Studium ist ohne Peer-Coaching 2035 gar nicht mehr zu denken: es ermöglicht den (neuen) Studierenden niedrigschwellige Zugänge zur Beratung, Reflexion und Auseinandersetzung mit sich selbst. Und es führt im Studium der Sozialen Arbeit zur Qualifizierung und praktischen Entwicklungserfahrung von Beratungskompetenzen der Peer-Coaches am realen Beispiel.

Studium und Hochschule werden somit zum lebendigen Lernlabor Sozialer Arbeit.Footnote 1 Das Angebot des Peer-Coachings von Studierenden für Studierende im Bachelor für Soziale Arbeit an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München gibt es seit dem Sommersemester 2008. Die Idee hierzu entstand infolge der Ablösung der bisherigen Diplomstudiengänge durch Bachelor- und Masterstudiengänge, um den Studierenden der neuen Studiengänge die damit verbundenen Orientierungsschwierigkeiten zu nehmen. Dabei richtete sich das Angebot am Anfang vor allem an die Erst- und Zweitsemester, erreicht heute aber auch die Studierenden der höheren Semester und diese insbesondere in der Phase der Prüfungsvorbereitung.

In den letzten vier Semestern waren aber auch die Herausforderungen durch die Pandemie und Online-Lehre häufige Coaching-Anlässe. Peer-Coaching versteht sich als Ergänzung zu anderen Beratungsangeboten an der Hochschule bzw. der Fakultät und vor allem als Ergänzung zu weiteren professionellen Angeboten im Bereich des Coachings. Mit Peer-Coaching wird einerseits ein leicht zugängliches, semiprofessionelles Beratungsangebot für Studierende der Fakultät ermöglicht, andererseits werden für Studierende im Studiengang ‚Soziale Arbeit‘ praktische Möglichkeiten zur Vertiefung von Beratungskompetenzen eröffnet. Die Teilnahme an der Ausbildung bzw. die Arbeit als Peer-Coach_in ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden und wird durch Lehrende sowie einen externen Coach unterstützt und begleitet.

Bedarfe für ein Peer-Coaching

Grundsätzlich gilt der Eintritt ins Studium als besondere Statuspassage (vgl. Friebertshäuser 2008, S. 611), in welcher der biografische Status einer Person in unterschiedlichen Dimensionen neu definiert wird. Ins Studium einzutreten bedeutet, sich auf unbekanntes Terrain mit eigenen Regeln und Konventionen zu begeben und angemessene Handlungsstrategien zu entwickeln, um sich in die ‚Community‘ des gewählten Faches zu integrieren und die verschiedenen Studien- und Prüfungsanforderungen zu bewältigen (vgl. Friebertshäuser 1992, S. 70 ff.). Je nach Fach unterscheiden sich die Arbeitsformen und Forschungsstile, die anerkannten Muster der Problemstellung bzw. -bearbeitung bis hin zum dargestellten Lebensstil und Dresscode.

Mit der Akzeptanz neuer Denkweisen wird ein Prozess der persönlichen Weiterentwicklung in Gang gesetzt. Das neu erworbene Wissen kann auch eine Reflexion der bisherigen individuellen Biografie der Studierenden auslösen und die bisherigen Vorstellungen, Einstellungen, Bilder und Konzepte ins Wanken bringen, was letztlich zu einer Neubewertung der eigenen Biografie führen kann. Aber dieser Prozess ist vielfach von Verunsicherungen, manchmal auch Ängsten geprägt und gestaltet sich für Studienanfänger_innen umso schwieriger, je weiter die Herkunftskultur vom akademischen Milieu entfernt ist oder sich z. B. auch das Sprachverstehen (im Sinne der Muttersprache) als schwierig gestaltet (vgl. Friebertshäuser 1992, S. 72 f). Insbesondere dann, wenn es an Ressourcen fehlt bzw. die eigene Einschätzung von Ressourcen zur Bewältigung der neuen Aufgaben eher negativ ausfällt, sind Studienanfänger_innen weniger in der Lage, neue Situationen und auch Krisen als Entwicklungschance zu nutzen.

