Im Kinderschutz werden zunehmend Instrumente zur Risikoeinschätzung verwendet. Sozialarbeiter_innen der Jugendämter werden dabei in komplexe Aushandlungsprozesse verstrickt, die sie eigensinnig gestalten: Sie „arbeiten sich durch“, „setzen Häkchen“, „ignorieren“ oder „redigieren“ die Instrumente. Wie kann professionelles Handeln im Umgang mit „Kinderschutzbögen“ gedacht werden und was bedeutet dies für die Digitalisierung von Fallarbeit?

Im Kinderschutz wurden in den letzten Jahren zunehmend Risikoeinschätzungsinstrumente zur Anwendung gebracht, um Einschätzungsprozesse bei (vermuteten) Kindeswohlgefährdungen zu verbessern. Ein zentrales Argument lautet, Einschätzungs- und Entscheidungsprozesse könnten auf diese Weise durch wissenschaftliche Erkenntnis abgesichert werden (Strobel et al. 2008; Bastian 2012). Sozialarbeiter_innen und andere Fachkräfte hoffen häufig selbst darauf, die (eigene) Fallarbeit mit dem Einsatz von „Kinderschutzbögen“ absichern zu können (Ackermann 2017, S. 216 f., vgl. auch der Beitrag von Emma Schroth in diesem Schwerpunkt). Einmal eingeführt, werden Risikoeinschätzungsbögen zum Bestandteil organisationaler Entscheidungsarchitekturen (Büchner 2017) und soziotechnischer Arrangements (Bastian 2019).

Kinderschutzbögen und die mit ihrer Anwendung verbundenen Verfahren bilden Prozesse der Entscheidung über das Kindeswohl aber nicht ab; sie können Entscheidungen von Sozialarbeiter_innen auch nicht direkt steuern, geschweige denn ersetzen (Ackermann 2017, 2020b). Risikoeinschätzungsinstrumente bringen vielmehr eigene Handlungslogiken in Entscheidungsprozesse ein, mit denen die Fachkräfte umgehen müssen. In Untersuchungen, die in konkreten Verwendungskontexten ansetzen und Arbeitsabläufe analysieren, wird deutlich, dass Risikoeinschätzungsinstrumente häufig nicht im Sinne ihrer Designer_innen genutzt, sondern nach Maßgaben eigener Präferenzen, eigensinnig verwendet werden (Ackermann 2017; Bastian 2017; auch Dahmen in diesem Schwerpunkt). Risikoeinschätzungsinstrumente werden Teil von komplexen Prozessen Sozialer Arbeit und müssen „auch noch“ getan werden (Gillingham 2019, S. 104 f.).

Weitere Dynamik gewinnt die Entwicklung von Instrumenten zur Risikoeinschätzung angesichts neuerer technischer Möglichkeiten, die gemeinhin als „Big Data“ apostrophiert werden. Durch das Erschließen weiterer Datenmengen und den Einsatz selbstlernender Algorithmen werden neue Dimensionen aktuarialer, rechnerischer Risikobewertungen eröffnet. Gerade im englischsprachigen Raum wurden bereits Entscheidungsunterstützungssysteme entwickelt, die auf selbstlernenden Algorithmen basieren. Die Erprobung solcher Systeme zur Unterstützung professioneller Entscheidungen hat jedoch gezeigt: Es bestehen multiple ethische, rechtliche und praktische Probleme (Gillingham/Ackermann 2020; Ackermann 2020a).

Doch auch hierzulande wird – mit kritischer Haltung einerseits und großen Erwartungen andererseits – das „Potenzial“ von „Big Data“ für die Soziale Arbeit herausgestellt (Kloos 2020, S. 295 f.; Sozial Extra im Oktober 2020). Die Realisierung prototypischer, auf Algorithmen basierender Entscheidungsunterstützungssysteme – die die Expertise von Sozialarbeiter_innen ergänzen sollen – wird erprobt (vgl. Schneider und Seelmeyer 2019; Thomsen 2020). Während die Entwicklung von Big-Data-gestützten Systemen international, aber besonders national noch in den Kinderschuhen steckt, ist die Digitalisierung von Dokumentationssystemen in bundesdeutschen Jugendämtern bereits seit Längerem vorangeschritten (Ley 2010).

