sich das Wissen des bürgerlichen Bildungsmilieus anzueignen, um es dann aus Perspektive derer, die Bildung nicht am elterlichen Frühstückstisch en passe erwerben können, zu erzählen, „um zu uns selbst zu kommen“ (Weiss 1983, S. 41). Die „Suche nach Selbsterkenntnis“ (Weiss 1983, S. 57) erscheint ihnen ein strapaziöser wie komplexer Prozess, weil „nicht nur die Kultur (…) neu zu schaffen“ ist, sondern auch zu sondieren ist, „was uns betrifft“ (Weiss 1983, S. 41).

Räsoniert wird in diesem Gespräch nicht nur über den Zusammenhang von Herkunft, Kultur und Kunst. Nachgedacht wird auch über die Möglichkeiten und Bedingungen, Bildungsprozesse zu gestalten. Indem die Bedingungen und Möglichkeiten, Bildung zugänglich zu machen, reflektiert werden, werden zugleich auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die es ihnen unmöglich machen, zumindest erschweren, Bildungsprozesse zu gestalten, thematisiert. Die Reflexion des eigenen gesellschaftlichen, kulturellen wie sozialen Standortes ermöglicht ihnen, ihr Verständnis und ihre Sicht auf Kunst zu diskutieren. In Auseinandersetzung mit Kunst thematisieren sie ihr Verhältnis zu ästhetisch-künstlerischen Produkten und Produktionen (s. hierzu auch den Beitrag von Stefanie Kiwi Menrath).

Kulturelle Bildung, so teilen uns die Protagonisten aus der Ästhetik des Widerstandes mit, wird da möglich, wo es Kindern und Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Menschen gelingt, die Bedeutung der Betrachtung und Herstellung von Kultur und ästhetisch-künstlerischen Produkten für den weiteren Weg durchs Leben zu erkennen, es also gelingt, die biographische Bedeutsamkeit des Engagements zu erfahren. „Lebenskunst lernen“ (Breuning 1999) wird spätestens mit der Jahrtausendwende zu einem Leitmotiv, das versucht, Kulturelle Bildung offensiver im Wechselverhältnis von Subjekt und Welt zu verorten und auf ein emanzipatorisches Bildungsverständnis zu beziehen. Kulturelle Bildung wird demnach in Projekten, Angeboten und Situationen und sozialen Räumen (vgl. Hübner und Kelb 2015) möglich, in denen die sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Erfahrungen und Lebensformen der teilnehmenden Akteur*innen zum Ausgangpunkt und Gegenstand von kulturellen, ästhetisch-künstlerischen Auseinandersetzungen, Produktionen und Darstellungen werden und über diese die handelnden Akteur*innen provozieren, Gefühle, Erlebnisse, Erfahrungen und gewonnene Erkenntnisse und den erworbenen Blick auf die Welt mit anderen zu reflektieren (siehe hierzu auch die Beiträge von Birgit Althans und Maria Neumann in diesem Schwerpunkt).

Das Kulturelle und das Soziale

Kultur und das Soziale finden in modernen Gesellschaften wie auch Projekte der Kulturellen Bildung und der Sozialen Arbeit neu zueinander. Kulturelle Bildung, die subjektive Bedeutsamkeit von Kultur im Alltag, Aneignung von ästhetisch-künstlerischen Fertigkeiten wie auch der Erwerb von kulturellem Wissen und Können, ist auf Kommunikation und Interaktion, also auf soziale Aktivität, ebenso angewiesen wie Soziale Arbeit, die für die Bewältigung von individuellen und kollektiven Krisen sowie für die Gestaltung des Sozialen und von gesellschaftlicher Inklusion und Zugehörigkeit gesellschaftlich mandatiert ist, auf das sinn-, gemeinschafts- und wertestiftende Wissen des Kulturellen. Die Bedeutung dieses Zusammenhangs dokumentieren neben Beiträgen in diesem Schwerpunkt (siehe die Beiträge von Birgit Althans und Maria Neumann) beispielsweise auch die Befunde des Forschungsvorhaben „Bildungsprozesse in der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit“. In dem Vorhaben konnte der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern Angebote von Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Projekten nicht nur kulturell-ästhetische, sondern auch soziale Bildungsprozesse bei Heranwachsenden anregen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass für den Erwerb von kulturell-ästhetischen Fähigkeiten aus Sicht der befragten jüngeren Jugendlichen insbesondere auch emotionale und soziale Gruppenprozesse, Peerpraktiken sowie das Erleben von Zusammenhalt und Gemeinschaft bedeutsam sind (vgl. Rohde et al. 2021).

