Die (sozial-)pädagogische Prävention und Distanzierung von islamistischem Extremismus ist ein relativ neues Arbeitsfeld, in dem Radikalisierungsprozesse verhindert oder Ablösungen von extremistischen Gruppen und Ideologien angeregt werden sollen. Welche spezifischen Ungewissheiten prägen die Arbeit in diesem Bereich? Welche Herausforderungen für die eigene professionelle Handlungsfähigkeit stellen sich (sozial-)pädagogischen Fachkräften?

Ungewissheit ist der (sozial-)pädagogischen Praxis grundlegend eingeschrieben, etwa aufgrund der Komplexität sozialer Situationen und Interaktionen sowie der Kontingenz angestoßener Prozesse. Dabei sollte Ungewissheit nicht mit Unwissenheit verwechselt werden. Es geht in der Auseinandersetzung mit Ungewissheit keineswegs um mangelndes Professions- und Erfahrungswissen, Ungewissheit wird vielmehr zu einer Rahmenbedingung des professionellen Handelns (Dewe und Otto 2012). Im Kern bezieht sich diese Ungewissheit als erstes auf das generelle Technologiedefizit von Pädagogik und Sozialer Arbeit. Zwar sollen Prozesse bei den Adressat_innen angestoßen werden, die Ergebnisse können aber nicht vorab vorhergesagt werden, da sie von den Adressat_innen stets (mit) hervorgebracht werden.

So haben (sozial-)pädagogische Interventionen per se einen offenen Ausgang und sind damit kontingent (Helsper 2021, S. 143f.). Zweitens erfordern soziale Interaktionen eine Komplexitätsreduktion durch Fachkräfte, um darin handlungsfähig zu sein. So gilt es etwa zu entscheiden, wie viel widersprüchliches Fallwissen im Laufe der Begleitung berücksichtigt wird oder welche Fallhypothesen in der Prozessplanung handlungsleitend werden. Ungewiss ist, ob die vorgenommene Reduktion angemessen für den Fall ist – oder eher organisationalen Handlungsvorgaben entspricht (Dörr und Klomann 2021, S. 232f.). Drittens ist professionelles Handeln vielfach von unauflösbaren Spannungen geprägt und ambivalent. So können sich etwa verschiedene Aufträge seitens der Adressat_innen und der Mittelgebenden für die Intervention ergeben, die die Fachkräfte nicht einseitig auflösen können. Sie balancieren – idealerweise in einem reflexiven und interaktiven Prozess – die widersprüchlichen Anforderungen aus (Dewe und Otto 2012, S. 204ff.).

Die damit verbundenen Handlungsentscheidungen müssen sich bewähren, denn sie können sich immer auch – aus einer anderen Perspektive oder mit zeitlichem Abstand – als Fehler herausstellen (Helsper 2021, S. 142). Bewährungsinstanzen sind v. a. die Adressaten_innen, die durch die Interventionen erreicht werden sollen und auf Basis von Vertrauen und Akzeptanz die Interventionen mitgestalten. Aber auch Kolleg_innen und Supervisor_innen können aus einer anderen fachlichen Position auf einzelne Entscheidungen schauen und zur Reflexion einladen.Footnote 1

Besondere Ungewissheiten in der Prävention und Distanzierung von islamistischem Extremismus

Fachkräfte in der (sozial-)pädagogischen Prävention und Distanzierung von „islamistischem Extremismus“ sind in besonderer Weise mit Ungewissheiten konfrontiert. Das Arbeitsfeld ist vergleichsweise jung und bildete sich maßgeblich in Reaktion auf das wahrgenommene Risiko islamistischer Anschläge in Deutschland heraus. Durch umfangreiche Fördermittel und aufgelegte Programme entwickelte sich die Praxislandschaft seit 2010 dynamisch (Schau und Figlestahler 2022). Dabei gibt es verschiedene Handlungslogiken und entsprechende Angebotsformate: Im Bereich der Prävention sollen Radikalisierungsprozesse, d. h. die Hinwendung zu extremistischen Gruppen und Ideologien, verhindert werden. In der universellen Prävention werden beispielsweise häufig Sensibilisierungsangebote mit jungen Menschen oder pädagogischen Fachkräften umgesetzt, in denen etwa Wissen über das Phänomen und aktuell relevante Gruppierungen vermittelt wird. Angebote der Distanzierungsarbeit wollen im Rahmen von Einzelfallhilfe Menschen mit bereits problematischen Orientierungen und Szeneeinbindungen gesellschaftlich reintegrieren und versuchen eine Abkehr von islamistischen Ideologien und Szenezugehörigkeiten zu initiieren. Oft wird in diesem Bereich indirekt gearbeitet, über eine Beratung des sozialen Umfelds von Personen, die sich (mutmaßlich) in einem Radikalisierungsprozess befinden.

