Seit über zehn Jahren bahnt sich in Deutschland eine neue Art des Arbeitens in der gemeindenahen Psychiatrie ihren Weg, in der sich Betroffene, Angehörige und Fachkräfte auf Augenhöhe begegnen: der Offene Dialog. Ausgangspunkt für diese Form der offenen, aufsuchenden, gemeindespsychiatrischen Arbeit waren Überlegungen und Behandlungsansätze, die seit den 1980er-Jahren an der Universitätspsychiatrie in Turku unter der Leitung von Yrjö Alanen und darauf aufbauend seit 1990 um Jaakko Seikkula und Birgitta Alakare am Keropudas Hospital im finnischen Tornio, umgesetzt wurden.

Es ging den Beteiligten zunächst darum, Möglichkeiten und Alternativen zu finden, gerade junge erwachsene Menschen in psychotischen Krisen zu begleiten, zu behandeln und Chronifizierung zu vermeiden. Dies beinhaltete die kritische Auseinandersetzung mit der Pharmakotherapie, Behandlung unter Zwang und stationären therapeutischen Ansätzen. Eine wichtige Erkenntnis lag darin, dass die Genesungschancen von Menschen in psychotischen Krisen deutlich erhöht wurden, wenn zeitnah gemeinsam mit der Familie und weiteren wichtigen Bezugspersonen sogenannte Therapieversammlungen durch das Behandlungsteam einberufen wurden.

Hieraus entwickelte sich ein flexibler und fließender Behandlungsansatz, bei dem multiprofessionelle Teams die Beteiligten in ihrem persönlichen Umfeld aufsuchen und in einem dialogischen Prozess ein tragfähiges Vorgehen abstimmen. Allein diese Veränderung förderte bereits die Selbstbestimmung, den Realitätsbezug und die Selbstverantwortung der Betroffenen sowie das Vertrauen und die Handlungsfähigkeit der Angehörigen; häufig mit Verzicht auf neuroleptische Medikation (vgl. Olson 2010; Aderhold et al. 2003).

Theoriehintergrund

Für die Weiterentwicklung des Ansatzes in Westlappland, vor allem am Keropudas Hospital, wurden dialogisch-systemische Therapieansätze relevant. Dies betraf insbesondere die Arbeiten von Tom Andersen aus Norwegen zum Reflektierenden Team und die philosophischen Texte des russischen Literaturwissenschaftlers Mikhail Bakhtin. Nach seinen Überlegungen zu Dialogik und Polyphonie befinden wir uns alle in einem immerwährenden äußeren Dialog mit anderen Menschen, auch über Generationen hinweg, sowie einem inneren Dialog mit uns selbst. Nichts von dem, was wir wahrnehmen, erleben, erinnern, erzählen, fühlen hat nur eine Bedeutung, sondern ist Teil eines vielstimmigen Netzwerkes aller möglichen Deutungen und Bedeutungen. Das Bewusstsein selbst besteht nur im Spannungsverhältnis zu den Bewusstseinen anderer Menschen, „dass eine einzige Wahrheit eine Vielzahl von Bewusstseinen fordert, dass sie prinzipiell für ein Einzelbewusstsein unfassbar ist, dass sie sozusagen Ereignischarakter hat und im Berührungspunkt verschiedener Bewusstseine entsteht.“ (Bakhtin 1985, S. 90).

Praxis

Auch in der heutigen Praxis in Westlappland und andernorts werden multiprofessionelle Teams gebildet, die Menschen und ihre Angehörigen in Krisensituationen aufsuchen. Es sind die Netzwerkgespräche (ehemals Therapieversammlungen), welche die zentrale Form des Arbeitens ausmachen. Diese Gespräche finden möglichst zu Hause in der vertrauten Umgebung mit den Menschen statt, die von den Betroffenen für wichtig erachtet werden. Meist sind dies nahe Angehörige. Es können aber auch Nachbarn, Freunde, Lehrer und Menschen aus dem Helfersystem sein. Dabei stehen alle Anliegen der beteiligten Personen gleichwertig nebeneinander. Damit wird ein vielleicht ‚auffälliges‘ Verhalten normalisiert und in einen familiären, sozialen Zusammenhang eingebettet. Leitprinzip eines solchen Gesprächs ist die Vielstimmigkeit: verschiedene Stimmen und Ideen, zu denen auch die Expertenstimmen gehören, kommen gleichberechtigt neben- und miteinander zur Sprache und werden gehört.