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts scheint sich die Auflösung sozialer Milieus zu dynamisieren (vgl. Beck 1986). Von diesen Veränderungen scheinen nicht mehr nur einzelne Gruppen, Milieus oder Klassen, sondern alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen betroffen zu sein. Die Neukonfigurationen der Gesellschaft formatiert eine neue „soziale Architektur“ (Beck 1986, S. 29) und bringt neue soziale Ungleichheiten hervor. Über Generationen tradierte, in den sozialen Räumen wie selbstverständlich eingelagerte soziale und kulturelle Milieus schienen an Bedeutung zu verlieren. Zudem sinkt ihr Potenzial, kollektiv hervorgebrachte, akzeptable und akzeptierte Welt- und Selbstdeutungen bereit zu stellen, um sozialen Zusammenhalt aufrecht zu erhalten und situativ zu reproduzieren. Dabei verliert Kultur keineswegs das von Bourdieu charakterisierte Distinktionspotenzial, aber die tradierten, gewohnten Diskurs- und Integrationspotenziale des Kulturellen geraten „unter Druck“.

Die Transformation wäre allerdings unzureichend lediglich als eine „Implosion des Sozialen“ beschrieben (vgl. Ricken 2016). Die Gesellschaftsmitglieder sind mit einer veränderten Sozialität konfrontiert und werden gezwungenermaßen zu Handwerker*innen neuer Beziehungs- und Identitätsbildungen und Formen des sozialen Zusammenhalts (vgl. Thole et al. 2021). Individualisierte Gesellschaften kennzeichnet eine Tendenz zur Entnormalisierung des gesellschaftlich vorrätig gehaltenen Sozialen. Wenn den Überlegungen von Andreas Reckwitz (2019) gefolgt wird, verschärfen und dynamisieren sich die gesellschaftlichen Veränderungen in den letzten Jahrzehnten weiter als Rationalisierung in der Logik des Allgemeinen und Kulturalisierung in der Logik des Besonderen. Selbstverwirklichung, Authentizität und Kreativität werden zu zentralen Mustern der Selbstpräsentation. Das Projekt jeden Einzelnen, sich gut zu fühlen und gegenüber anderen souverän zu präsentieren, realisiert sich infolgedessen nicht mehr über Hinweise auf kollektiv Geteiltes, sondern vornehmlich über Präsentationen, die das Einzelsubjekt individuell herstellt und auszeichnet. Das „komplizierte Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen (…) nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist“ (Reckwitz 2019, S. 9), wird zum zentralen Antrieb der Selbstpräsentationen sowie zum Motor einerseits der Singularisierung wie anderseits der Kulturalisierung des Sozialen. Wenn diese Beobachtung gesellschaftlicher Transformation zutreffen, dann tragen sie zum Verstehen der Aufwertung des Kulturellen, und damit der Kulturellen Bildung, wie der des Sozialen, und auch der Sozialen Arbeit, nachhaltig bei.

Die damit verbundene gesellschaftliche Aufwertung des Kulturellen und der Kulturellen Bildung wie des Sozialen und der Sozialen Arbeit finden sich auch in volkswirtschaftlichen Daten dokumentiert. Für den Kulturbereich in Europa wird für das Jahr 2019 ein Gesamtumsatz von 253 Mrd. € ausgewiesen – für die Automobilindustrie werden mit 107 Mrd. € weniger als die Hälfte genannt. Mehr als 7,6 Mio. Menschen sind europaweit inzwischen im Kulturbereich beschäftigt (vgl. Lorch 2021). In der Bundesrepublik Deutschland stieg die Wirtschaftsleistung des Sozialsektors von 1991 bis 2015 um 140 %, die in den anderen Bereichen durchschnittlich lediglich um 40 %. Die Zahl der Erwerbstätigen im Sozialbereich verdoppelte sich im selben Zeitraum. Ab 2003 entstand jeder sechste neue Arbeitsplatz im Sozialbereich. Inzwischen sind 6 % aller Erwerbstätigen in Deutschland, circa zwei Millionen Beschäftigte, in diesem Bereich engagiert – 1991 waren es lediglich 3 % (Brenke et al. 2018).

Das Kulturelle, die Herstellung von Kultur und die Kulturelle Bildung, verzahnt sich, wenn diesen Überlegungen gefolgt werden kann, durch gesellschaftliche Veränderungen motiviert mit dem Sozialen nicht mehr ausschließlich über gegenseitige Inbeziehungssetzungen, sondern unmittelbar dadurch, dass sie unabhängig voneinander nicht mehr denkbar zu sein scheinen und sich gegenseitig fabrizieren.