Neben den Ungewissheiten und fachlichen Spannungsfeldern, die (sozial-)pädagogischer Arbeit per se eingeschrieben sind, stellen sich in diesem Arbeitsfeld besondere Herausforderungen. Dazu gehört, dass es – vor dem Hintergrund einer Postmigrationsgesellschaft – von Fragen der Zugehörigkeit und Anerkennung hybrider Identitäten gerahmt wird. Hineinspielen polarisierte (teilweise rechtspopulistische) Debatten um die Rolle des Islam in Deutschland sowie die Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus. Problemkategorien und Radikalisierungszuschreibungen sensibel zu verwenden, stellt sich daher für die Fachkräfte als herausfordernd dar. Wenn sie etwa einschätzen sollen, ob es sich in einem Fall um jugendliches Protestverhalten oder erste Anzeichen einer Radikalisierung handelt, können stigmatisierende Zuschreibungen in Folge eines Radikalisierungsverdachts und uneindeutiger Kategorien den Handlungsdruck erhöhen. Fachkräfte sollten daher in der Sozialen Diagnostik hypothesengeleitet vorgehen und ihre Annahmen über mögliche Hinwendungsprozesse kontinuierlich überprüfen (Möller et al. 2019, S. 19ff.). Diese angenommenen biografischen Bedeutungen und Zusammenhänge müssen sowohl im Sinne des Falls als auch im Kontext polarisierter öffentlicher Debatten Bestand haben.

Kennzeichnend für dieses Arbeitsfeld ist zudem die Vagheit der zentralen Problemkategorien. Denn es stellt sich die Frage: Was ist noch legitime Religionspraxis oder Meinungsäußerung in einer pluralistischen Gesellschaft und ab wann wird es problematisch? Sowohl in der Fachpraxis als auch in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen gibt es verschiedene Kategorien für das soziale Problem, z. B. „Islamismus“, „islamistischer Extremismus“, „Salafismus“ oder „gewaltbereiter Dschihadismus“. Diese beschreiben nicht per se die gleichen Gegenstände, sondern es gibt Über- und Unterordnungen, Schnittmengen und Spezifika. Aktuell ist es im Feld gebräuchlich, von „religiös begründetem Extremismus“ zu sprechen. Bei dieser Begriffsverwendung wird die Kritik vieler Musliminnen und Muslime aufgenommen, dass bei den Begriffen Islamismus und Salafismus der Islam als legitime Religion zu wenig abgegrenzt ist. Doch lässt sich das Problem der vagen Problemkategorie damit nicht auflösen. So wird bei religiös begründetem Extremismus beispielsweise das Extremismusmodell in Kauf genommen, das durch seinen Fokus auf die problematischen Ränder vielfach kritisiert wird (Fuhrmann 2019).

Fachkräften der Radikalisierungsprävention begegnet teilweise eine fachliche Kritik, da dem Arbeitsfeld erstens durch die Verhinderungslogik von Prävention eine Defizitorientierung zugeschrieben wird und zweites der Radikalisierungsbegriff an sich umstritten ist. Aus Sicht der politischen Bildung scheinen Angebote der Universalprävention ihrem Feld in der Umsetzung zu ähnlich und es wird kritisiert, dass Fördermittelgeber zu stark präventiven Versprechen folgen würden (Bundeszentrale für politische Bildung 2021). Muslimische Communities wiederum problematisieren häufig, dass Präventionsangebote einem Generalverdacht gegenüber Musliminnen und Muslimen Vorschub leisten und zu wenig sensibel mit bestimmten Problemkategorien umgehen (Ostwaldt 2020, S. 296). Hinzu kommt, dass viele Angebote in diesem Bereich auch Aspekte von Islam- und Muslimfeindlichkeit bzw. antimuslimischem Rassismus bearbeiten, aber unter dem begrifflichen Dach von Radikalisierungsprävention gefördert werden. Wenn also Fachkräfte ihre Präventionsangebote konzeptionalisieren und z. B. unter Kolleg_innen oder bei Kooperationspartner_innen vorstellen, ist nicht sicher, inwieweit diese von außen als angemessen stigmatisierungssensibel wahrgenommen werden.

