Die Logik des Krieges erzwingt eine klare Aufteilung der Welt in zwei Seiten: Angreifer und Verteidiger, Gegner und Verbündete. Sie duldet keine Distanzierung, denn alle Kräfte sollen für den Kampf mobilisiert werden. Distanz gilt als Feigheit oder Verrat. Moralisch entspricht dem eine Aufteilung der Welt in die eindeutig gute und die eindeutig böse Seite.

Aber selbst wenn das alles so klar und eindeutig wäre, wir genau wissen könnten, dass wir auf der eindeutig richtigen Seite stehen, bleibt der Krieg nicht folgenlos. Er führt zu Tod und Zerstörung. Auch ein Sieg macht die Opfer auf beiden Seiten nicht wieder lebendig. Die heutigen Helden sind morgen vielfach psychische Wracks, kehren verstümmelt oder in Leichensäcken zurück. Wer aus der Not der Verteidigung die Tugend des heroischen Kampfes macht, ist folglich zynisch oder dumm.

„Auf welcher Seite stehst Du?“ ist die falsche Frage

Es handelt sich nicht um den ersten Krieg in Europa nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Auch Auslandseinsätze der Bundeswehr gehören längst zur Normalität. Gleichwohl stellt es eine besonders dringliche Herausforderung dar, zur Rolle Deutschlands und der NATO im aktuellen Krieg eine vertretbare Haltung zu entwickeln. Denn im Unterschied zur Beteiligung der NATO am Kosovo-Krieg 1999Footnote 1 geht es dieses Mal erstens nicht nur um eine begrenzte militärische Aktion, sondern um einen Krieg von aktuell unabsehbarer Dauer, der zudem Bestandteil eines weitreichenden und langfristigen geostrategischen Konflikts ist (s. unten). Zweitens geht damit nunmehr eine grundlegende Diskursverschiebung einher, deren Kern die offensive Anerkennung von Kriegsführung als unverzichtbares Mittel politischer Machtkonflikte ist. Dies geschieht in Verbindung mit der Forderung nach einem neuen Realismus, der sich von vermeintlich unrealistischer Skepsis gegenüber weiterer Aufrüstung und ohnehin von vermeintlich naiven pazifistischen Positionen verabschiedet.

Zudem ist diese Diskursverschiebung und die damit einhergehende Erhöhung des Rüstungsetats ersichtlich auch für Sozialpolitik, Soziale Arbeit sowie schulische und außerschulische Pädagogik folgenreich: Denn Geld, das in den Militäretat fließt, steht nicht für soziale Zwecke zur Verfügung.Footnote 2

Entscheidender aber ist: Nimmt man die dominanten Positionen des politischen Diskurses ernst, dann wäre in der Konsequenz Akzeptanzbeschaffung für Rüstung, Militär und Kriegsführung eine Aufgabe, die sich die schulische und außerschulische Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen, und folglich auch die Ausbildung von Fachkräften der Sozialen Arbeit und Lehrer_innen, zu eigen machen sollten. Antimilitarismus und Pazifismus müssten als pädagogische Haltungen als naiv und unzeitgemäß gelten. Konkret gefasst: Sollen Kinder, Jugendliche und Studierende lernen, über Soldaten als Helden zu sprechen, die Ästhetik der Waffen zu bewundern und anzuerkennen, dass Krieg die notwendige Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist? Sollen wir künftig die Bundeswehr zu Werbeveranstaltungen auch an unseren Hochschulen einladen? Sollen wir darüber schweigen, wenn Männer und Frauen in den Krieg gezwungen werden, sie kein Recht auf Ausreise und Wehrdienstverweigerung haben?Footnote 3 Wer bereit oder aber nicht bereit ist, solche Konsequenzen mitzutragen, muss dies begründen können. Deshalb soll hier der Frage nachgegangen werden, ob die Verabschiedung von Pazifismus und Antimilitarismus die zwingende und notwendige Konsequenz der sogenannten Zeitenwende ist.

