Die Berücksichtigung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ist – sowohl auf Seiten der Adressat_innen als auch bei Fachkräften – ein essentielles Thema in der Praxis Sozialer Arbeit, aber auch in der Forschung (Höblich 2021). Ein diversitätssensibler Umgang mit geschlechtlichen Selbstpositionierungen und sexuellen Orientierungen ist eine wesentliche Herausforderung für Professionelle in der Sozialen Arbeit, da Menschen jenseits der binären, heteronormativen Gesellschaftsstruktur auch heute teilweise noch massiv abgewertet werden.

Sie sind daher weiterhin potenziell von Diskriminierungen häufiger betroffen, sind im öffentlichen Diskurs tabuisiert und ausgeschlossen oder werden (häufig) als schrille Abweichung von der Norm dargestellt (Mesquita 2008). Im Bereich der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt ist daher relevant, wer wie geschlechtliche und sexuelle Vielfalt über die Definition von Handlungsbedarfen, in Angeboten, Maßnahmen und Settings, Konzepten und deren Ausrichtung, wie auch in der Ausgestaltung von Arbeitsbündnissen, Beziehungsangeboten sichtbar macht und was oder wer unsichtbar bleibt (Höblich 2018).

Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Sozialen Arbeit

Dies ist letztlich auch eine Frage der Identifikation vermeintlicher Bedarfe und Konstruktion von Menschen als Hilfe‑/Unterstützungsbedürftige. Personenbezogene Merkmale werden häufig zur Konstruktion von Adressat_innengruppen genutzt, z. B. als Migrant_innen, Schwule, Lesben, Trans*, Menschen mit Behinderungen etc. Soziale Arbeit ist mit Blick auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Gleichwürdigkeit, des Abbaus von Benachteiligungen und des Empowerments zu einem kritisch-reflexiven Umgang mit Differenz aufgefordert. Hierzu gehört auch die Bearbeitung der hierin liegenden Dilemmata (Höblich 2020). Der GAP-Ansatz (Gay-Affirmative Practice) von Crisp und McCave (2007) formuliert eine solche Anerkennung und Würdigung von Identitäten für geschlechtliche und sexuelle Minderheiten aus. Im Folgenden betrachten wir entlang empirischer Befunde aus verschiedenen ForschungsprojektenFootnote 1, welche Beiträge der GAP-Ansatz zu einer diversitätssensiblen und heteronormativitätskritischen Praxis leistet. Zugleich erfolgt eine kritische Analyse möglicher (nicht-intendierter) Nebenfolgen des Ansatzes, wie z. B. die Überbetonung und Reproduktion des Anderseins sowie die Festschreibung auf einzelne Personenmerkmale.

Affirmative Praxen als professionelle Antwort auf den Umgang mit Diversität!?

Der Ausgangspunkt des GAP-Ansatzes liegt in der bedingungslosen, positiven Akzeptanz und Nicht-Bewertung der jeweiligen Selbstzuschreibung und gesamten Lebenswelt der Adressat_innen, sowie der ständigen Reflexion eigener heteronormativer Vorannahmen durch Professionelle (Crisp und McCave 2007). Ein zweiter Baustein des Modells ist die vollständige Gleichstellung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, was auf Seiten der Fachkräfte ein Mindestmaß an expliziten Wissensbeständen zu der Thematik fordert, sowie als dritten Baustein, eine Sensibilität für spezifische Themen nicht-heterosexueller und nicht cis-geschlechtlicherFootnote 2 Adressat_innen. Crisp und McCave (2007, S. 410) formulieren zusammengefasst sieben Kernbereiche, an denen sich eine GAP praktisch umsetzen lässt:

  1. 1.

    Terminologie, Sprache und Bedeutung (bspw. „top“ und „bottom“ als mögliche Bezeichnung sexueller Präferenzen bei männerliebenden Männern);

  2. 2.

    Demografie, Diversität und Intersektionalität (bspw. Möglichkeiten sexueller und geschlechtlicher Identität(en)),

  3. 3.

    szenespezifisches Wissen (bspw. Bars, HIV und STI Beratungsstellen etc.) und

  4. 4.