Sich mit den spezifischen Ungewissheiten dieser Präventions- und Distanzierungsarbeit zu beschäftigen ermöglicht, die Handlungs- und Entscheidungsherausforderungen der Fachkräfte anzuerkennen. Im Folgenden stellen wir in einem ersten Schritt die zentralen Herausforderungen in Bezug auf Ungewissheiten im (sozial-)pädagogischen Handeln in der Präventions- sowie der Distanzierungsarbeit dar. Um vertiefend betrachten zu können, wie Fachkräfte in Präventionsangeboten darüber entscheiden und reflektieren, gegebenenfalls mit muslimischen Trägern zusammenzuarbeiten, werden anschließend Befunde der wissenschaftlichen Begleitung des Handlungsbereichs Land im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ am Deutschen Jugendinstitut herangezogen.Footnote 2

Ergebnisoffenes Präventionshandeln

In der Präventionsarbeit verdichten sich die besonderen Ungewissheiten des Arbeitsfeldes. (Sozial-)pädagogische Angebote, die präventiv mit risikoarmen Adressat_innen arbeiten, wollen unerwünschte gesellschaftliche und individuelle Entwicklungen abwenden. Sie gehen indirekt davon aus, dass diese unerwünschten Entwicklungen prognostizierbar sind und sie diesen entgegenwirken können, indem sie frühzeitig an identifizierbaren Risikofaktoren ansetzen (vgl. Bröckling 2017, S. 96ff.). Präventionsangebote, die islamistische Radikalisierungen verhindern möchten, benötigen demnach fundiertes Wissen über Radikalisierungsprozesse, etwa über mögliche Verläufe und Einflüsse, um davon ausgehend Ansatzpunkte für ihre Interventionen zu bestimmen. Dies ist jedoch dreifach schwierig:

  • Erstens gibt es sehr unterschiedliche Radikalisierungspfade und -faktoren, die dabei berücksichtigt werden müssten (z. B. Glaser et al. 2018). Eine plausible Auswahl bestimmter Phänomenausprägungen, Gründe möglicher Radikalisierungen sowie entsprechender Adressat_innen ist in der Konzipierung und Umsetzung von Präventionsangeboten notwendig, bei teilweise widersprüchlichen Forschungsbefunden jedoch schwer.

  • Zweitens greifen verschiedene Präventionsangebote meist einzelne Faktoren als Ansatzpunkte der eigenen Arbeit heraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit protektiv wirken können, etwa eine ausreichende Ambiguitätstoleranz. So wird z. B. in Fachdebatten diskutiert, ob auch der Islam als gelebte Religionspraxis in Deutschland eine vorbeugende Kraft hat und entsprechend religiös-bildende Angebote von muslimischen Trägern mögliche Radikalisierungsprozesse verhindern können. Bei diesen Fokussierungen besteht immer die Gefahr, die Komplexität des Phänomens sowie von Radikalisierungsprozessen und ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit zu reduzieren und unzulässig zu vereinfachen. Zugleich braucht es jedoch Reduktionen, um handlungsfähig zu sein.

  • Darüber hinaus sind drittens präventive Wirkungsannahmen per se schwer bestimmbar, weil sie ein Versprechen an die Zukunft darstellen. Vorbeugendes Handeln ist stets auf eine potenziell negative Zukunft ausgerichtet und es stellen sich hypothetische, letztlich nicht beantwortbare Fragen, wie beispielsweise: Hätte sich die Person ohne das Angebot tatsächlich radikalisiert? Hat das Angebot dazu beigetragen, dass dies nicht eingetreten ist?