Analysen und Reflexionen sind keine Rechtfertigung

Es kann und soll dabei selbstverständlich nicht darum gehen, den Angriffskrieg Russlands zu rechtfertigen, oder das Recht der Ukraine zu bestreiten, sich gegen einen brutalen Aggressor militärisch zu verteidigen. Ebenso wenig kann es hier aber darum gehen, die Selbstbeschreibung des von der NATO angeführten Bündnisses, es handele sich um nichts anderes als die moralisch gerechtfertigte Verteidigung von Freiheit, Demokratie und nationaler Selbstbestimmung, als zureichend und fraglos gültig anzuerkennen. Denn es ist nicht Aufgabe kritischer Sozialwissenschaft, sich auf die Seite der einen oder anderen Kriegspartei zu stellen. Vielmehr gilt es, die Position eines Beobachters zweiter Ordnung (Luhmann 1990) bzw. einer reflexiven Soziologie (Steinert 2007) einzunehmen, d. h. danach zu fragen, was die Ursachen und Gründe sind und wie die Konfliktparteien eine für sie selbst gültige Sicht des Konflikts und ihres Gegners herstellen, die dazu führt, dass sich die Kriegsführung – oder auch „nur“ Waffenlieferungen an eine der Kriegsparteien – als notwendig, alternativlos und rechtfertigbar darstellt. Dabei ist die eigene politische Bewertung der unterschiedlichen Positionen deutlich von der Frage zu unterscheiden, was wissenschaftlich über Ursachen, Gründe und Folgen des Krieges gesagt werden kann. Sozialwissenschaftliche Analyse und Kritik kann auch in diesem Fall verantwortliche politische und moralische Entscheidungen weder ersetzen, noch zureichend begründen. Sie kann allein dazu beitragen, diese informiert und reflektiert aufgrund sorgfältiger Abwägungen zu treffen (Scherr 2017).

Zur Tragweite des Themas ist festzustellen: Dass Deutschland und die NATO de jure keine Kriegsparteien sind, sondern die aktive Kriegsführung der Ukraine überlassen, bedeutet nicht, dass sie durch Waffenlieferungen und politische Unterstützung nicht de facto am Krieg beteiligt sind. Indifferenz ist folglich keine begründbare Position.

Gescheiterte Abschreckung

Die Androhung und Anwendung polizeilicher und militärischer Gewalt war und ist, wie ökonomische, politische und ideologische Macht, ein zentrales Mittel staatlicher Machtausübung (s. etwa Mann 2001 und 2014). Auch eine Ordnung der innernationalen und internationalen Beziehungen, die auf regelbasierter – rechtlich und institutionell gerahmter – Konfliktregulierung und Verständigung basiert, kann auf Absicherung durch polizeiliche und militärische Gewalt als letztinstanzliche Garantie nicht verzichten, solange nicht alle darauf verzichten (vgl. Luhmann 2003). Denn Versuche der Herstellung und Aufrechterhaltung gewaltfreier sozialer Ordnungen sind mit einem „Generalisierungsdilemma“ (Waldmann 2004, S. 247) konfrontiert: Wenn ein Akteur die Anwendung von Gewalt „zur Schlüsselressource der Machtverteilung erklärt“, ist es wenig aussichtsreich, „dagegen im Namen einer gütlichen Austragung von Meinungsverschiedenheiten und Konflikten zu protestieren“; vielmehr ist eine nicht gewaltsame Ordnung darauf angewiesen, dass sich „alle Beteiligten auf sie einlassen“. Folglich gilt: „Um dem Prinzip des Stärkeren zur Durchsetzung zu verhelfen, bedarf es nur der Initiative weniger.“ (ebd.: 247f.) Und um dies zu verhindern, ist das Vorzeigen eigener Gewaltfähigkeit als Mittel der Abschreckung auch im Bereich internationaler Politik ein zentrales Mittel: Der potenzielle Gegner soll wissen, dass er sich durch erwartbare Gegenreaktionen selbst schadet, wenn er die Initiative ergreift. Militärische Abschreckung zielt demnach nicht auf tatsächliche Anwendung von Gewalt, sondern auf Ermöglichung einer internationalen Ordnung, die ohne Gewalt auskommt.

