Spätestens seit Nietzsche spielt der Begriff des Ressentiments nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der politischen Analyse und der gesellschaftlichen Praxis, eine Rolle. Das Ressentiment, so Nietzsche, sei ein Kennzeichen der Herde und Merkmal einer Sklavenmoral. Es führe zu Unterwürfigkeit, Verführbarkeit und politischer Manipulation. Anders als im angelsächsischen Sprachraum hat sich der Begriff im Deutschen nicht alltagssprachlich durchgesetzt. Ressentiment wird übersetzt und umschrieben mit „tiefem Groll“, „verborgenem Zorn“, „Unmut“. Es bezeichnet die Unfähigkeit oder auch die Unmöglichkeit, Zumutungen und Dinge, die einem nicht gefallen, kritisch zur Sprache zu bringen oder zurückzuweisen.

Ressentiment ist verbunden mit einem Gefühl der Hemmung und der Ohnmacht. Während es im Englischen mit „to resent“ ein entsprechendes Verb gibt, das mit „sich ärgern über“ oder „zurückweisen von“ übersetzt werden kann, fehlt ein passendes Verb im Deutschen. Das Ressentiment wird hier oft als Gegenstand von Handlungen bezeichnet. Ressentiments werden „geschürt“, Ärger wird „angefacht“, Wut wird „angestachelt“, Erregung wird „erzeugt“ und sogar „bewirtschaftet“ (Sloterdijk 2006)Footnote 1. Das Ressentiment selbst aber wird als etwas Verborgenes, Dunkles, Gefährliches wahrgenommen. Als nützlich gilt es nur in der politischen Agitation. Wenn sich die Menschen ärgern, kann man sie mobilisieren. Wenn die Menschen blind vor Wut sind, kann man ihren Hass und auf beliebige Ziele und „Sündenböcke“ lenken. Da sie nicht mehr rational denken, sondern nur noch ihren Gefühlen und Instinkten folgen, haben die Agitatoren ein leichtes Spiel und machen sich die Hände nicht schmutzig.

Dieser Beitrag versucht, einen anderen Umgang mit und ein anderes Verständnis von Ressentiments zu entwickeln. Dazu wird der Umgang mit dem Ressentiment bei Saul David Alinsky (1907 bis 1972) vorgestellt und untersucht. Alinsky ist ein amerikanischer Kriminologe und Soziologe, der in Deutschland vor allem als Begründer des „Community Organizing“ bekannt geworden ist. Als politischer Aktivist war er zunächst in Gewerkschaften tätig und übertrug die damalige Strategie der Bildung von Dachverbänden („Organization of Organizations“) auf den Reproduktionsbereich, das heißt auf die multiethnisch zusammengesetzten Nachbarschaften rund um die neu entstandenen Industriegebiete. Dort organisierte er Vereine, Kirchengemeinden, Wohlfahrtseinrichtungen usw. zu Nachbarschaftsräten (people’s organizations). Er schuf die „Industrial Areas Foundation (IAF)“ als Ausbildungsinstitut. Er gilt als Klassiker der Gemeinwesenarbeit und als Förderer städtischer Demokratie. Als politischer Schriftsteller verfasste er Bestseller über das Organisieren sowie zahlreiche Artikel zu unterschiedlichen sozialen Fragestellungen (vgl. Szynka 2005). Hilary Clinton und Barack Obama haben sich mit der Arbeit von Alinsky auseinandergesetzt und politisch inspirieren lassen (Müller und Szynka 2010).

Resentment und Agitation bei Saul D. Alinsky

Im Jahr 2016 veröffentlichte das Federal Bureau of Investigation (FBI) auf 458 Seiten Dokumente über Ermittlungen, die von 1940 bis 1972 gegen Saul D. Alinsky durchgeführt worden sind. Alinsky wurde verdächtigt, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten und Strategien des Klassenkampfs anzuwenden. Er wurde im Rabble-Rouser-Index der Stadt Chicago gelistet und als potenzieller Aufrührer beobachtet. Weiterhin wurde er verdächtigt, Rassenhass aufzustacheln, d. h. gewalttätige Aktionen gegen Weiße vorzubereiten. In der Tat hat er mit den Black Communities in Woodlawn (Chicago) und in Rochester (New York) zusammengearbeitet und so der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in Chicago den Weg geebnet und Bürgerinnen und Bürgern von Woodlawn und Rochester eine Stimme gegeben. Ein wichtiger Ansatzpunkt der FBI-Untersuchungen waren Alinskys Aussagen zu Ressentiments (resentments):

