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Die Arbeit mit Emotionen und die Bearbeitung von Emotionen sind im Feld der Gemeindepsychiatrie von besonderer Bedeutung. Hintergrund ist, dass einerseits aus der Perspektive der medizinischen Psychiatrie vor allem Menschen mit einer sogenannten Persönlichkeitsstörung zugeschrieben wird, sie könnten nicht angemessen auf einer emotionalen Ebene mit anderen kommunizieren. Umgekehrt wirft die Recovery-Bewegung von Psychiatrie-Erfahrenen den dortigen Fachkräften vor, dass sie nur deshalb von diesen als chronisch psychisch erkrankt diagnostiziert würden, weil sie mit ihnen nicht angemessen umgehen könnten. Diese beiden gegensätzlichen, sich aber entsprechenden Einschätzungen legen nahe, an einer Verbesserung ihrer Interaktionen zu arbeiten.

In den letzten 15 Jahren haben sich auch in Deutschland erste Ansätze zu einer Recovery-Orientierung in Feldern der (Sozial‑)Psychiatrie ausgebildet. Die Recovery-Bewegung war in den 1980er-Jahren insbesondere im angelsächsischen Raum von Betroffenen als Gegenwehr zu ihren Erfahrungen von expertokratischer Bevormundung sowie einer auf die psychiatrische Diagnose reduzierte Sichtweise der Fachkräfte auf sie als Adressat_innen initiiert worden.

Im Zentrum der persönlichen, nicht-klinischen Recovery von Menschen mit psychiatrischen Symptomen stehen neben Partizipation und Empowerment die Förderung von emotionalen Begegnungsmomenten in einer Atmosphäre von Offenheit, mitmenschlichem Interesse, Spontaneität und Empathie. Dies sind notwendige Voraussetzungen, damit Menschen in psychischen Krisen, als Subjekte, ihren individuellen Lebensweg finden (können), um zu persönlichem Wohlbefinden zu gelangen. Folglich sind die angestrebten Genesungsprozesse nicht auf Symptomfreiheit zentriert, sondern darauf, ein hinreichend selbstbestimmtes, sinnerfülltes Leben an einem selbst gewählten Ort führen zu können.

Bereits seit den 1970er-Jahren – also lange bevor der Recovery-Begriff in der deutschen Psychiatrielandschaft Einzug hielt – begannen Selbsthilfegruppen zur „Selbstbehandlung und Selbsterkenntnis in eigenverantwortlichen Kleingruppen“ (Moeller 1978) ihre heilsame Wirkung zu entfalten. Als deren zentrale Prinzipien benennt Moeller „die Selbstbestimmung; die Echtheit oder Authentizität; die Hoffnung und die Solidarität“ (ebd., S. 239). Ein wesentliches Ziel von Selbsthilfe Psychiatrieerfahrener sind neben Informations- und Erfahrungsaustausch, gegenseitige Unterstützung und Kennenlernen unterschiedlicher Krisen- und Bewältigungsmodelle, um sich – gegen ärztliche Fremdbestimmung – die Expert_innenrolle für eigenes Krankheitserleben und Gesundheitshandeln zurückzuholen.

Für ihren Beitrag „Zur Herstellung von Selbsthilfe-Räumen“ haben Vera Dangel, Lukas Baumann und Brigitte Anderl-Doliwa einen teilnehmend beobachtenden Blick auf Selbsthilfegruppen während der Corona-Zeit gerichtet. Die Autor_innen gehen der Frage nach, in welcher Weise es den Teilnehmenden gelingt, auch im Online-Format emotionale sich gegenseitig Halt gebende Begegnungsräume herzustellen. Auf der Grundlage ihrer Analyseergebnisse formulieren sie – nicht ohne Provokation – einige Anknüpfungspunkte für Veränderungen professionellen Handelns.

Schon Ende der 1960er-Jahre schlug Ronald Laing, der als Gallionsfigur der sog. „Antipsychiatrie-Bewegung“ gilt, vor, dass „[a]nstelle des Degradierungszeremoniells aus psychiatrischer Untersuchung, Diagnose und Prognose […] in psychiatrischer Terminologie […] jene, die auf dem Weg in einen schizophrenen Zusammenbruch sind, […] bei voller sozialer Zustimmung und Unterstützung in den inneren Raum und die innere Zeit geleitet werden von Leuten, die bereits dort gewesen und zurückgekehrt sind. In der Psychiatrie würde das heißen: Expatienten helfen zukünftigen Patienten“ (2015, S. 116f.). Nachdem das enorme Potenzial an Zuversicht, das Expert_innen aus Erfahrung für ein recoveryförderliches Miteinander vermitteln können, im Rahmen von Selbsthilfegruppen und Recovery-Bewegung hinreichend deutlich geworden ist, werden Expert_innen aus Erfahrung in den letzten Jahren als Genesungsbegleiter_innen [EX-IN] auch innerhalb der Sozialpsychiatrie eingesetzt. Welch vielfältiger Gewinn dies für die Zusammenarbeit mit den Fachkräften in den Teams – vor allem aber für die Betroffenen bedeuten kann, thematisieren Margit Schmolke und Klaus Nuißl erfahrungsgesättigt und anschaulich in ihrem Artikel „Feinfühlige Begegnung und Kommunikation zwischen Psychiatrieerfahrenen und Fachkräften der Sozialpsychiatrie“. EX-INs fördern nicht nur den Dialog zwischen Fachkräften, Adressat_innen und ihren Angehörigen, sondern schaffen damit zugleich auch vermehrt Gelegenheiten, um Ängste, Barrieren und Vorurteile abzubauen und gemeinsam für „Das Ende der Unheilbarkeit“ (Amering und Schmolke 2012) zu streiten. Des Weiteren kann durch die Entwicklung gegenseitigen Vertrauens eine offene Kultur im Umgang mit Krisen entstehen. Erweist sich eine eher gelassene Haltung im Umgang mit (Lebens‑)Krisen an sich bereits heilsam, sind Recovery-Prozesse auch an eine oft ängstigende Risikobereitschaft gebunden, etwas Neues und Unsicheres auszuprobieren. Dazu braucht es Fachkräfte, die in der Begleitung ihrer Adressat_innen bereit sind, Risiken mitzutragen und gemeinsame Wagnisse einzugehen.