Hierbei gelten die unterschiedlichen Perspektiven nicht als konkurrierende oder komplementäre Wahrheiten. Vielmehr werden durch das dynamische Zusammenspiel und die Unterbrechung der Perspektiven neue Realitäten und Sichtweisen geschaffen. Es ist die Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit, die dem Dialog seine Kraft verleiht (vgl. Robinson 2013). Dem aufsuchenden Team kommt dabei die Rolle der Moderation eines solchen Gespräches zu. Dabei bieten die Moderator_innen die Methode des Reflektierenden Teams an, indem sie sich über das Gesagte und Wahrgenommene für alle hörbar innerhalb des Gesprächs austauschen (vgl. Andersen 1990). Die Gespräche werden ergebnisoffen und prozessorientiert geführt. Dem liegt auch die systemische Sicht zugrunde, dass (Familien‑)Systeme nicht von außen gezielt ‚instruiert‘ werden können, sondern dass eine Veränderung nur aus dem System selbst erwachsen kann. Die therapeutische Absicht besteht darin, dass die Beteiligten in vertiefter Weise miteinander in Dialog treten und ausgesprochen werden kann, worüber in der alltäglichen Kommunikation nicht gesprochen wird (vgl. Heumann et al. 2021). Gemeinsame Handlungsschritte entstehen dann als Folge daraus. Am Ende kann es eine Verabredung der Teilnehmenden geben, und sei es nur über ein weiteres Gespräch.

Grundprinzipien der Praxis

Diesem gemeindenahen Behandlungsansatz liegen sieben Grundprinzipien zugrunde. (vgl. Seikkula und Alakare  2015):

  1. 1.

    Sofortige Hilfe, bei Bedarf durch ein mobiles Team innerhalb von 24 h

  2. 2.

    Einbeziehen des sozialen Netzwerkes, v. a. durch Netzwerkgespräche

  3. 3.

    Flexible Einstellung auf die Bedürfnisse der Klient_innen und des Netzwerks

  4. 4.

    Verantwortung des Teams für den Behandlungsprozess

  5. 5.

    Psychologische Kontinuität durch Kontinuität des Behandlungsteams

  6. 6.

    Aushalten von Unsicherheit: Dies ist in einem Rahmen möglich, der Sicherheit gibt, in dem jeder Beteiligte gehört wird und Treffen so häufig stattfinden, wie das Netzwerk es für erforderlich hält. So entsteht Vertrauen in einem gemeinsamen Prozess; das Team kann voreilige Schlussfolgerungen vermeiden und auf verfrühte Entscheidungen verzichten, wie z. B. auf die sofortige Gabe von Neuroleptika, was dann im Verlauf nur noch selektiv (bei 30 bis 50 %) erforderlich ist. Das Team verzichtet auch auf diagnostische Zuschreibungen und vermeidet festgelegte Behandlungsvorgaben/Behandlungsplanungen, um situativ und individuell auf die aktuelle Krise reagieren zu können. Dabei vermeiden sie eine ‚interpretative innere Landkarte‘, die das Gelände als schon bekannt markieren würde; auch, oder gerade, wenn das Gesagte bizarr und fremd anmutet. Dies setzt das Aushalten von Unsicherheit zugunsten alternativer Sichtweisen, positiver Risiken und neuer Erfahrungen voraus.

  7. 7.

    Förderung des Dialogs: Der Schwerpunkt liegt in erster Linie auf der Förderung des Dialogs und in zweiter Linie auf der Förderung von Veränderungen bei den Betroffenen und deren Familie. Im Dialog über ihre Probleme und Schwierigkeiten stärken Betroffene und deren Familien ihr Gefühl der Handlungsfähigkeit in ihrem eigenen Leben. Sowohl gegenwärtige als auch vergangene Krisen können so als sinnhaftes Erleben und Handeln erfahren werden. Auch alle professionellen Gespräche über die Behandlung werden mit den Netzwerkteilnehmer_innen geteilt: „Nichts über mich ohne mich“ (vgl. Olson, et al. 2014).