  • „Zuerst gilt es, die Ressentiments der Menschen freizulegen“ (“First rub raw the resentments of the people”) (Alinsky 1971, S. 118)

  • „Fächle den bei vielen Menschen vorhandenen Feindseligkeiten Luft zu, bis sie offen artikuliert werden können“ (“Fan the latent hostilities of many of the people to the point of overt expression”) (ebd.)

  • „Schaffe Kanäle, durch die die Menschen ihre negativen Gefühle darüber, dass sie die vorangegangene Situation so lange ertragen haben, abfließen lassen können“ (“Provide a channel into which the people can drain their underlying guilt for having accepted the previous situation for so long”) (ebd.)

Die Verdächtigungen des FBI scheinen ganz auf der Linie der Furcht vor Umwälzungen und Revolten zu liegen, wie wir sie auch auf dem europäischen Kontinent kennen. Alinskys Nachdenken über Ressentiments/Resentments speist sich aus zwei Quellen: den Schriften des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche sowie des schottischen Moralphilosophen Adam Smith. Nietzsche sah das Ressentiment als Plage an, weil es „die Seele vergiftet“, zu Nihilismus führt und zu „sozialem Sprengstoff“ wird. Anders stellt sich das Ressentiment für Adam Smith dar. Für Smith ist das Ressentiment (im englischen Original: resentment) positiv. In seiner „Theorie der moralischen Gefühle“ beschreibt er das Ressentiment als für das gesellschaftliche Wohl unverzichtbar und geradezu als eine bürgerliche Tugend. Allerdings nur dann, wenn es zur Sprache gebracht wird: „Das Ressentiment wurde uns von der Natur zur Verteidigung gegeben und zwar nur zur Verteidigung. Es ist ein Schutz für die Gerechtigkeit, Justiz und eine Sicherheit für die Unschuld.“ (Smith 1853, S. 116)

Adam Smith zufolge sind die Gefühle des Ressentiments (resentment) und der Dankbarkeit (gratitude) zwei Seiten ein und derselben Medaille. Gefühle der Dankbarkeit und des Ressentiments müssen allerdings umgehend artikuliert werden, damit sie eine soziale Funktion haben können. Indem sie artikuliert werden, verstärken sie gesellschaftliches Wohlverhalten und kennzeichnen und verhindern im besten Falle Ungerechtigkeit als solche.

Friedrich Nietzsche hingegen ist skeptisch gegenüber dieser gesellschaftlichen Funktion des Ressentiments. Er stellt fest, dass in der Geschichte die spontane, öffentliche Artikulation von Unmut oft durch Macht und Gewalt unterdrückt wird. Die Richtung des Ressentiments, so Nietzsche, wird dadurch verändert und zurück in den Einzelnen, also nach innen geleitet. Dort verbleibt seine Energie als unterdrückte Emotion von Wut und Groll stecken.

Alinsky kennt den Unterschied zwischen Smiths „resentment“ und Nietzsches „Ressentiment“ und er weiß um die Richtungsveränderung und die Traumata, die zum Verlust der Fähigkeit führen, sich zu öffentlich zu äußern. Er kennt die damit verbundene Ohnmacht. Er versucht aber, die beiden Ansätze in praktischer Absicht zu verbinden. Er will sich dabei aber nicht in theoretischen Erörterungen verlieren, sondern wagt den Durchbruch ins Soziale.

Hier einige Stellen bei Alinsky, bei denen er das Ressentiment zunächst mit einem Mangel an Philanthropie in Verbindung bringt (Alinsky 1946, S. 7–13):

So, Du bist also ein weißer, im Lande geborener Protestant! Liebst Du die Menschen? Du liebst deine Familie, deine Freunde, einige Deiner Geschäftspartner (aber nicht zu viele von ihnen), und einige deiner Nachbarn. Magst Du Katholiken, Iren, Italiener, Juden, Polen, Mexikaner, Schwarze, Puerto-Ricaner und Chinesen? Betrachtest Du sie mit dem warmen Gefühl des Mitmenschen oder mit der kalten Verachtung, die in solchen Ausdrücken zur Sprache kommt wie: Papisten, Micks, Wops, Kikes, Hunkies, Greasers, Niggers, Spies oder Chinks? Wenn Du einer von jenen bist, die in solch beleidigenden Begriffen von diesen Menschen denken, dann liebst Du die Menschen nicht.