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass der Übergang von der Schule zur Hochschule je nach Ausprägung eines Kohärenzgefühls im Sinne Antonovskys sehr belastend sein kann (vgl. Antonovsky 1997, S. 19 zit. nach Faltermaier 2005, S. 164). Durch fehlende Handlungsstrategien kann die Studierfähigkeit in den Anfängen eines Studiums stark beeinträchtigt sein, was sogar zum Studienabbruch führen kann. Hier setzt unser Konzept des Peer-Coachings verbunden mit einem Mentoratskonzept an, bei dem ebenfalls studentische Tutor_innen neben hauptamtlichen Mentor_innen mitwirken: Beide beziehen sich einerseits auf die Situation von Studienanfänger_innen, um diesen eine verlässliche und vertrauensvolle Anlaufstelle zur Behebung von Informationsdefiziten und zur Überbrückung erster Unsicherheiten im Studium zur Verfügung zu stellen. Andererseits richtet sich das Peer-Coaching als niederschwellige Anlaufstelle an Ratsuchende während des gesamten Studiums.

Peer-Coaching als (semiprofessionelles) Coaching unter Gleichen

Peer-Coaching stellt eine spezielle Form des semiprofessionellen Coachings dar (vgl. Edinger 2016). Der Begriff ‚Peers‘ meint statusmäßig Gleichgestellte – hier aber nicht Lehrende, die einander im Rahmen der kollegialen Beratung unterstützen, sondern Studierende der (meist) höheren Semester, die – als bezahlte Tutor_innen – Studierende in unteren Semestern beraten. Allerdings geht es nicht nur um den Erfahrungsvorsprung, den die Coach_innen hierbei nutzen, vielmehr ist die Tätigkeit als Peer-Coach_in (und Tutor_in) an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Peer-Coaching setzt seitens der Coach_innen bestimmte Kommunikationskompetenzen sowie auch gewisse methodische bzw. beraterische Kenntnisse voraus. Diese Kompetenzen und praktischen Fertigkeiten werden im Rahmen eines zweistufigen Ausbildungsmodells vermittelt (s. unten).

Unserem Verständnis nach zielt Peer-Coaching auf Hilfe zur Selbsthilfe. Die Peer-Coach_innen verhelfen den Coachees durch Zuhören, wertschätzende Zuwendung und geeignete Fragetechniken zur Selbstklärung. Das Ziel ist es, die individuellen Ressourcen und Fähigkeiten der ratsuchenden Studierenden zu mobilisieren, damit diese das Studium aus eigener Kraft besser bewältigen können. Der/die Peer-Coach_in unterstützt den/die Coachee also auf dem Weg zur eigenen Lösung. Dabei stehen Freiwilligkeit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung immer im Vordergrund. Insgesamt erhalten die Studierenden mit dem Angebot des Peer-Coachings eine kurze, dabei aber intensive und achtsame Unterstützung bei der Klärung eines Problems bzw. erhalten auch Hinweise darauf, wo sie ggf. weitere Unterstützung zur Lösung ihres Anliegens finden können.

Für die Studierenden ist es oft einfacher, Fragen (zunächst) mit einer/m Peer-Coach_in zu besprechen, anstatt sich damit an eine_n Dozent_in oder eine andere offizielle Stelle zu wenden. Hier kann Peer-Coaching unterstützen, die dahinterliegenden Ängste, sich zu diskreditieren oder eine schlechte Bewertung zu erhalten, zu reduzieren, Situationen zu klären oder auch Wege zu anderen Gesprächspartner_innen zu eröffnen. Grundvoraussetzung für einen gelingenden Coachingprozess ist selbstverständlich, dass die Ratsuchenden von dem Angebot wissen und sich davon angesprochen fühlen. Hierbei sind neben Online-Präsenz und Öffentlichkeitsarbeit vor allem Akteure wie die Fachschaft – also studentische Selbstorganisationsformen – wichtig.