Dialogische Netzwerkgespräche

Wenn Menschen in Kontakt mit der Psychiatrie geraten, ist davon auszugehen, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt in einer krisenhaften Situation befinden. Diese Krise wirkt sich dabei nicht nur unmittelbar in der betroffenen Person aus; sondern ist auch eine miterlebte Erfahrung von Familie, Partner_innen, Kindern, Freund_innen, Kolleg_innen und weiteren nahestehenden Personen. Die Gespräche beginnen üblicherweise mit der Frage „Wozu wollen Sie das Gespräch nutzen?“, die allen Netzwerkmitgliedern gestellt wird. Die Moderator_innen stellen offene Fragen und nehmen die Worte der Teilnehmer mit ihren Fragen auf. Im genauen, emphatischen, mitschwingenden Zuhören, kann nicht Gesagtes, schwer Sagbares, Unfassbares, Erlebtes und Gedachtes, Gefühltes und Erahntes an- und ausgesprochen werden. Indem so Gedanken, Sorgen, Ängste, Fragen, innere Zwiegespräche, starke und/oder belastende Gefühle und (körperlich gespeicherte) Erfahrungen in sicherem Rahmen ausgesprochen und an ein, bzw. mehrere Gegenüber gerichtet werden, gelangen Betroffene in Resonanz mit sich selbst und der sie umgebenden Umwelt. Die dabei entstehende innere und äußere Vielstimmigkeit (Polyphonie, s. unten) wird als zentrale Ressource innerhalb des Prozesses erlebt. Die Moderator_innen erfragen auch aktiv verschiedene Sichtweisen, wiederholen, spiegeln, schweigen und verständigen sich untereinander über den Verlauf und die eigenen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle während des Gesprächs.

Gemeinsame Sprache und Verstehen

Im Verlauf einer geduldigen, vergleichsweise entschleunigten Kommunikation entsteht somit nicht nur ein gemeinsames Verständnis der Situation und füreinander, sondern werden auch neue Bedeutungen und eigene Antworten gefunden, die so aus der Person, bzw. dem Netzwerk selbst erwachsen und den Ereignissen im Hier und Jetzt Sinn geben. In dem dialogischen Raum, der so entsteht, können starke Gefühle aller Beteiligten wie Angst, Wut, Trauer und Schmerz aus ihrer stummen Subjektivität befreit werden und im Gegenüber allein schon im Zuhören eine Antwort finden.

Auf Seiten der Moderator_innen kommt der gewählten Sprache eine besondere Bedeutung zu. Diese orientiert sich stets am Netzwerk selbst und verzichtet auf kategorisierende Zuschreibungen in Form von Symptomen, Syndromen und Diagnosen. Stattdessen ermöglicht eine diagnoseferne Wortwahl den Zugang zur Lebenswelt der Erzählenden. Jenseits der aktuellen Problemlagen und Symptome vertieft sich der Diskurs so fast immer in Dimensionen des vergangenen Lebens. Oft werden jetzt gemeinsame Lebenserfahrungen angesprochen, die ganz unterschiedlich erlebt und bewertet wurden, Sprachlosigkeit hinterließen, und nun erstmalig ausgesprochen werden oder Gehör finden. Das Vermeiden ent-emotionalisierender Symptomzuschreibungen und Aufgreifen subjektiv relevanter Schlüsselwörter ermöglicht somit ein Verstehen von bspw. lebensgeschichtlichen Brüchen, ungelösten (inneren) Konflikten. Dadurch können auch Entrückungen oder ein Entfliehen in ein anderes Erleben und andere Welten nachvollziehbar werden.