So, Du bist also ein irischer Katholik? Einer der unter den weißen, im Lande geborenen Protestanten leidet? (…). Lass’ uns das einmal genauer anschauen. Liebst Du die Menschen? Natürlich tust Du das. Aber was ist mit den Protestanten? Was ist mit den Juden? Was ist mit den Schwarzen und den Chinesen? Was ist mit deinen Mit-Katholiken, den Italienern, den Polen, den Litauern, den Slowaken, den Mexikanern, den Puerto-Ricanern und den anderen? Was ist mit den anderen Iren? Auf wie viele schaust Du herab als seien sie weniger wert als Du? Nennst Du deine verarmten Mit-Iren, die nicht Lesen und schreiben können „Shanty-Irish“? (…) Es gibt nur wenige von Euch, die auf das Schlachtfeld gegen den engen Nationalismus, gegen den Anti-Semitismus und die Jim-Crow-GesetzeFootnote 2 ins Feld ziehen und für die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse für die ganze Menschheit eintreten.

Ein paar Sätze weiter verwendet er das Verb „to resent“:

So, Du bist also ein Jude? Möglicherweise bist Du einer von den wenigen, die in der Park Avenue wohnen, oder in den oberen Sechzigern. Anti-Semitismus weist Du bitterlich von Dir (to resent) und Du betrachtest Menschen mit Vorurteilen als unzivilisiert, unreligiös und definitiv als unamerikanisch. Lass Dich genauer anschauen. Was empfindest Du gegenüber Juden, die im Bezirk Williamsburg in Brooklyn ihren Kaftan tragen? Magst Du sie? Oder denkst Du, sie seien laut, ungehobelt und schmutzig? (…)

Von den „religiösen“ Gemeinschaften geht er zu den „ethnischen“ Gemeinschaften über:

So, Du bist also Schwarz! Du bist schwarz und weist aus ganzem Herzen die Heuchelei und die Borniertheit der Weißen zurück (to resent). Du hasst die Jim-Crow-Gesetze aus tiefstem Herzen. Du lebst in einem Gefängnis aus Vorurteilen. (…)

So, Du bist also ein Pole! Du hasst es, wenn man Dich Hunkie nennt. Du weist es zurück (to resent) immer nur als begriffsstutzig zu gelten, nur für einfache Arbeiten gebraucht zu werden und immer auf der anderen Seite der Eisenbahngleise wohnen zu müssen. (…)

So, Du bist also ein Mexikaner! Du bist ausgeschlossen und leidest unter den vielen Beleidigungen wie die Schwarzen. Du weist dies zurück (to resent) (…) und Du weist bitterlich die Meinung eines großen Teils der weißen Nordamerikaner zurück (to resent), die denken, dass Mexikaner nicht zu den Weißen gehören.

Im Interview mit Marion K. Sanders erklärt Alinsky schließlich seine Strategie und wie er zum Antifaschisten wurde. Wir sehen einen superdiversen, amerikanischen Meltingpot und die vorhandenen Vorbehalte der einen gegen die anderen, mit denen jede Organisationsarbeit beginnen muss:

„Hinter den Schlachthöfen“Footnote 3 in Chicago war zu jener Zeit eine Hölle des Hasses – die Polen, die Mexikaner, die Schwarzen, die Litauer, die Ungarn und die Deutschen, alle hassten einander und alle hassten die Iren, weil diese Teil der Machtstruktur waren. Ich hatte einen gewissen Vorteil, weil ich als Jude mit keiner dieser Nationalitäten konkurrierte. Eine Menge dieser Leute wurde angezogen von faschistischen Agitatoren wie Coughlin und PelleyFootnote 4. Aber das kam nicht daher, weil sie irgendwelche Gefühle für den Faschismus gehabt hätten. Es war, weil sie keinen Ausweg wussten, keine Richtung, kein Instrumentarium, das ihnen Hoffnung gab. Daher brauchten Sie Sündenböcke. Aber sobald das Bürgerprogramm aufgestellt war und die Bewegung sich entwickelt hatte, wurden keine Sündenböcke mehr gebraucht. Wenn die Menschen heute über das Gebiet hinter den Schlachthöfen sprechen, benutzen einige Überschriften wie „Ressentiments aufdecken“ (rub resentments raw), um meine Organisationsmethoden zu beschreiben. Nun, glauben Sie, dass ich es nötig gehabt hätte, den Menschen dort oder wenn ich heute in eine schwarze Community gehe, zu erzählen, dass sie diskriminiert werden? Denken Sie, ich gehe dorthin, um sie zu verärgern? Glauben Sie nicht, dass sie nicht schon genug Ressentiments (resentments) hatten, mit denen wir anfangen mussten zu arbeiten? Um wieviel mehr hätten wir sie offenlegen können (how much rawer could we rub them)? Was passiert ist Folgendes: Wenn du dich komplett eingefangen fühlst, untergeordnet und an einer Situation zerbrichst, dann hast Du zwei Möglichkeiten: die eine Möglichkeit besteht darin, dir eine Kugel zu geben. Du sagst ‚Wer hat mich gefragt, ob ich in dieser Welt leben möchte?‘ (…) Der andere Weg besteht aber darin – und das tun 99 % der Leute! – zu rationalisieren. Und dann sagst Du schließlich ‚Komm, wir gehen zum Rathaus und streiten für unsere Rechte.‘ (Sanders 1965, S. 32, Übersetzung und Hervorhebungen PS).

Die von Alinsky präferierte Forderung nach Rationalisierung und Artikulation des Unmuts klingt hier nach der von Albert Camus vorgeschlagenen Revolte. Wie Camus hält er in einer absurden, von Ungerechtigkeit, Demokratiedefiziten und Diskriminierung geprägten Welt die „Revolte“ als die einzig verbleibende Alternative zu Gewalt und Selbstaufgabe. Camus formuliert: „Wer revoltiert, macht kehrt. Er schritt unter der Peitsche des Herrn. Nun bietet er ihm die Stirn.“ Das Ressentiment weist dann nicht mehr nach innen auf ein eigenes Unvermögen, sondern wird wieder nach außen gerichtet und wirksam. Die Äußerung des Ressentiments ist eine erneute Hinwendung zum Recht (Camus 2021, S. 28).

Wie also sind die Statements von Alinsky zum Umgang mit Ressentiments zu interpretieren? Vor dem Hintergrund seiner Verwendung der Begriffe und seiner Erklärung zum Umgang mit Ressentiments in Organisationsprozessen, erscheinen seine Statements wie eine medizinische Metapher zur Heilung von Wunden:

  • to rub raw“ = die Wunde offenlegen, den Schorf abtragen, die Wunde reinigen

  • to fan“ = die Entzündung kühlen und die Wundoberfläche trocknen

  • to channel“ = eitrige Sekrete ableiten

Beim „rubbing raw“ ist zuerst ist herauszufinden, welche Erfahrung, welches Trauma dem Ressentiment zugrunde liegt. Dem geht Alinsky in den oben genannten Beispielen nach. Es handelt sich um Erfahrungen der Nicht-Anerkennung, des Ausschlusses und der Diskriminierung aufgrund von Herkunft und Zuschreibungen. Es kann sich aber auch um die Ergebnisse von gesellschaftlicher Spaltung und Vorurteile handeln. Die Angehörigen der Mittelschicht, in Alinskys Begriffen, die „Have-little-want-mores“ halten sich für etwas Besseres als die „Have-nots“, die Unterschicht.