Ausbildung und Begleitung von Peer-Coaches

Um das Peer-Coaching dauerhaft zu etablieren, war es nötig, eine Ausbildung zu entwickeln und im Studiengang ‚Soziale Arbeit‘ zu verankern. Beratung stellt im Feld der Sozialen Arbeit eine zentrale Handlungskompetenz dar (vgl. z.B. Iser 2008). Peer-Coaching bietet sich daher an, um Beratungskompetenzen schon im Studium zu erwerben und praktisch zu vertiefen. Voraussetzung für die Teilnahme am Peer-Coaching-Seminar ist die erfolgreiche Teilnahme am Grundlagenseminar ‚Beratung‘. Ziel dieses Grundlagenseminars ist es, den Studierenden neben dem ersten fachlichen Zugang vor allem eine wertschätzende Beratungshaltung auf der Grundlage eines humanistischen Menschenbilds zu vermitteln. Demnach ist jeder Mensch „aktiver Gestalter seiner Existenz“ (Bamberger 2005, S. 38) und somit grundsätzlich in der Lage, sein Leben sinnvoll zu gestalten und seine Anliegen selbst zu bearbeiten. Beratungsanlässe entstehen also nicht aufgrund einer allgemeinen oder dauerhaften Handlungsunfähigkeit, sondern zumeist aus einer inneren oder äußeren, aber immer nur situativen Gegebenheit, die es mittels Beratung zu überwinden gilt. Einen Suchprozess anzustoßen und die Beratenen wieder mit sich und ihrer eigenen Kreativität bzw. Vitalität in Kontakt zu bringen (vgl. ebd.) ist einerseits die fachlich-methodische Aufgabe des/der Berater_in, andererseits braucht es dazu die entsprechende innere Haltung des/der Berater_in.

Im zweiten Ausbildungsabschnitt, dem eigentlichen Peer-Coaching-Seminar, sollen diese Haltung weiter vertieft und verschiedene Ansätze der lösungsorientierten Beratung erprobt und gefestigt werden (aktives Zuhören, lösungsorientierte Gesprächsführung, Feedbackregeln …). Das Thema Onlineberatung nimmt einen zunehmend größeren Raum in der Ausbildung ein, da eine digitale Kontaktaufnahme inzwischen die Regel ist.

Über die Vermittlung dieser Inhalte und die damit verbundenen praktischen Übungen hinaus erhalten die Studierenden in den Auswertungs- und Transferphasen zahlreiche Möglichkeiten der Selbsterfahrung und Selbstreflexion. So erwerben die Teilnehmer_innen nicht nur fundiertere Beratungskompetenzen, sondern sie haben gleichzeitig die Möglichkeit, zu überprüfen, ob Coaching und Beratung für sie geeignete Berufsfelder nach der Zeit im Studium darstellen.

Während der Tätigkeit im Rahmen des Peer-Coachings erhalten die beteiligten Coach_innen eine zusätzliche Begleitung: Zum einen können sich die studentischen Coach_innen bei allen organisatorischen, den Studiengang und die Fakultät betreffenden Fragen an mich als die das Peer-Coaching betreuende Professorin wenden. Sie können hier auch schwierige inhaltliche Fragen ansprechen und bestmöglich klären. Dabei bleiben die Coachees stets anonym. Zum anderen erhalten die studentischen Peer-Coach_innen Unterstützung, kleine Weiterbildungseinheiten und Feedback durch einen erfahrenen Coach im Rahmen von Supervisionsangeboten, um so ggf. eigene Verwicklungen zu reflektieren und dabei auch die eigene Beratungskompetenz schrittweise weiterzuentwickeln. Ein externer Coach wurde bewusst gewählt, um das erforderliche Vertrauensverhältnis zu ermöglichen und eventuellen Rollenproblematiken bei der Begleitung von Peer-Coach_innen vorzubeugen.