Dies ist im Fall des Angriffskriegs gegen die Ukraine gescheitert – aus Gründen, die Zeithistoriker beschäftigen wird, da gängige Verweise auf die Irrationalität Putins sicher nicht hinreichend sind. Beim gegenwärtigen Stand des Wissens – weitere Forschung dazu ist zweifellos erforderlich – kann mit einiger Plausibilität angenommen werden, dass die Krise der US-amerikanischen Hegemonie und das wiederkehrende Scheitern von Versuchen, das eigene Militär erfolgreich für Regimewechsel, sog. humanitäre Interventionen und geostrategische Interessen einzusetzen (z. B.: Libyen, Irak, Afghanistan), von Putins Regime als Schwäche gedeutet wurde, was die Wirkungsmächtigkeit der Abschreckungsdrohung eingeschränkt hat. Und das zynische Kalkül, dass die wechselseitige atomare Vernichtungsdrohung eine direkte konventionelle Kriegsbeteiligung der übermächtigen amerikanischen Armeen verhindert, ist aufgegangen. Zu berücksichtigen ist auch, dass die USA sich seit dem zweiten Weltkrieg keineswegs durchgängig an die geltenden völkerrechtlichen Regelungen gehalten haben, was Putin, so explizit in Bezug auf die Bombardierung Belgrads erneut, wie bereits bei der Annexion der Krim, als Teil seiner innerrussischen und internationalen Legitimationsstrategie verwendet hat (Rotaru und Troncotă 2017). Michael Mann weist diesbezüglich zudem auf einen abstrakten, aber gleichwohl wichtigen Erklärungsansatz hin, wenn er die eigenständige Bedeutung von Ideologien betont, die mehr und anderes sind als eine Verschleierung rationaler Interessen – eine eigenständige Grundlage politischer Entscheidungen: „Im 20. Jahrhundert haben Menschen oft Entscheidungen getroffen, die für uns heute irrational waren – zwei verheerende Weltkriege anzufangen oder die Utopie einer totalen Gesellschaftsveränderung in Angriff zu nehmen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass es sich im 21. Jahrhundert anders verhält.“ (Mann 2014, S. 91).

Realistischer Pazifismus

Wenn dann das geschieht, was jetzt geschehen ist, wenn der Krieg begonnen hat, dann scheinen diejenigen fraglos im Recht zu sein, die immer betont haben, dass militärische Stärke ein unverzichtbares Mittel der Politik ist und Abschreckung nur dann wirksam ist, wenn die glaubwürdige Bereitschaft zur Kriegsführung besteht. Pazifismus und Antimilitarismus stellen sich in dieser Perspektive als naive Ideologien dar, die obsolet geworden sind. Obwohl Pazifist_innen keineswegs so naiv sind, wie ihnen wiederkehrend unterstellt wird (s. z. B. Wanie 1995), ist dies vordergründig betrachtet durchaus zutreffend: Anders als mit militärischer Gegenwalt lässt sich ein militärischer Aggressor, der ideologisch motiviert und bereit ist, ökonomische und politische Sanktionen in Kauf zu nehmen, nicht wirksam beeinflussen. Aber dies gilt nur vordergründig. In einer mittel- und langfristigen Zeitperspektive stellt sich die Kontroverse anders dar:

  • Rückblickend zeigt sich, dass die Bemühungen, eine Zuspitzung des Konflikts zum Krieg zu verhindern, nicht ausreichend waren, die Ursachen des Krieges also nicht ein zu viel, sondern ein zu wenig an aktivem politischem PazifismusFootnote 4 waren. Die Zielsetzung auf einen „Rechtspazifismus“ (Brücher 2017) hinzuwirken, das heißt darauf, militärische Gewalt völkerrechtlich einzugrenzen, wird nicht dadurch obsolet, dass dies in diesem Fall nicht erreicht wurde. Das gilt auch für die weiterführende Perspektive eines solchen Pazifismus, der auf den schrittweisen Abbau militärischer Potenziale, internationale Verständigung und im pädagogischen Kontext auf Friedenserziehung setzt. Pazifistisch ausgerichtete Politik, so Wolf-Dieter Narr (2002, S. 69) „müsste unter anderem die Verhältnisse umkehren und die Abermilliarden statt für Rüstung für Friedensförderung und zivile Bearbeitung von Konflikten einsetzen. Das verlangte eine Politik, die anstrengend den Möglichkeitssinn beförderte und Frieden durch den allmählichen Abbau von Gewalt nach und nach möglich machte. Indem sie Aggressionen individuell und kollektiv nicht leugnete, jedoch deren massive Ursachen abbauen hälfe und Formen des Konfliktumgangs fände, die politisch den Problemen angemessen wären.“

  • Zukunftsbezogen gilt, dass ein sich militärisch zuspitzender Hegemonialkonflikt zwischen den USA und Europa auf der einen, China und Russland auf der anderen Seite, wie er sich gegenwärtig abzeichnet (s. unten), unbedingt zu vermeiden ist. Denn seine ökonomischen, ökologischen und sozialen Kosten sind enorm und die Zuspitzung zu einem großen Krieg ist keineswegs ausgeschlossen; so etwa dann, wenn China Taiwan militärisch erobern würde. Dass eine solche Zuspitzung allein oder vor allem durch weitere Aufrüstung und damit verstärkte Abschreckung verhindert werden kann, kann nicht plausibel angenommen werden. Denn die militärischen Mittel, Russland zu besiegen, waren und sind auf Seite der NATO fraglos vorhanden. Sie können aber auch künftig nicht wirksam eingesetzt werden, ohne das Risiko einer atomaren Eskalation einzugehen. Gleiches gilt perspektivisch im Verhältnis zu China. Die abschreckenden Wirkungen konventioneller Aufrüstung sind also begrenzt und risikoreich. Die atomaren Vernichtungspotenziale sind bereits jetzt vorhanden.

Kontroversen über Pazifismus und Antimilitarismus in Deutschland

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen haben eine Vorgeschichte. Das bis dahin gültige Prinzip, dass die Bundeswehr allein den Zweck der Landesverteidigung habe, wurde bereits mit der Beteiligung der NATO am Kosovo-Krieg 1999 aufgekündigt. Dies ging mit einer dezidierten Distanzierung von „Nachkriegs-Pazifismus“ (Vollmer 2002) auch innerhalb der Partei Die Grünen einher: Deren Außenminister Joschka Fischer rechtfertigte die Kriegsbeteiligung mit einer sehr fragwürdigen Bezugnahme auf den nationalistischen Völkermord, was in ähnlicher Weise gegenwärtig erneut in Teilen der Partei Die Grünen geschieht.Footnote 5 In einem damals kontrovers diskutierten Beitrag hat der Staatssekretär Ludger Vollmer 2002 dann eine Distanzierung nicht nur vom Pazifismus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch vom antiimperialistischen Pazifismus und vom „Nuklear-Pazifismus“ eingefordert sowie die deutsche Beteiligung an der militärischen Intervention in Afghanistan gerechtfertigt. Der Text und Reaktionen darauf sind auf der Internetpräsenz der AG-Friedensforschung dokumentiert (http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Pazifismus/Debatte/Welcome.html).