Innere und äußere Polyphonie

Um Vielstimmigkeit entstehen und wachsen zu lassen, bedarf es einer einladenden Rahmung durch zwei Moderator_innen. Die Moderation versteht sich nicht beratend einwirkend, sondern raumgebend für die vielfältigen Ideen, Erleben und Perspektiven der unterschiedlichen Teilnehmer_innen (äußere Vielstimmigkeit). In der Atmosphäre eines gleichwertigen Nebeneinanders des Gesagten – und somit auch Gehörten –, kann dann ein Raum wahrhaftiger und heilsamer Begegnung entstehen (vgl. Stern 2007). Dies kann dadurch gekennzeichnet sein, dass die Beteiligten einander erstmalig einen anderen Einblick in ihre Lebenswelt gewähren oder den Mut fassen, bislang nicht oder nie Erzähltes zu teilen.

In dieser offenen Form des Miteinander wird ein neues Verstehen möglich: erlebte Kontrolle kann beispielsweise als Sorge erkannt, gefühltes Abwenden in Ohnmacht übersetzt werden. Unterstützt wird dieser gemeinsame Prozess durch die äußere Reflektion der Moderator_innen: Durch ‚lautes Nachdenken‘ stellen diese ihre Gedanken zur Verfügung. Dabei sind sie auch in ihrer eigenen Berührbarkeit sichtbar. Ausgehend von einem Verständnis subjektiver Wahrnehmung und dem Wissen um eine Momentaufnahme, werden Ideen zu einzelnen Netzwerkteilnehmer_innen oder deren Beziehungen zueinander in Wertschätzung und vorsichtiger, fragender Subjektivität formuliert. Gleichzeitig ist die Reflektion ebenfalls polyphon geprägt. In der Unterschiedlichkeit vielfältiger Perspektiven entsteht sodann ein Raum, in dem die einzelnen Netzwerkteilnehmer_innen ihre eigenen Wünsche, gemeinsame Möglichkeiten, Schritte und autonome Entscheidungen finden können.

„Professionelle Nähe“ statt „professionelle Distanz“

In der dialogischen Arbeit mit Netzwerken, aber auch in anderen therapeutischen Räumen, wird professionelle Distanz mittlerweile von einer Haltung abgelöst, die ‚professionelle Nähe‘ voraussetzt. Hier wird die emotionale Erreichbarkeit und Berührbarkeit der professionellen Helfer_innen für das kollaborative Gelingen des therapeutischen Prozesses als wichtig erachtet, reflektiert und empfohlen. (vgl. Rober 2011) Innerhalb des Gespräches werden die Moderator_innen sichtbar, indem sie ihre eigenen Gedanken, Ideen, Wahrnehmungen, entstandenen Gefühle in einem reflektierenden Austausch miteinander äußern. Hier ist oftmals die eigene sichtbare Berührtheit eine Möglichkeit für die Netzwerkteilnehmer_innen sich selbst und/oder ihre Angehörigen durch die Augen der Moderator_innen wahrzunehmen und die eigenen Perspektiven zu vertiefen oder zu hinterfragen, manchmal gar innere Haltungen in Bewegung zu bringen.

So bewirken die Erzählungen des Netzwerks in den Professionellen Erinnerungen an eigene Erfahrungen von Verlust, Tod, Scham, Ohnmacht, Verlorenheit, Angst. Dabei können sich die Moderator_innen in einer unmittelbaren existenziellen Entscheidung dazu bewegen, einen Teil dieser Erfahrungen auszusprechen und dem Netzwerk als Reflektionen zur Verfügung zu stellen. Dies, indem sie bereit sind, ein existenziell ergriffenes Gegenüber zu sein an dem der/die Andere sich teilweise wiedererkennt, sich unterscheidet, sich anlehnt oder orientiert und so durchaus ein gegenseitiges Berührt-sein, ein ‚Begegnungsmoment‘ entsteht. In der Regel sind dies keine langen Erzählungen, sondern kurze Sequenzen, in denen die Professionellen als Menschen in ihrer eigenen Verletzlichkeit sichtbar werden. „Die Dramatik des Prozesses liegt nicht in einer brillanten Intervention der Fachkraft, sondern in dem emotionalen Austausch zwischen den Mitgliedern, einschließlich der Fachkräfte, die gemeinsam eine fürsorgliche persönliche Gemeinschaft (wieder)herstellen.“ (Seikkula und Trimble 2005, S. 465).