Nutzung von vereinfachenden Instrumenten in der Distanzierungsarbeit

Ein anderer zentraler Tätigkeitsbereich in diesem Arbeitsfeld zielt auf soziale, emotionale oder kognitive Distanzierungen ab. In der Distanzierungsarbeit folgen Einschätzungen und fortlaufende Klassifizierungen der Adressat_innen einer notwendigen Komplexitätsreduktion. Dies geschieht typischerweise mittels Anamnesebögen und Falldokumentationen der Sozialen Diagnostik oder mit Risk-Assessment-Tools. Dabei werden komplexe Lebensgeschichten und -bedingungen vereinfacht, um Problemausprägungen und Hilfebedarfe zu identifizieren. Aber welches Maß an Komplexitätsreduktion ist zulässig und nützlich? Die Möglichkeiten und Grenzen von Risk-Assessment-Tools aus dem sicherheitsbehördlichen Kontext wie VERA-2R und RADAR-iTE werden in der Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus seit mehreren Jahren diskutiert (von Berg 2019). Sie haben vorrangig sicherheitsbezogene Gefährdungslagen im Fokus: Entlang von meist standardisierten Fragen und Antworten soll ein moderates oder starkes Sicherheitsrisiko im Einzelfall bestimmt werden. Auch wenn diese Instrumente vor dem Hintergrund des Auftrags von Sicherheitsbehörden – innere Sicherheit zu wahren – plausibel sind, gibt es Kritik von (sozial-)pädagogischen Trägern und wissenschaftlichen Begleitinstanzen. Problematisch sei, dass in dem standardisierten Verfahren die subjektiven Bedeutungen und Bedeutungsnuancen ungenügend erfasst sind, in die Analyse meist keine Resilienzfaktoren eingehen, die risikomindernd wirken könnten und bei den Anwender_innen wenig Sensibilität für die individuellen Stigmatisierungseffekte von Falsch-Positiv-Aussagen existieren. Aus wissenschaftlicher Sicht ist zudem problematisch, dass die einzelnen Faktoren nicht in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden (ebd., S. 12ff.).

In der Sozialen Diagnostik, wie sie bei einigen zivilgesellschaftlichen Trägern für die Ermittlung von Hilfebedarfen angewendet wird, werden hingegen die Lebensbedingungen und -weisen der Klient_innen breiter erfasst und auf Basis ihres subjektiven Sinns gedeutet. Auch fließen Resilienzfaktoren stärker mit in die Betrachtung ein. Diese Vorgehensweise – so Kurt Möller und andere – sind für die Begleitungsprozesse wertvoll. Sie regt die (sozial-)pädagogischen Fachkräfte immer wieder an, darüber nachzudenken, wie sie den Fall und seinen Verlauf bewerten und wann die Begleitung wieder beendet werden sollte (Möller et al. 2019, S. 18).

Verunsicherungen in der Kooperation mit muslimischen Trägern

In der Präventions- und Distanzierungsarbeit wird mit verschiedenen Partner_innen kooperiert. Dabei arbeiten Fachkräfte zum Teil mit muslimischen Gemeinden zusammen, weil sie als ein „Türöffner“ in muslimische Communities gesehen werden. An dieser Zusammenarbeit gibt es jedoch Kritik. Denn mit muslimischen Gemeinden werde vorrangig dann zusammengearbeitet, wenn es um Präventionsarbeit geht; aber ihre Grundlagenarbeit in der allgemeinen Kinder- und Jugendarbeit werde nicht anerkannt und für sich genommen gefördert. Außerdem würden muslimische Gemeinden v. a. auf ehrenamtlichen Strukturen basieren und könnten auf der Basis kaum gleichrangige Kooperationspartner_innen sein (Ostwaldt 2020, S. 219ff.).