Auch Jürgen Habermas hat im Kosovo-Krieg eine befürwortende Position zur Beteiligung der Bundeswehr bezogen; diese wird von Thomas Blanke (1999) detailliert dargestellt und kritisch diskutiert. Ein radikale pazifistische Gegenposition wurde von Wolf-Dieter Narr, Roland Roth und Klaus Vack (2000) eingenommen, deren Konsequenz dann ein Aufruf zur Fahnenflucht an deutsche Soldaten war.Footnote 6

Pazifistische und antimilitaristische Perspektiven ermöglichen zwar keine Antwort auf die Frage, was hier und jetzt in der Situation eines Angriffskriegs getan werden kann, um den Angreifer zurückzudrängen oder zu besiegen. Sie fordern aber dazu auf abzuwägen, wie der Krieg, der täglich zu unsäglichem Leid führt, möglichst schnell beendet werden kann und vor allem dazu zu klären, was aus den erheblichen Erfolgen sowie aus dem partiellen Scheitern einer zivilen, nicht-militärischen internationalen Politik im Sinne eines realistischen Pazifismus zu lernen ist. Ein realistischer Pazifismus erkennt als unbestreitbare Tatsache an, dass internationale Machtkonflikte auch mit militärischen Mitteln ausgetragen werden. Er verweigert sich aber einer Verkennung der Tatsache, dass es dabei nicht allein um rechtfertigbare Verteidigungskriege und menschenrechtlich begründete Intervention geht, sondern immer auch um Machtverhältnisse und Ideologien – auf allen Seiten. Realistischer Pazifismus verweigert sich nicht der Einsicht, dass Staaten und Staatenverbünde als letztes Mittel die Drohung bereithalten müssen, sich gegen mögliche Angreifer verteidigen zu können. Er zielt aber entschieden auf eine solche Realpolitik, die ihre Anstrengungen zentral auf Stärkung der Vereinten Nationen, konsequente Durchsetzung des Völkerrechts, Abrüstungsverhandlungen, internationale Unterstützung der Zivilgesellschaft, Friedenserziehung, internationale Austauschprogramme und alle weiteren denkbaren Maßnahmen setzt, die geeignet sind, die ökonomische, politische und ideologische Bedeutung von Militär und Kriegsführung schrittweise zu verringern. Er setzt seine Hoffnungen aktuell darauf, dass der Krieg gegen die Ukraine kein Vorbote künftiger Kriege ist, sondern in allen Gesellschaften Entwicklungen und Lernprozesse anstößt, die dazu führen, dass keine solche Zeitenwende eintritt, durch die Kriege und Militärinterventionen zur neuen Normalität des 21. Jahrhunderts werden.

Diese Hoffnung steht auf tönernen Füßen. Gleichwohl gilt es, sich einer ideologischen Formierung begründet zu verweigern, die pazifistische Bedenken auch angesichts der Grausamkeit des Krieges lächerlich zu machen versucht und auf eine erneute Strategie der Abschreckung setzt, die im Aggressionskrieg gegen die Ukraine jedoch nicht weniger gescheitert ist als die Erwartung, dass dieser durch Handel und Diplomatie vermieden werden könnte.

Erinnerungsarbeit

„Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Die Beschreibungen, die der New Yorker von den Gräueln der Atombombe erhielt, schreckten ihn anscheinend nur wenig. Der Hamburger ist noch umringt von den Ruinen, und doch zögert er, die Hand gegen einen neuen Krieg zu erheben. Die weltweiten Schrecken der vierziger Jahre scheinen vergessen. Der Regen von gestern macht uns nicht nass sagen viele. Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster Grad ist der Tod. Allzu viele kommen uns schon heute vor wie Tote, wie Leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen. Und doch wird nichts mich davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen. Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten, nicht die Hände zerschlagen werden.“ (Bertolt Brecht, Das Gedächtnis der Menschheit, geschrieben 1952).