Beim „fanning“ geht es darum, an die verdrängten Gefühle, die durch die Verletzungen und Gefährdungen hervorgerufen und worden sind, zu erinnern, sie bewusst zu machen und schließlich „abzukühlen“. Auf diesem Weg sollen weniger affektive und dafür mehr rationale und effektive Möglichkeiten zur Reaktion geschaffen werden. Bei der Unzufriedenheit anzusetzen („To fan the Flames of Discontent“) war damals eine übliche Strategie der „Industrial Workers of the World“ (IWW). Sie wurde u. a. mit den Protestliedern aus dem „Little Red Songbook verfolgt (s. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Little Red Songbook

Beim „channeling“ geht es noch einmal darum, den dunklen, verborgenen Gefühlen einen Weg ans Licht zu bahnen. Alinsky spricht von „den negativen Gefühlen, die vorangegangene Situation so lange ertragen zu haben.“ Die mit Alinskys politischen Strategien bestens vertraute amerikanische Stadtsoziologin und Sozialpsychologin Hellen Lynd hatte dieses Gefühlskonglomerat differenziert (Horwitt 1992, S. 529; Lynd 1958, S. 204). Es gehe nicht nur um Schuld, sondern auch um Scham, es geht um Gefühle, die gewöhnlich abgewehrt werden. Schuld, so Lynd, stehe immer in Verbindung mit Handlungen und Verstößen gegen spezielle gesellschaftliche Tabus, Scham hingegen mit dem der Erfahrung des Nicht-Genügens.

Beide Gefühle sind in der Praxis nicht immer leicht zu trennen, aber wenn wir auf Alinskys obige Beispiele zurückkommen, dann können wir sehen, dass die Mitglieder der „religiösen Gemeinschaften“, also die weißen, angelsächsischen Protestanten, die irischen Katholiken und die Juden aus der Park Avenue eher zur (gehobenen) Mittelschicht gehören und mit ihren Status-Unterscheidungen Abgrenzungen und Ungerechtigkeiten verursachen. Ein Effekt daraus ist gesellschaftliche Spaltung.

Die in den obigen Beispielen angesprochenen „ethnischen Gruppen“, also die Iren, Italiener, verarmte Juden, Polen, Mexikaner, Schwarze, Puerto-Ricaner, Chinesen usw. aber eher an ihrem Ungenügen leiden, erfolgreich dem American Way of Life zu folgen. Sie entwickeln Scham, die zu überwinden ist.

Die Beispiele der religiösen Gruppen verweisen dagegen eher auf „Schuld“ im Sinne Helen Lynds. Von den „Have little, want mores“ könnte man Besseres erwarten als auf andere herabzublicken. Alinsky hat dafür eine besondere Strategie entwickelt: „Schlagt sie mit ihren eigenen Büchern, erinnert sie an ihre eigenen Grundsätze!“ (Alinsky 1971, S. 128). Mit dieser Strategie bezieht sich Alinsky neben den jeweiligen religiösen Texten auch auf die amerikanische Verfassung und die Menschenrechte. Alinskys Instrumente zur Überwindung von Ohnmacht und Scham sind also Rationalisierung, Artikulation, Verhandlung. Die notwendigen Fähigkeiten dazu vermittelt er durch Training und Ausbildung.

Das FBI stoppte die Ermittlungen gegen Alinsky im Jahre 1970. Er wurde auch vom Rabble-Rouser-Index der Stadt Chicago gestrichen. Trotz zahlreicher Bemühungen konnte das FBI keinerlei Beweise oder Hinweise auf Gewalt oder die Vorbereitung von Aufständen finden. Er wurde zwar als radikal eingestuft, aber nicht als revolutionär. Zeugen, die im Verlauf der Untersuchungen vernommen wurden, gaben zu Protokoll, dass es Alinsky darum gegangen sei, die Menschen zu verstehen (Hervorhebung durch den Autor). Es geht bei Alinsky also darum, Ressentiments zu verstehen und sie zu rationalisieren, das heißt sie in einer angemessenen Form zu artikulieren. Dabei helfen ihm Konzepte, die er während seines Studiums aufgenommen hatte.

Zugrundeliegende Konzepte der Chicago School of Sociology

Es ist sinnvoll, sich kurz einige zeitgenössische Konzepte zu vergegenwärtigen, die Alinsky während seines Studiums an der Universität von Chicago aufgenommen hat und die bei der Entwicklung seines eigenen Ansatzes eine Rolle gespielt haben.