Ausblick 2035

Die Corona-Pandemie hat Peer-Coaching relevanter denn je gemacht und das Angebot digitalisiert – Peer-Coaching findet via E‑Mail und oft via Video-Konferenzen statt und gewinnt damit nochmals an Niedrigschwelligkeit. Im Jahr 2035 wird das Peer-Coaching-Programm digital – und auf Wunsch auch weiterhin analog – zur Verfügung stehen. Dabei werden nicht mehr nur die Studierenden der Sozialen Arbeit von dem Angebot profitieren, vielmehr werden Peer-Coach_innen dann für alle Studierende an der Hochschule zur Verfügung stehen, weil die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Studienrolle und Positionierung in allen Studienfächern von Bedeutung ist. Peer-Coach_innen unterstützen diesen Prozess und leisten damit einen wesentlichen Beitrag in der Selbstverantwortung und Selbstorganisation – ohne die Menschen damit alleine zu lassen. Vielmehr steht der Gedanke im Raum, das Studium zum eigenen (Lebens)Projekt zu machen. Da Studierende anderer Fakultäten keine grundlegende Beratungsausbildung im Studium haben, findet Peer-Coaching bei Bedarf im Tandem statt. So wird eine eher fachliche Beratung durch eine_n Tutor_in aus dem je eigenen Studiengang einerseits und ein Coaching durch die Person aus der Sozialen Arbeit andererseits möglich. Denn für Studierende der Sozialen Arbeit sind Kompetenzen der Beziehungsgestaltung, Gesprächsführung und Beratung Kernkompetenzen ihrer Profession und stellen Grundelemente der Ausbildung dar, die hier schon wirksam werden können.

Peer-Coach_innen sind zentrale Akteure an Hochschulen im Jahr 2035 – und sie sind sowohl vernetzt mit Studierenden, mit Studiengangsleitungen, Dozierenden und den weiteren Beratungs- und Coachingangeboten an der Hochschule. Durch ihre Nähe zu Erstsemesterstudent_innen und weiteren Studierenden mit Problemen rund ums Studium sind sie eine Art Seismograf für bestehende Missstände, Herausforderungen und Entwicklungsbedarfe. Ihre Erfahrungen und Einblicke – anonymisiert und gebündelt – für Anregungen zur Qualitätsgestaltung und -entwicklung zu nutzen ist ein Gewinn für alle Beteiligten: die Lehrenden und die Angebotsqualität, die Studierenden, die weiteren Beratungsangebote und nicht zuletzt für die coachenden Tutor_innen selbst, indem sie dadurch Bestätigung und Selbstwirksamkeit erfahren können.

Das Angebot der Peer-Coach_innen hat sich bis 2035 in mindestens drei Richtungen weiterentwickelt:

  1. 1.

    Zum einen sind Fragen zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben, zum Lernen und rund um Prüfungen schon jetzt regelmäßige Themen und Anliegen im Peer-Coaching. Mit Schulungen dazu und zur Schreibberatung wird ein Teil der Peer-Coach_innen explizit für solche Fragen ansprechbar. Sie sind in offenen Lernlaboren zu bestimmten Zeiten regelmäßig erreichbar und können dort im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe aktiv werden.

  2. 2.

    Ein weiterer Vertiefungsbedarf besteht in Bezug auf ein interkulturelles Coaching. Immer mehr Studierende bringen einen anderen kulturellen Hintergrund und dadurch bedingte Bewältigungsaufgaben mit. Zukünftig können Peer-Coach_innen mit einer vertieften Kompetenz im interkulturellen Coaching Ansprechpartner_innen für Studierende mit Migrations-, ggf. auch Fluchthintergrund ebenso sein wie für incoming students.

  3. 3.

    Regelmäßig sind Konflikte ein Anlass für die Nachfrage nach Peer-Coaching. Zukünftig wird ein Teil der peer-coachenden Tutor_innen die Ausbildung und Kompetenzen des Peer-Coachings mit dem Erwerb von Kompetenzen zum Thema Konfliktberatung und Mediation im Studiengang Soziale Arbeit verbinden. Bis 2035 bestehen bereits vielfältige Erfahrungen mit Hochschul-Mediation. So sind auch Peer-Mediationen für Konflikte unter Studierenden möglich, während für Konflikte zwischen Lehrenden oder Mitarbeitenden und Studierenden Tandem-Mediationen durch eine_n geschulte_n Student_in und einer/einem geschulten Lehrenden angeboten werden.

Diese drei Vertiefungsmöglichkeiten dienen sowohl der Studienqualität, einer gelingenderen Kultur des Umgangs miteinander als auch der Praxis und Übung zentraler Kompetenzen der Sozialen Arbeit. Durch Peer-Coaching wird reale Praxis möglich und wirksam. Studium und Hochschule werden so selbst zum lebendigen Lernlabor für die Soziale Arbeit.