Es geht nicht nur um Werte, sondern auch um Interessen und Ideologien

Kriegsführung erfordert politische Legitimationen. Dabei kommt Geschichtsnarrativen und historischen Analogien eine ähnliche zentrale Rolle zu wie Behauptungen darüber, dass es im aktuellen Konflikt immer nur um eigene Verteidigung gegen einen illegitimen Aggressor geht.Footnote 7

Dass die Propaganda des Putin-Regimes auf offenen Lügen und Verfälschungen basiert, ist offenkundig und in der Presse wiederkehrend aufgezeigt worden. Deshalb ist darauf hier nicht weiter einzugehen. Deutlich weniger aber wird nach wie vor in den Massenmedien – in seriöser Weise (!), also jenseits eines reaktionären Nationalismus und einer altlinken Verklärung Russlands und der ehemaligen Sowjetunion – danach gefragt, was die ideologischen Dimensionen bei der Unterstützung der NATO und die zugrunde liegenden geostrategischen Interessen sind. Einschlägige sozialwissenschaftliche Analysen weisen diesbezüglich auf zwei zusammenhängende Aspekte hin.

  1. 1.

    Der Konflikt der nunmehr zu dem (zweifellos nicht rechtfertigbaren) Angriffskrieg gegen die Ukraine geführt hat, ist auch ein Stellvertreterkrieg, in dem es um globale Machtverhältnisse zwischen den USA und Europa einerseits, China und Russland andererseits geht (s. etwa Brown 2022; Streeck 2022a und 2022b). Dass dies eine zentrale Perspektive in diesem Konflikt ist, wurde zuletzt im neuen strategischen Konzept der NATO (NATO 2022) deutlich. Dort heißt es: „The People’s Republic of China’s (PRC) stated ambitions and coercive policies challenge our interests, security and values. The PRC employs a broad range of political, economic and military tools to increase its global footprint and project power, while remaining opaque about its strategy, intentions and military build-up. (…) The deepening strategic partnership between the People’s Republic of China and the Russian Federation and their mutually reinforcing attempts to undercut the rules-based international order run counter to our values and interests.“ (ebd.: 5). Deutlicher noch wird in der im Februar 2002 publizierten „Indo-Pacific Strategy of The United States“Footnote 8 dargelegt, dass die ökonomische und militärische Begrenzung des Einflusses Chinas als zentrale Herausforderung für eine an eigenen Werten und Interessen ausgerichtete Politik betrachtet wird. Es gilt deshalb auch danach zu fragen, welche strategischen Interessen in die Politik der NATO und der USA in die gegenwärtige Kriegspolitik eingehen. Ob die Antwort Wolfgang Streecks (2022b), es ginge hier zentral darum, durch einen Stellvertreterkrieg eine Allianz zwischen den USA und der EU im Konflikt mit China über die Gestaltung der künftigen Weltordnung zu schmieden sowie die EU zugleich als eigenständigen Akteur zu schwächen, die NATO aber zu stärken, überzeugend bzw. ausreichend ist, kann man zweifellos kontrovers diskutieren. Es gilt aber, diese Diskussion sachlich zu führen, statt allzu naiv den normativen Erklärungen zu vertrauen, die proklamiert werden. Denn ohne ein Bündnis mit Interessen war und ist die politische Bedeutung von Werten gewöhnlich gering.

  2. 2.