Ein wichtiges Konzept ist das sog. Thomas-Theorem, benannt nach Wiliam Isaak Thomas (Thomas 1928): „Wenn Menschen ihre Situation als real definieren, dann ist sie real in ihren Konsequenzen.“

Menschen definieren vorgefundene Situationen oft zu Unrecht „als real“. Aber selbst dann, wenn sie ihre Situation falsch wahrnehmen oder definieren, sind die daraus resultierenden Handlungen real und sozilogisch relevant. Sie lassen eine neue, subjektive „Realität“ zu, auch und obwohl sie auf falschen Prämissen beruht. Der Beobachter kann versuchen, die Menschen dazu zu bringen, ihre Realitätsdefinitionen zu äußern und zu überprüfen. Dies ist der Ursprung von Gruppendiskussionen als Mittel der empirischen Sozialforschung. Unterschiedliche Realitätsdefinitionen werden in der Gruppe zur Sprache gebracht, verglichen, auf ihre Richtigkeit geprüft und reflektiert. Hierdurch ist es möglich, so die optimistische Annahme, die Entstehung neuer „Realitäten“, die auf falschen Annahmen beruhen, zu minimieren.

Ein weiterer Einfluss auf die Chicago School of Sociology ging vom Deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies aus und seine grundlegende Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Tönnies war lange Mitglied des Editorial Board des einflussreichen, von der University of Chicago herausgegebenen „American Journal of Sociology“, in dem auch Alinsky veröffentlichte (Alinsky 1941). Tönnies Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ wurde in der englischen Fassung mit „Community and Civil Society“ betitelt. In Deutschland wurde der Begriff der Gemeinschaft durch den nationalsozialistischen Begriff der einheitlichen „Volksgemeinschaft“ verdrängt, Gemeinschaftsfremde wurden verfolgt. Anders als in Deutschland versteht Alinsky im Anschluss an Tönnies die Community als Übergangsstadium, als „kulturellen Kokon“. Dieser öffnet sich zu gegebener Zeit: „Nachdem die Immigranten und ihre Kinder sich einige Zeit lang in diesen kulturellen Kokons entwickelt hatten, in ihren Köpfen (…) Informationen und Einstellungen aufgenommen hatten und in ihren Taschen (…) Geld angehäuft hatten, kamen sie hervor und machten sich auf in die offene Gesellschaft.“ (Alinsky 1960, Übersetzung PS)

Schließlich ist Max Weber zu nennen, dessen Konzept vom Sinnverstehen für Alinsky relevant wurde. Die ersten Weber-Übersetzungen entstanden in der Chicago School of Sociology. Dort hatten jiddisch sprechende Immigranten wie Edward Shils oder Louis Wirth einen sprachlichen Vorteil bei der Rezeption deutscher Soziologie. Alinsky kannte daher die Weber’sche Definitionen und Unterscheidungen („Idealtypen“) von rationalem, wertrationalem, traditionellem und affektuellen Sinn sozialen Handelns, den es zu verstehen galt. Diese „operation called Verstehen“, also das Entschlüsseln des subjektiven gemeinten Sinns sozialer Handlungen nach Weber, basiert auf dem Verstehen der Gründe und Zwecke bei rationalem Handeln, der moralischen oder ästhetischen Wertentscheidungen Entscheidungen bei wertrationalem Handelns, der Bräuche und Gewohnheiten bei traditionellem Handeln, sowie der Gefühle und Emotionen bei affektuellem Handeln, die dem sozialen, also dem auf andere bezogenen Handeln, als Sinn zu Grunde liegen (Weber 1976, S. 38-41). Die Veränderung subjektiver Situationsdefinitionen, die Öffnung kultureller Kokons und soziologisches Sinnverstehen gehörten also zu Alinskys Repertoire beim Umgang mit dem Ressentiment.

Warum ist ein anderer Umgang mit Ressentiments in Deutschland so schwierig?

Warum ist es in Deutschland so schwer, sich konstruktiv mit Ressentiments zu befassen? Alinskys Ansatz hätte „nicht von ungefähr für die Soziale Arbeit in den 70er Jahren keine erfolgreiche Praxis befeuert“ heißt es. „Eine rebellische Veredelung der GWA im deutschsprachigen Raum“ bliebe bisher „ohne praktische Basis“. Eine „entsprechende Praxis im Umgang mit ‚resentiments‘“ sei darüber hinaus in „entwickelten Wohlfahrtsstaaten ein Wunschtraum“ (so zuletzt Schweitzer 2022Footnote 5, zuerst Hinte 1994).