Dies gilt auch für „Netzwerkgespräche“, die als offene Dialoge geführt werden und als Hauptachse einer bedürfnisorientierten Behandlung gelten (Aderhold et al. 2003). Vor dem Hintergrund ihrer beachtenswerten Erfahrungen erläutern Julia Bröhling-Kusterer, Sarah Berens, Jost Vogelsang und Volkmar Aderhold in ihrem Beitrag „Räume eröffnen und gemeinsames Wagen im Offenen Dialog“ theoretische Hintergründe sowie handlungsleitende Prinzipien dieser multiprofessionellen Arbeitsweise mit als ‚psychotisch‘ diagnostizierten Menschen und ihren Bezugspersonen. Begründet plädieren sie für mehr Mut der Fachkräfte, während dieser „vielstimmigen“ Gespräche auch eigene ambivalente oder als schwierig empfundene Gefühle wertschätzend zu äußern. Gerade dies kann emotional tragfähige(re) Begegnungsräume eröffnen oder gar vertiefen. Doch nicht nur in akuten Krisen sind Genesungsprozesse krisenerfahrener Menschen von mannigfaltigen Gefühlen begleitet. Das A und O sind Fachkräfte und psychiatrische Institutionen, die Betroffene und ihre Angehörige hoffnungsvoll – „ohne Hoffnung gibt es kein Recovery“ (Deegan 2013) – unterstützen und achtsam begleiten, ohne sich und andere zu betrügen. Gut gemeinter Paternalismus hat da keinen Platz, hoffnungsvolle Botschaften und Erfahrungen sind erwünscht und dringend notwendig.

Als eine Möglichkeit der erkenntnistheoretischen Fundierung der nicht nur im Rahmen von Ansätzen des „offenen Dialoges“ angestrebten „Vielstimmigkeit“ stellt Matthias Ochs in seinem Beitrag „Can’t go with my heart, when I can’t feel what’s in it“ konstruktivistische und konstruktionistische Ansätze vor. Ihm geht es jedoch primär darum, innerhalb dieses erkenntnistheoretischen Rahmens vor dem Hintergrund einer Konzeptualisierung von Emotionen im Rahmen von Systemtheorie und Synergetik – vor allem der dynamischen Affektlogik von Luc Ciompi – das praxeologische Potenzial einer relationalen Systemik aufzuzeigen. Beispielhaft führt er die Leser_innen durch verschiedene professionelle Techniken des Umgangs mit Emotionen, die sich auch im sozialpsychiatrischen Feld als hilfreich erweisen können.

Alle Beiträge dieses Schwerpunkts zeigen, dass Gefühle in den vielfältigen Interaktionen und Begegnungsformen sozialpsychiatrischer Praxis eine zentrale Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Fähigkeit und Bereitschaft zu einer ‚Emotionsarbeit‘ als eine wesentliche Dimension professionellen Handelns. Nicht übersehen werden darf dabei jedoch, dass selbst die sensibelste Bezugnahme auf das Erleben anderer – trotz angestrebter individueller und institutioneller Offenheit – nicht in einem herrschaftsfreien Raum stattfindet. Bei aller Affirmation der emotionalen Dimension in Begegnungen ist eine Wahrnehmung und Interpretation emotionaler oder auch sinnlich-leiblicher Äußerungen seitens von Fachkräften stets auch im Modus der Ausübung von sozialer Kontrolle zu lesen (vgl. Egger 2013, S. 49f.). Anders gesagt: Selbst eine Recovery-Orientierung in Institutionen hat sich des unhintergehbaren Zusammenhangs von „Empathie, Macht und Politik“ immer wieder erneut zu vergegenwärtigen und diese kritisch zu beleuchten. Diese Forderung ist zentrale Botschaft des Beitrags von Carsten Schröder, der einer möglichen Gefahr der Idealisierung von Empathie einen Stachel setzt, indem er an das in dem empathischen Mitfühlen eingebettete Machtverhältnis in den Beziehungskonstellationen zwischen Professionellen und Nutzer_innen erinnert und betont, dass Subjektbildung in gesellschaftlichen Widerspruchsverhältnissen eingebunden bleibt.

Wir wünschen eine interessante Lektüre und hoffen darüber hinaus mit diesem Schwerpunkt Anregungen für eine interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Thema „Umgang mit Emotionen in sozialpsychiatrischen Arbeitsfeldern“ geben zu können.