    Der Krieg Russland gegen die Ukraine hat eine Vorgeschichte, die den Krieg nicht zureichend erklärt – und ohnehin nicht rechtfertigt – aber die Zuspitzung des Interessenkonflikts seit Auflösung der Sowjetunion verständlich macht. Zu dieser Vorgeschichte gehört u. a. ein Aspekt, auf den Tony Wood (2022) in seiner instruktiven Analyse hinweist, und der hier nur exemplarisch erwähnt werden soll. Wood zeigt auf, dass in der vorhergehenden russischen Regierung und dann auch von Putin die Möglichkeit eines Beitritts zur NATO durchaus ernsthaft in Erwägung gezogen, dann aber von westlicher Seite abgelehnt wurde: „The aspiration itself stemmed from the prevalence in the foreign-policy thinking of the time of a ‚Westernizing‘ line, seeking closer integration with the West and the creation of a common security architecture, ‚from Vancouver to Vladivostok‘ in the phrase used in 1991 by the US and German foreign ministers, and echoed by their Russian peer Andrei Kozyrev. (…) This line continued to predominate well into Putin’s reign. In 2000 he even proposed Russian membership in NATO and reaffirmed Russia’s place as ‚part of European culture‘. Western approval for his war on Chechnya in 1999 was matched by Russian support for Bush’s ‚War on Terror‘ after 9/11. But Russian hopes for a deeper partnership, let alone a redrawing of the global security architecture, were confounded.“ (ebd.: 6).

In seiner Analyse akzentuiert Wood (vgl. Kaplan 2022), dass es irreführend ist, bei der Suche nach Ursachen des Konflikts alternativ auf entweder die von Russland als Bedrohung wahrgenommene Expansion der NATO, oder aber auf das Erstarken eines imperialen russischen Nationalismus zu verweisen und dies mit einseitigen Schuldzuweisungen zu verbinden.Footnote 9 Beides ist Wood zufolge bedeutsam. Das bedeutet nun keineswegs, die alleinige Verantwortlichkeit des Putin-Regimes für dem Krieg zu relativieren. Durchaus aber fordert dies dazu auf, den Konflikt, der Hintergrund des Krieges ist, als einen komplexen politisch-ideologisch-ökonomischen Konflikt, also anders und differenzierter zu betrachten denn als Kampf eines irrationalen Diktators gegen einen freien, demokratischen und liberalen Westen, der uneigennützig für universelle Werte eintritt. Das ist auch dann zu einfach, wenn anerkannt wird, dass es auch um Demokratie vs. Diktatur, liberale gegen autoritäre Gesellschaftsentwürfe geht, der Konflikt also in normativer Hinsicht zweifellos asymmetrisch ist.

War, what it is good for? Absolutely nothing

Songtitel von Eric Starr, hier nachzuhören: https://www.youtube.com/watch?v=ztZI2aLQ9Sw.

Dazu, wie dieser Krieg zu Ende kommen soll, sind zweifellos unterschiedliche Positionen begründbar. Inzwischen sind Stimmen hörbar geworden, die zu einer umgehenden Einstellung der Kampfhandlung und dem Versuch auffordern, internationale Friedensverhandlungen anzubieten.Footnote 11 Ob das Putin-Regime dazu bereit ist, ist ebenso unklar, wie die Bedingungen, unter denen die Ukraine bereit wäre, eine Beendigung des Krieges zu akzeptieren. Unklar ist gegenwärtig auch, was das strategische Ziel der der USA und der NATO ist. Einigkeit scheint allein darin zu bestehen, dass eine Niederlage der Ukraine ebensowenig akzeptabel ist wie die Eskalation zu einem Atomkrieg. Eine Kriegsbeteiligung im Sinne des Völkerrechts der USA und der EU-Staaten bzw. der NATO soll vermieden werden, gleichzeitig aber durch Waffenlieferungen und Ausbildungen die Kampfeskraft der ukrainischen Armee gestärkt werden. Ein sich lange Zeit fortsetzender Krieg scheint gegenwärtig eine recht wahrscheinliche Option zu sein, da beide Seiten wohl auf absehbare Zeit nicht gewinnen können, aber auch nicht bereit sind, eine Niederlage zu akzeptieren.

Was folgt daraus für uns – als mündige Bürger_innen und nicht zuletzt als Lehrende und Studierende an Hochschulen, als Sozialarbeiter_innen und Pädagog_innen? Gewöhnen wir uns zunehmend als die Normalität eines Krieges, in den Deutschland als Bündnispartner massiv involviert ist? Und wenn wir weder dazu bereit sind, noch zur Affirmation einer Zeitenwende, die uns auffordert, uns von jeder Kritik an unserer Armee und der NATO sowie jeder Skepsis gegenüber weiterer Aufrüstung zu verabschieden?