    Wissen über das Coming-Out, Symbole (bspw. die Pride-Flagge) sowie deren Bedeutung,

  5. 5.

    gesellschaftliche Rahmenbedingungen (bspw. rechtliche und medizinische Rahmenbedingungen, mediale Darstellung, Einstellungen in der Bevölkerung zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, Ausmaß bestehender Diskriminierung und Antidiskriminierungsregelungen),

  6. 6.

    Community-Ressourcen und

  7. 7.

    Prinzipien der Kultursensibilität (Crisp und McCave 2007, S. 408ff. und Baer und Fischer 2021).

Die Anwendung der Prinzipien führt in der Praxis Sozialer Arbeit dazu, dass Adressat_innen Hilfsleistungen überhaupt erst annehmen können bzw. diese als solche identifizieren und wahrnehmen. In der konkreten Gestaltung des Arbeitsbündnisses zwischen Professionellen und Adressat_innen kann durch eine affirmative Haltung eine tragfähige Arbeitsbeziehung entstehen, da so ein Verständnis für individuelle Bedarfe und Problembereiche möglich wird. So ist HIV beispielsweise ein Thema, das in der Arbeit mit Männern, die Sex mit Männern haben, vermutlich eine andere Relevanz erfährt als im Kontext lesbischer Orientierung und gleichzeitig auch nicht das Lebensthema eines jeden schwulen Mannes darstellt (Baer und Fischer 2021, S. 181). GAP sensibilisiert zudem für eine Aufrechterhaltung und Vermittlung von „safe spaces“ – Räumen, die weitestgehend frei von Diskriminierungen und Abwertungen sind – als auch der Identifikation von Rahmenbedingungen, welche internalisierte Homo- und Transnegativität entstehen lassen. Am Beispiel aus einem Expert_inneninterview kann der GAP-Ansatz nochmals am Prinzip der Sprache verdeutlicht werden:

„Das fängt ja schon an auch bei Pronomen, wenn Menschen sich non-binär, genderqueer wie auch immer verorten, dass ich dann entsprechend eben nicht ein binäres Pronomen aufgrund des äußeren Erscheinungsbilds verwende, sondern eben offen auf die Person zugehe, sie einlade und auch frage: ‚Wie möchtest du wahrgenommen und angesprochen werden?‘ (BE3, Absatz 33)“

Trotz aller Anerkennung und Gleichbehandlung gilt es jedoch, individuelle Perspektiven und Lebensthemen der Adressat_innen einzeln zu betrachten und nicht zu pauschalisieren, da die Bedarfslage(n) so variabel ist/sind, wie die Personen selbst. Affirmative Praxis bildet somit eher eine Grundhaltung in der Arbeit mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, welche den Fokus auf diese Thematik lenkt, ist jedoch kein Patentrezept. Im Kontrast zu anderen anerkennungsbasierten Ansätze Sozialer Arbeit liegt der Fokus im GAP-Modell auf einer expliziten positiven Sichtbarmachung und Berücksichtigung sexueller Orientierung und geschlechtlicher Vielfalt, um der gesellschaftlichen Tabuisierung auch politisch entgegen zu treten. Es gilt, die Adressat_innen so zu behandeln wie alle Adressat_innen, ihre Lebensgeschichte individuell zu würdigen und zu beachten, aber gleichzeitig die individuellen Bedarfe und Lebensthemen sexuell und geschlechtlich vielfältiger Menschen zu berücksichtigen, dass sie Gehör finden (Baer und Fischer 2021, S. 182). Folgend wird dieser Spagat näher beleuchtet.