Es entsteht eine ‚Therapeutische Allianz‘, die sich positiv auf die weitere Begleitung der Netzwerke auswirkt. Denn das zusammen erlebte Berührt-sein erlaubt eine gemeinsame Veränderung, die sich augenblicklich spüren lässt und die ‚Selbstheilungskräfte‘ des Netzwerks nach den eigentlichen Treffen in Gang setzt. So können nachhaltige und tragfähige (Lösungs)wege kollaborativ entstehen. „Die gemeinsame Reise dauert zwar nicht länger als die Sekunden, die ein Begegnungsmoment hat. Aber das reicht aus. Sie wurde gemeinsam durchlebt. Die Beteiligten haben eine private Welt erzeugt, die sie miteinander teilen. Wenn sie jene Welt wieder verlassen, werden sie feststellen, dass ihre Beziehung sich verändert hat.“ (Stern 2007, S. 179).

Körper als Sprache

Ein ebenso wichtiger Aspekt in der Arbeit mit Netzwerkgesprächen ist die Beachtung von Körperbewegungen, Mimik, Gestik und Körpergefühlen. Dies gilt für die Körper der Teilnehmer_innen als auch die der Moderator_innen. Im Mitschwingen in der Ganzheit der Anwesenden liegt ein atmosphärischer Schlüssel; denn sich auch auf diese ursprünglichere Art aufeinander einzulassen trägt zur ‚Therapeutischen Allianz‘ wesentlich bei. So kann es zum Beispiel auch von Bedeutung sein, welche Worte sich an eine deutliche Körperregung oder Bewegung anschließen: womöglich, wie ein tiefes Einatmen, gefolgt von Stille, auf die ein nachdenkliches „das ist traurig“ folgt. Oder aber auch ein Aufrichten im Sitzen, wenn über die Beziehung zwischen zwei Teilnehmenden gesprochen wird. Vielleicht sogar ein Lächeln, welches aufblitzt bei der Erwähnung einer gemeinsamen Erinnerung (vgl. Shotter 2015). Es gilt also auch Feinheiten, die sich in der Körpersprache zeigen, aufzugreifen und wieder in den Raum zu geben, bspw. durch Reflektionen oder die Rückfrage, ob alle Teilnehmenden noch gut am Gespräch teilnehmen können.

Die Präsenz, also das offene und aufmerksame, positiv neugierige Zuhören der Moderator_innen ist ein weiterer Aspekt des Aufbaus und Einflechtens von Therapeutischer Allianz und Einstimmung miteinander. Auch hier ist auf den Körper, Gestik und Mimik in der Moderation zu achten. In der Körperhaltung der Moderator_innen kann deutlich werden, dass jedes gesagte und vielleicht auch ungesagte Wort wichtig ist und Raum finden darf. Mia Kurtti, eine finnische Kollegin in der dialogischen Arbeit, drückt dies so aus: „Das ist der Grund, warum ich die Arbeit mag. Das Netzwerk hat die Antworten […]. Die Resonanz ist genau die Kraft, der Motor der Treffen. Weil wir Menschen sind, schwingen wir ständig miteinander und nicht nur über ‚offensichtliche Gefühle‘ – wir schwingen spirituell, emotional und auf so vielen Ebenen, die wir nicht einmal kennen.“ (Brown et al. 2015, S. 59f.).

Gemeinsame Begegnung – Räume der Genesung

Netzwerkteilnehmer_innen fühlen sich mehr verstanden, gleicher, weniger ausgeschlossen, ausgestoßen oder isoliert, zugehöriger, empfinden weniger Scham für ihre eigenen Erfahrungen, sind gerührt, fühlen sich mehr verbunden und verstanden. Aus Erfahrungen der Gemeinsamkeit entstehen meist Zuversicht, Selbstvertrauen und Hoffnung auf ein gemeinsames Gelingen. Gleichzeitig entsteht durch das gegenseitige Verstehen Schutz vor Exklusion und Isolation.