Eine einfache und aktuell realpolitisch taugliche Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Insofern gilt es, eigene Ratlosigkeit und Ohnmacht einzugestehen. Gleichzeitig sollten wir aber nicht darauf verzichten, weiter die Wahrheiten über die Realität der Kriege zu verbreiten. Das Wissen um und die Grausamkeit dessen, was Krieg tatsächlich bedeutet. Das Wissen, dass auch Verteidigung im Krieg darin besteht, Menschen zu töten. Das Wissen darum, dass es nicht die Politiker_innen sind, die ihr eigenes Leben im Krieg riskieren. Auch das Wissen darum, dass jede kriegsführende Partei immer schon behauptet hat, nur um eines höheren guten Zwecks willen kämpfen zu müssen.

Wir sollten zu Skepsis, Nachdenklichkeit und genauen Analysen auffordern – auch um den Preis uns vorwerfen lassen zu müssen, naiv zu sein. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu mobilisieren und zu legitimieren. Nach dem Krieg wird es darauf ankommen, eine Politik einzufordern, die konsequent darauf ausgerichtet ist, künftige Kriege zu vermeiden und die aus der Vergangenheit gelernt hat, dass Abschreckung dafür nicht ausreicht.

Samuel Moyn (2021) hat bezogen auf die USA aufgezeigt, dass sich dort seit den terroristischen Angriffen am 11. September 2001 eine Entwicklung abzeichnet, die zu einer Normalisierung und ethischen Rechtfertigung von Kriegen als Mittel der Politik im Rahmen des War on Terror sowie dazu geführt hat, dass zwar Kriegsverbrechen als Problem gelten, aber vergessen wird, dass der Krieg selbst ein Verbrechen ist. Dies formuliert er als Intellektueller in einem Land, in dem der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt 3,5 % beträgt, das über die bei weiten stärksten Armeen weltweit verfügt und dessen militärisch-industrieller Komplex ökonomisch sehr bedeutsam und politisch einflussreich ist (Hennes 2003). Das sollte für Deutschland und Europa nicht das Vorbild sein. Auch wenn die Notwendigkeit nicht zu bestreiten ist, sich gegen potenzielle Aggressoren verteidigen zu können, gilt es sehr genau darüber nachzudenken, was dazu erforderlich ist, und nicht zuletzt auch, was dafür getan werden kann, mit allen Mitteln auf den Abbau von internationalen Konflikten und die Vermeidung künftiger Kriege hinzuwirken.

Zweifellos gilt: „Das Regime in Russland ist nationalistisch, revisionistisch und imperialistisch; es führt einen brutalen Angriffskrieg.“ (Herbert 2022). Dennoch kann die Welt nicht einfach nur in eine gute und eine böse Seite eingeteilt und es sollte nicht vergessen werden, was der amerikanische Präsident Dwight Eisenhower 1953 feststellte: „Every gun that is made, every warship launched, every rocket fired signifies, in the final sense, a theft from those who hunger and are not fed, those who are cold and are not clothed. This world in arms is not spending money alone. It is spending the sweat of its laborers, the genius of its scientists, the hopes of its children. The cost of one modern heavy bomber is this: a modern brick school in more than 30 cities. It is two electric power plants, each serving a town of 60,000 population. It is two fine, fully equipped hospitals. It is some fifty miles of concrete pavement. We pay for a single fighter plane with a half million bushels of wheat. We pay for a single destroyer with new homes that could have housed more than 8000 people. This is, I repeat, the best way of life to be found on the road the world has been taking. This is not a way of life at all, in any true sense. Under the cloud of threatening war, it is humanity hanging from a cross of iron. These plain and cruel truths define the peril and point the hope that come with this spring of 1953.“.