Chancen und Herausforderungen der Umsetzung affirmativer Praxen aus Sicht der Fachkräfte und Adressat_innen

Bei der Umsetzung des GAP-Ansatzes in die Praxis ergeben sich unterschiedliche Chancen und Herausforderungen. So zielt der Ansatz auf eine gleichwertige Relevanz unterschiedlicher geschlechtlicher Selbstpositionierungen und unterschiedlicher sexueller Orientierungen ab. Ein jugendlicher Teilnehmer einer Gruppendiskussion in einem partizipativen Projekt zur Beteiligung von Kindern im Kinderschutz bringt die positiven Effekte einer affirmativen Praxis für die Identitätsentwicklung auf den Punkt:

P2(m): (…). Und ich kenn genug Leute, die haben erst hier, die sind erst auf ihre Identität gekommen, nachdem sie hier waren (bezieht sich auf ein LSBTIQ-Zentrum) […] weil man hier, ehm in nem neutralen Tonfall gesagt bekommt was, was gibt es alles, auch wenn diese Label, Labels helfen, immer bei unsicheren Leuten, eigentlich braucht man keine Labels (LSBT*Q I Zeile 3075–3082)

Der Ausschnitt (Höblich 2020, S. 125–126) verdeutlicht die positive Wirkung der im GAP-Modell geforderten Safe Spaces und einer affirmativen Beziehungsarbeit als gleichwürdige Darstellung unterschiedlicher sexueller und geschlechtlicher Identitäten. In dem Zitat werden auch die positiven Effekte von LSBT*Q-Einrichtungen als Sozialisationsorte deutlich, die Entlastung von und Unterstützung beim Umgang mit gesellschaftlicher Diskriminierung (Meyer 2003) über eine positive Selbstidentifikation bieten. Der Ansatz erfordert handlungspraktisch entsprechend, die sexuelle Orientierung einer Person zu erfragen und diese nicht zuzuschreiben. Ein solches „Programm der Normalisierung von Differenz“ (Kessl und Plößer 2010, S. 9) birgt jedoch die Gefahr einer „entpolitisierenden Egalisierung“ (Mecheril und Vorrink 2012, S. 95), die die bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen vernachlässigt (Höblich 2020). Auf der Ebene des professionellen Wissens erfordert der Ansatz von Fachkräften, sich Kenntnisse zu Formen, Ausmaß und Auswirkungen (noch) bestehender Unterdrückung und Diskriminierung geschlechtlicher und sexueller Minderheiten sowie relevanten wohlfahrtsstaatlichen Politiken (Gesetzen, Programmen, Antidiskriminierungsrichtlinien etc.) anzueignen (Crisp und McCave 2007, S. 410). Zudem fordert er Fachkräfte auf, die bestehenden Ungleichheiten und Diskriminierungen geschlechtlicher und sexueller Minderheiten über gezielte Angebote, Sensibilisierung und Muliplikationsarbeit entgegen zu treten (Crisp und McCave 2007, S. 410f. u. 413). Letzteres birgt jedoch die Gefahr, vermeintlich klare Identitäten vorzugeben bzw. diese zu reproduzieren. An einem zweiten Zitat des Teilnehmers zeigen sich die „notwendigen Grenzen der Identitätspolitik“, wie es Butler formuliert (Butler [1990] 1991, S. 20):

P2(m): (…) Ja ich hab auch teilweise das Gefühl, dass die Existent, dass die Existenz ein politisches (.) Problem ist. Teilweise ehhm, teilweise gibt es, gibt es, also Beispiel jetzt Transperson. Die hat sich mal wirklich richtig aufgeregt und geschrien. Meine Existenz, also mein Dasein ist kein politisches Statement. Ich bin nicht da und ich bin nicht hier, und sind, bin ein Symbolbild für eine offene Gesellschaft (…) sondern ich bin einfach da (…) und bitte seid still und lasst mich in Ruhe. Es ist so teilweise, wenn sich dann Leute freuen, ohh ja wir haben eine Transperson, wir sind so divers, aber das genau des, das ist die falsche Toleranz (LSBT*Q I Zeile 3298–3307)