Zudem wird das Vertrauen in die eigenen Ideen und die eigene Identität gestärkt. Sowohl das Gefühl von Zugehörigkeit (zu nicht-institutionellen Gefügen), als auch das Erleben von Autonomie gelten als bedeutsame Faktoren von Gesundung. Nicht selten bleiben Netzwerkteilnehmer_innen nach gemeinsamen Gesprächen noch länger im Raum; empfinden ein Gefühl der Verbundenheit und gegenseitigen Dankbarkeit. „Wenn Netzwerkmitglieder Sprache finden für ihre traumatischen Erfahrungen, werden sowohl die beschriebenen Situationen als auch die mit ihnen verbundenen Gefühle beherrschbar.“ (Seikkula und Trimble 2005, S. 472).

Zwei Beispiele aus der Praxis

Eine Kollegin teilte uns auf eine kleine Umfrage hin mit: Eine Frau, die über ein offenes Beratungsangebot zu uns kam, initiierte ein Netzwerkgespräch mit ihren Eltern, ihrem Bruder und zwei Bezugsbegleiterinnen bei uns. Sie selbst lebte in einer auf Trauma spezialisierten Wohngruppe und hatte in den vorangegangenen Jahren viele akutstationäre Aufenthalte erfahren. Seit Jahren arbeitete sie daran, ihren Eltern mitzuteilen, dass sie als Kind missbraucht worden war. Im Rahmen des Netzwerkgesprächs gelang es der Betroffenen, ihre Erfahrung mit der Familie zu teilen. Während des gesamten Gesprächs standen viele Gefühle im Raum; auf allen Seiten bewegten sich die Gemüter nonverbal und verbal deutlichst. Keinem der Beteiligten fiel es leicht, die Fassung oder vielleicht den sicheren Boden wiederzuerlangen. Trotz einer, auch für uns, herausfordernden Moderationssituation, gab es zu keinem Zeitpunkt einen Moment, in dem sich jemand nicht zu seinem Gefühl hat äußern können – und das nach so vielen Jahren des Schweigens in dieser Familie. Nach dem Gespräch standen wir noch länger mit den Beteiligten im Foyer und erhielten sehr berührende Rückmeldungen mit einem Grundton von Erleichterung und bestärkt sein. Dies war besonders bewegend für uns, da wir nach so schweren Eröffnungen nicht damit gerechnet hatten, dass sich so zügig so ein Effekt einstellen würde. (J. Schau, persönliche Mitteilung).

Festgehalten in einem Buchbeitrag (2021) ergab sich diese Erfahrung eines Betroffenen, der immer wieder in psychotische Krisen geriet, wodurch er und seine Familie wiederholt stark herausgefordert wurden: „Meine bisherigen Erfahrungen und Erlebnisse konnte und kann ich hier offen und ohne Vorurteile mitteilen. Es wird nichts pathologisiert oder als verrückt abgetan. Im Gegenteil, man hört mir erstaunt und mit großem Interesse zu. […] Sie geben mir das Gefühl, dass ich gemeinsam mit ihnen, meiner Familie und meinen Freunden einen Prozess durchlebe. Da ich selbst meine Krisen nie als krank empfunden habe, sondern als meinen Weg ansehe, der zu meiner Weiterentwicklung gehört, ist diese Erfahrung sehr heilsam für mich. Durch regelmäßige Treffen im Offenen Dialog entstand immer mehr eine Vertrautheit.“ (Buchbeitrag für Putman und Martindale 2021).