Zusätzlich erschwert die sogenannte Kontaktschuld mögliche Kooperationen: Nach Werner Schiffauer kann ein Vorwurf entstehen, wenn Angebote und Personen mit Organisationen in Verbindung stehen, die z. B. zu den islamistischen Muslimbrüdern Kontakt haben (Schiffauer 2020, S. 2). Muslimbrüder bekennen sich zwar öffentlich zum Grundgesetz, aber ihnen wie auch allen anderen „legalistische Islamist_innen“ wird seitens des Verfassungsschutzes unterstellt, langfristig eine Änderung des gesellschaftlichen und politischen Systems zu verfolgen und damit demokratiegefährdend zu sein. Schuldzuweisungen aufgrund von Kontakten, die als illegitim gelten, werden auch öffentlich artikuliert. So kam es in den letzten Jahren immer wieder zu öffentlichen Anfeindungen gegenüber Präventionsangeboten, die mit solchen (vermeintlich) problematischen Akteur_innen in Kontakt standen oder kooperierten. Aus eigenen Erfahrungen mit oder Sorge vor massiven öffentlichen Anfeindungen, schließen einige Angebote der Präventionsarbeit die Zusammenarbeit zum Beispiel mit islamistischen oder salafistischen Gemeinden grundsätzlich aus – auch wenn nicht alle Akteur_innen in Organisationen, die dem „legalistischen Islamismus“ zugeordnet werden können, per se demokratiefeindlich sind (ebd., S. 5f). Gleichzeitig problematisieren einzelne Träger, dass es fraglich sei, welche Akteur_innen auf welcher Basis angemessen über die Demokratieorientierung von Gemeinden entscheiden könne. So solle in der Sozialen Arbeit nicht nur der Verfassungsschutz als Richtschnur dienen. Ein Träger, der dennoch überlegt, mit einzelnen salafistischen Gemeinden zu kooperieren, ist sich der damit verbundenen Herausforderungen bewusst: „Wir machen uns da natürlich auch sehr schnell in gewisser Weise verletzlich. Wir wollen da nicht blauäugig reingehen“ (Projektträger A 2020, Abs. 20). Um sich abzusichern, hat sich der Träger in diesem Fall mit dem Verfassungsschutz abgestimmt. Ungewiss jedoch bleibt, wie eine solche Kooperation in der Öffentlichkeit aktuell und in Zukunft wahrgenommen wird und ob sich daraus möglicherweise negative Konsequenzen ergeben können. Für einzelne Fachkräfte bleibt es in diesem Kontext also herausforderungsvoll, zwischen sinnvollen Kooperationen und möglichen Anfeindungen abzuwägen.

Fazit

Präventionshandeln ist in besonderem Maße ungewiss, da Fokussierungen in Bezug auf zukünftige Entwicklungen notwendig sind, die gleichzeitig der Komplexität und Dynamik von Radikalisierungsverläufen Rechnung tragen müssen. In der Distanzierungsarbeit stellt sich v. a. die Anforderung, die Komplexität der Biographien in der Einschätzung und Klassifizierung von Adressat_innen adäquat zu reduzieren. Zudem stehen Fachkräfte teilweise vor der Herausforderung, in Kooperationen mit muslimischen Trägern den Nutzen vor dem Hintergrund einer sogenannten Kontaktschuld gegen mögliche negative Konsequenzen abzuwägen. Normativ aufgeladene gesellschaftliche Debatten über die Rolle des Islam, die Auseinandersetzung mit antimuslimischem Rassismus und wirkmächtige, potenziell stigmatisierende – zugleich jedoch uneindeutige – Problemkategorien verschärfen Entscheidungsschwierigkeiten für pädagogische Fachkräfte.

Der praktische Umgang mit Ungewissheiten und Kontingenzen bedeutet jedoch keineswegs, dass professionelles Handeln dadurch beliebig wird. Vielmehr geht es darum, situative Entscheidungen zu treffen, unter Rückgriff auf Erfahrungs- und Theoriewissen und im Bewusstsein für offene Entwicklungsausgänge und notwendige Komplexitätsreduktionen. Professionelles Arbeiten erfordert hier, dass die Umsetzenden im direkten Tun die Ungewissheiten konkretisieren und die Situationen zugleich reflektiert gestalten. Reflexion ist dabei keine rein individuelle Anforderung an Fachkräfte selbst. Organisationsbezogene Reflexionsstrukturen wie z. B. regelmäßige Supervisionsgespräche schaffen wichtige Räume, die dabei unterstützen können, die eigene Handlungssicherheit unter ungewissen Umständen zu erhalten (Helsper 2021, S. 282). Daneben scheint es angesichts der voranschreitenden Professionalisierung des Arbeitsfeldes wichtig, ein Bewusstsein für die feldspezifischen Ungewissheiten und einen sensiblen Umgang, etwa durch eine kategorienreflektierende Perspektive, bereits in der Ausbildung zu verankern. Gerade in diesem Arbeitsfeld ist es unerlässlich, die eigene gesellschaftliche Positioniertheit zu berücksichtigen und kritisch zu hinterfragen, inwiefern das eigene Agieren gesellschaftliche Machtverhältnisse (re-)produziert (Kessl 2021, S. 199ff.).