Der vom Teilnehmer geschilderte Sachverhalt verdeutlicht die Nebeneffekte affirmativer Praxis, die Identitäten auf Basis einzelner Personenmerkmale, hier geschlechtliche Selbstpositionierung, vornimmt und dabei andere Merkmale der Person ausblendet. Intersektionale Verschränkungen mit anderen Benachteiligungen oder Privilegierungen geraten dann ebenso aus dem Blick, wie auch eine Kontinuität und Kohärenz nach einem erfolgten Coming-Out für zumindest eine längere Lebenspanne unterstellt werden, die empirisch so nicht belegt werden können. Das GAP-Modell weist explizit auf diese Problematik hin und fordert von Fachkräften entsprechend, an den für die Nutzer_innen jeweils relevanten Bedarfe anzusetzen und nicht notwendigerweise die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Selbstpositionierung per se zum Gegenstand zu machen. Im Gegenteil könne dies die Entwicklung der eigenen Individualität untergraben und Personen entgegen besserer Absichten erneut stigmatisieren und als „Andere“ konstruieren, wie folgendes Zitat verdeutlicht: „A practitioner who focuses on youths’ sexual orientation as the cause of the youth’s stated concerns may provide treatment that is inappropriate and a poor fit for the issue at hand and miss a key opportunity to support and affirm GLB youth and their struggles. They may also further oppress and stigmatize youth who are working to develop positive identities as GLB individuals.“ (Crisp und McCave 2007, S. 415).

Wird in dieser Art und Weise die sexuelle Orientierung in der Fallbearbeitung überbetont, sind Angebote nicht nur weniger bedarfsgerecht – da sie an den für die jungen Menschen relevanten Themen und dem Hilfebedarf vorbeigehen – sondern können über ein solches Othering die Entwicklung einer positiven Identität in Bezug auf eine nicht-heterosexuelle Orientierung verhindern. Dies wird auch innerhalb eines Interviews mit einem schwulen ehemaligen Adressaten Sozialer Arbeit verdeutlicht, denn nicht nur die Fokussierung auf die sexuelle Orientierung, sondern auf Sexualität allgemein ist etwas, was nicht zwangsläufig innerhalb einer Arbeitsbeziehung thematisiert werden muss.

Wichtig wäre, dass man Allererstes auf diese Person eingeht und mit dieser Person versucht, zu reden. […] Also, herauszufinden, ob diese Person überhaupt ein Problem mit ihrer Sexualität hat, ob sie das irgendwie zurückzieht […]. Ich finde, man sollte einfach auf die Person eingehen und schauen: Ja, hat sie denn Probleme mit der Sexualität oder Sonstiges? (BA1, Absatz 49).

Fazit

Affirmative Praxen verdeutlichen das konstitutive Dilemma Sozialer Arbeit hinsichtlich, Personengruppen mit ihren Bedarfen als Adressat_innen oder Nutzer_innen zu benennen, um bedarfsgerechtere Angebote bereit zu stellen, ohne diese zugleich als „Andere“ zu reproduzieren und zu stigmatisieren. Kernmoment in der Anwendung des GAP-Ansatzes bleibt die reflexive Haltung der Fachkräfte Sozialer Arbeit. Auf der einen Seite ist es von besonderer Bedeutung, die eigene Haltung zur sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt zu hinterfragen und zu thematisieren. Es gilt aber auch, eigene Wissenslücken zu identifizieren und ggf. im Sinne der Netzwerk- und Verweisungskompetenz zu agieren und reflexiv neue Wissensbestände aufzubauen. Zusammenfassend formulierte eine Expertin im Rahmen eines Interviews hinsichtlich der affirmativen Kompetenzmomente folgendes:

„[Es braucht]die Kompetenzen, die es immer braucht, die Bereitschaft, sich in den anderen einzufühlen, den anderen zu verstehen, dem anderen auch Anregung zu geben, Ressourcen zu stärken, Hilfe zur Selbsthilfe, also eigentlich nichts Besonderes, und andererseits etwas ganz Besonderes, nämlich im Sinne tatsächlich die besondere Situation zu verstehen, nachvollziehen zu können, und nicht dadurch, dass es mir die Klientin erklärt oder der Klient, sondern dadurch, dass ich mich vorher schon damit beschäftigt habe und eine eigene Idee habe. […] Es braucht immer, zu sehen: Es ist ein Mensch mit allen Punkten, die alle Menschen betreffen, und er hat eben diese besondere Seite“ (BE4, Absatz 25).