Psychotische Erfahrungen im Offenen Dialog

Phänomene, die gemäß DSM oder ICD beispielsweise als „anhaltende wahnhafte Störungen“ und „Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis“ deklariert (und entsprechend medikamentös behandelt) werden, finden durch die Arbeit im Offenen Dialog zu einer neuen Betrachtung. Im Ansatz des Offenen Dialoges wird eine Psychose – neben weiteren erklärenden Dimensionen – als eine prinzipiell verstehbare Reaktion auf unerträgliche und ungelöste Lebensprobleme aufgefasst. Daher wird eine psychotisch verändert erlebte Mitteilung auch als ein sinnhafter Versuch verstanden, Kommunikation herzustellen, die auf andere Weise nicht mehr oder noch nicht möglich ist. Seikkula und Arnkil beschreiben dazu, dass Menschen in Psychose offenbar eine Erfahrung machen, die von dem Rest ihrer Familie nicht wahrgenommen wird. Auch wenn deren Äußerungen in den ersten Gesprächen unverständlich erscheinen, lässt sich nach einer Weile feststellen, dass sie über reale Vorkommnisse des eigenen Lebens sprechen. Diese Begebenheiten umfassen oft ängstigende Erfahrungen und Bedrohungen, über die Betroffene vor dem Ausbruch der Krise nicht haben sprechen und diese somit nicht haben verarbeiten können. Auch mittels extremer Emotionen wie Wut, Trauer, Angst oder durch ‚schwieriges‘ Verhalten werden Themen kommuniziert, über die zuvor nicht gesprochen wurde. Auf diese Weise eröffnet die Person im Zentrum der Krise etwas, das für Andere noch nicht zugänglich war (vgl. Seikkula und Arnkil 2007, S. 69f.). Vor diesem Hintergrund können psychotische Verfremdungen und missverständliche Formulierungen auch als eine Art Selbstschutz aufgefasst werden, während gleichzeitig in und mittels der Psychose etwas ‚Noch-nicht-Gesagtes‘ eingebracht wird, wenn auch zunächst auf eine noch unverständliche Weise. Das Ziel der Zusammenarbeit liegt dann darin, einen Umgang mit und Worte für die Erfahrungen zu finden, für die es bisher keine Ausdrucksmöglichkeiten oder gemeinsame Sprache gegeben hat. Psychotische Erfahrungen sollten daher möglichst offen diskutiert werden.

Psychotische Inseln im Gesprächsverlauf

Tauchen im Zuge des weiteren Gesprächs erneut psychotisch erscheinende Äußerungen (‚Inseln‘) auf, so signalisiert dies meist eine emotionale Überforderung mit dem zuvor besprochenen Thema. Psychotisches Erleben ist in diesem Sinne als Schutz der eigenen Person oder Anderer zu verstehen. Ob es dann gelingt, zu dem Thema in einer Form zurückzukehren, die für den_die Betroffe_n angemessen ist, oder ob das Gespräch besser mit weniger belastenden Inhalten fortgesetzt wird, hängt von der Situation und der Fähigkeit der Therapeut_innen ab. Das ist in einem emotional aufgeladenen Gespräch keineswegs leicht.

Gut, aber nicht einfach ist es, sich an das unmittelbar davor Gesprochene zu erinnern und eine möglicherweise damit verbundene emotionale Reaktion/Problematik respektvoll und behutsam anzusprechen. In der Reflektion kann diese Beobachtung am leichtesten angesprochen werden: „Ist es möglich über diese schmerzhaften Themen so zu reden, ohne dass es dadurch für einzelne zu schwierig wird? Wenn nicht jetzt, wann und mit wem wäre das dann möglich?“. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Gefühl der Betroffenen direkt anzusprechen (vgl. Aderhold 2019).

Das Team als Ressource, Ressourcen für das Team

Die grundsätzliche Zweierkonstellation der Moderator_innen (Tandem) sowie das Äußern von Gefühlen auf Seiten der Professionellen kann sich nicht nur positiv auf die Teilnehmenden des Netzwerkes auswirken, sondern gilt auch innerhalb des Teams als wertvolle Ressource. Die offene Form der Kommunikation kann sowohl zu erhöhter Selbstwirksamkeit als auch zu einem Gefühl von Entlastung und Ausgeglichenheit im Arbeitskontext beitragen, da es somit möglich ist, auch ambivalente oder schwierig empfundene Gefühle wertschätzend (in Reflektionen) zum Ausdruck zu bringen. Dies führt dazu, dass belastende Gedanken nicht mehr ‚unverdaut‘ mit nach Hause genommen, sondern stattdessen konstruktiv geäußert werden können. Kolleg_innen, Klient_innen und Netzwerkteilnehmer_innen können dies gleichermaßen für ihre eigenen inneren und äußeren Prozesse nutzen. Es bedarf hier allerdings eines kontinuierlich miteinander im Dialog stehenden Teams, welches sich offen gegenseitig auf die verwendete Sprache aufmerksam macht, damit die wertschätzende Art der Kommunikation zur selbstverständlichen Praxis wird.