Dafür gibt es mehrere Gründe:

  • Es fehlt in der Praxis ein philosophisch unterfütterter Begriff des Ressentiments

  • Die Rezeption Alinskys erfolgte auf zum Teil sinnentstellenden Übersetzungen und einer irreführenden Rahmung als „aggressive Gemeinwesenarbeit“Footnote 6. Die Originaltexte wurden nicht gelesen. Neuere Beiträge, etwa ab 2000 erschienene Beiträge, wurden nicht oder nur unzureichend zu Kenntnis genommen.

  • der „entwickelte Wohlfahrtsstaat“ wird für effektiver gehalten als er tatsächlich ist. Die gesellschaftliche Spaltung hat sich in den letzten Jahrzenten weiter vertieft. Im sozialen Bereich sind Wirtschaftsunternehmen immer dominanter geworden, kommunale Träger unterliegen Sparzwängen und zivilgesellschaftlichen Organisationen verlieren an Einfluss.

Gleichwohl oder gerade deshalb tragen heute wieder zahllose Menschen – davon liest man in den Zeitungen und in den sozialen Netzwerken – ihre Ressentiments mit sich herum, vor sich her, verbittern, geben auf, richten sich in ihrer Ohnmacht ein, lassen sich bedauern oder schließen sich krakeelenden und randalierenden Gruppen an und „teilen“ Gewaltphantasien und Verschwörungstheorien, ohne sie jemals zu überprüfen, zur Diskussion zu stellen oder gar an einen Verhandlungstisch zu bringen. Es kommt zu Spontandemonstrationen und Kundgebungen gegen Einwanderer und vermeintliche Eliten. Es kommt zu krausen politischen Forderungen, aber Debatten werden nicht gesucht. Die Lebenswelt des „unteren Drittels“ der Bevölkerung wird nicht mehr als Gegenstand wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen in Betracht gezogen, sondern Influencern und falschen Agitatoren überlassen.

Die Ausblendung des Ressentiments als Gegenstand gesellschaftlicher Praxis hat dabei in Deutschland eine lange Tradition, obwohl schon Friedrich Nietzsche das Ressentiment als etwas Negatives, Gefährliches und Explosives beschrieben hat. Er hat darüber hinaus das Ressentiment fast unauflöslich mit der Tätigkeit des falschen Agitators verbunden. In seiner Genealogie der Moral verwendet er dafür in religionskritischer Absicht die Figur des „asketischen Priesters“. Die positive, gesellschaftskritische Konnotation, die dem „resentment“ bei Adam Smith zukommt, wird im deutschsprachigen Raum so gut wie gar nicht wahrgenommen.

Nietzsche schreibt:

  • „Der Mensch des Ressentiments ist weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt: sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen.“

  • Der asketische Priester „kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Herde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu entladen, dass er nicht die Herde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück.“

  • „Er bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; aber erst hat er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; indem er den Schmerz stillt, den die Wunde macht, vergiftet er zugleich die Wunde“ (GM III 15).

  • „Er ist der ‚Richtungs-Veränderer‘ des Ressentiments.“ Er sagt: „Recht so, mein Schaf, irgendjemand muss daran schuld sein (…) du selbst bist dir allein schuld!

Der im Inneren der „Schafe“ gespeicherte, nicht „entladene“ Explosivstoff des Ressentiments macht die „Herde“ schließlich anfällig für Agitation. Nietzsche geißelt zwar den „asketischen Priester“ als Urtyp des Verführers, dann aber auch alle anderen, modernen Agitatoren:

Ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal auf ihrem Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, die neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen in christliche-arisch-biedermännischer Weise verdrehn und durch eine jede Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilen Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes anzuregen suchen (GM III 26).

Dem historischen und kritischen Kommentar zu Nietzsches „Genealogie“ der Moral ist zu entnehmen, dass Nietzsche zu seiner Figur des „asketischen Priesters“ und seiner Agitation durch das „Handbuch für Demagogen“ des französischen Schriftstellers Raoul Frary inspiriert worden ist. Frary hatte nach der französischen Revolution versucht seinen Zeitgenossen, die Arbeitsweise der Agitatoren durchsichtig zu machen. (Sommer 2019, S. 498 f.; Frary 1884). Auch Heinrich Heine äußerte in „Deutschland – ein Wintermärchen“ eine ähnliche Abneigung:

Verse

Verse „Fatal ist mir das Lumpenpack, Das, um die Herzen zu rühren, Den Patriotismus trägt zur Schau Mit allen seinen Geschwüren.“ (Caput XXIV)

Die Agitatoren, so Heine, tragen ihren Patriotismus „mit allen seinen Geschwüren“ nur „zur Schau“, sie wollen „Aufmerksamkeit zu erregen“ und sich als „Männer des Volkes“ darzustellen zu können. Der von Heine beschriebene „Patriot“ biedert sich mit leidens- und verständnisvoller Miene denjenigen an, die Nietzsche zunächst als die „Herde“ und später sogar als die „Hornvieh-Elemente des Volkes“ bezeichnet, also als Träger schwärender Ressentiments und „vergifteter Wunden“. Diejenigen also, die sich der von Nietzsche so verachteten Herden- oder Sklavenmoral unterworfen haben oder aber – was zu klären wäre – unterworfen worden sind. Jene, lernen mussten, dass sie nichts ändern können und an ihrem Unglück allein die Schuld tragen.

Ein Psychiater, Studienfreund des badischen Revolutionärs Karl Hecker (1811 bis 1881), Mitglied des Vorparlaments in der Frankfurter Paulskirche (1848) und Kinderbuchautor – Dr. Heinrich Hoffmann – schlägt in die gleiche Kerbe. Unter dem Pseudonym Peter Struwwel hat er ein „Handbüchlein für Wühler“ verfasst, in dem er sich ebenfalls mit den Agitatoren befasst. Er bezichtigt sie als „selbsternannte“ und falsche Patrioten und wirft ihnen ähnlich wie zuvor Frary und Heine vor, ihren Patriotismus nur „zur Schau“ zu tragen. Auf diese Weise versucht er die „künstlichen Patrioten“, die „selbsternannten Männer des Volkes“ zu entlarven. Es ist aber wichtig darauf hinzuweisen, dass Hoffmann alias Peter Struwwel die künstlichen Patrioten und selbsternannten Vertreter des Volkes sehr wohl zu unterscheiden weiß von den natürlichen, ursprünglichen, echten Volksfreunden, die er ausdrücklich von seinem Spott und seiner Warnung ausnimmt: „Es sind diese Männer mit den Interessen des Volkes und des Vaterlandes so innig verwachsen, als ob ein Herzschlag sie beide belebe. Wie der Baum in der Erde, so wurzelt ein solcher Vaterlandsfreund im Volke.“ (Hoffmann 1948, S. 6). In der ersten (unvollkommenen) Übersetzung eines Alinsky-Textes in Deutschland finden wir eine ähnliche Metapher: „Wenn sich eine Volksorganisation (sic) als Baum abbilden ließe [= people’s organization, gemeint sind Nachbarschaftsräte, Anm. P.S.], dann würden die informellen Führer (sic) die Wurzeln und die Bevölkerung das Erdreich darstellen [= native leaders, gemeint sind Bürgervertreter, Anm. P.S.]“ (Müller und Nimmermann 1973, S. 197). Es gibt sie also, die ursprünglichen Männer und Frauen des Volkes, die „Experten und Expertinnen ihrer Lebenswelt“.

Durch die Dominanz Nietzsches beim Verständnis und Gebrauch des Begriffes „Ressentiment“ wird die Figur des falschen Agitators immer gleich mitgedacht: jener „aufgeblasenen“ Personen, welche die „Hornvieh-Elemente des Volkes“ aufzuwiegeln im Stande sind. Dahinter geht die Idee von Adam Smith, dass die Kundgabe erlittenen Unrechts, der Widerspruch gegen Ungerechtigkeit, das Eintreten und Einstehen für eine gemeinsame Sache eine bürgerliche Tugend sei, verloren. Deshalb gibt es so wenig Sprecher und Sprecherinnen, die sich zivilgesellschaftlich organisieren.

Vielleicht hilft Alinskys Ansatz, anders mit Ressentiments umzugehen allen, die sich ernsthaft um Aktivierung, Partizipation, Selbstorganisation und Empowerment bemühen. Alinsky hingegen als falschen Agitator und Aufwiegler zu überführen, ist selbst dem FBI nach 32 Jahren Beobachtung nicht gelungen.