Im wissenschaftlichen Diskurs wurde immer wieder kritisch gefragt, ob der Einsatz von Risikoeinschätzungsinstrumenten möglicherweise professionelle Handlungsspielräume von Sozialarbeiter_innen einschränke und Prozesse der Professionalisierung Sozialer Arbeit gefährde (Bastian 2017; Biesel 2011; Gillingham 2011). Vor dem Hintergrund dieser „Deprofessionalisierungsthese“ (Bastian 2017) wird im Folgenden genauer untersucht, wie Sozialarbeiter_innen die Aushandlungsprozesse mit Instrumenten zur Risikoeinschätzung konkret gestalten und was dies mit Professionalität zu tun hat. Die nachstehenden Analysen basieren auf einer ethnografischen Feldforschung, die in bundesdeutschen Jugendämtern durchgeführt wurde (Ackermann 2017). Datengrundlage sind Auszüge aus Risikoeinschätzungs- bzw. „Kinderschutzbögen“, die in den beforschten Ämtern verwendet wurden.

Aushandlungsprozesse mit Risikoeinschätzungsinstrumenten und professionelles Handeln

Entlang einer ethnomethodologisch inspirierten Perspektive wird im Folgenden von der Annahme ausgegangen, dass Professionalität im Alltag immer wieder neu von den Handelnden hervorgebracht und reproduziert wird (vgl. Garfinkel [1967] 2008; Ackermann 2017). Gefragt wird, wie Sozialarbeiter_innen genau mit Dokumenten zur Risikoeinschätzung umgehen: Wie verhalten sie sich im Umgang mit den Instrumenten? Welche Form von professionellem Handeln bringen sie hervor?

In der genaueren Untersuchung der Dokumentationsarbeit von Sozialarbeiter_innen lassen sich Strategien – zugleich Interaktionsstile – unterscheiden, mit denen Sozialarbeiter_innen auf Handlungsanforderungen reagieren. Sie setzen sich auf spezifische Weise in ein Verhältnis zum Dokument und positionieren sich dabei zugleich als professionell Handelnde. Vier Strategien im Umgang mit „Kinderschutzbögen“ werden vorgestellt und mit Blick auf ihre Implikationen für professionelles Handeln befragt:

  • „Durcharbeiten“,

  • „Häkchen setzen“,

  • „Ignorieren“ und

  • „Redigieren“.

In der Praxis der Dokumentation überlagern sich diese Strategien oder kommen sogar abwechselnd in einem Dokument zum Einsatz. Hier werden sie nebeneinandergestellt, um sie besser einer Analyse zuführen zu können.

„Durcharbeiten“: diskursive, aber zugleich etwas „einseitige“ Dokumentationsarbeit

Während ethnografischer Feldaufenthalte und in der späteren Analyse von Dokumenten konnte immer wieder beobachtet werden, wie Sozialarbeiter_innen der Jugendämter sich intensiv mit Kinderschutzbögen und anderen Instrumenten zur Risikoeinschätzung auseinandersetzten (Ackermann 2017, S. 213 ff., S. 228 ff.). Sie nahmen z. B. eine Akte zur Hand, setzten sich an einen Schreibtisch, der eigens für Schreibarbeiten vorgehalten wurde, und begannen, die Dokumente auszufüllen. Instrumente zur Risikoeinschätzung umfassen häufig mehrere Seiten sowie zahlreiche Felder zum Ausfüllen.Footnote 1 Das Dokument verfolgt insofern einen umfassenden Anspruch (Brückner/Wolff 2015, S. 353), nämlich, den Fall und mögliche Gefährdungen für das Kindeswohl „synoptisch [zu] erfassen“ (Latour 2002, S. 66).Footnote 2 Für die zeitaufwändigen Versuche der bearbeitenden Personen, den inskribierten Handlungsaufforderungen des Dokuments umfänglich nachzukommen, spreche ich von „Durcharbeiten“.Footnote 3

Im Rahmen des „Durcharbeitens“ folgen Sozialarbeiter_innen den impliziten Handlungsaufforderungen des Instrumentes Zeile für Zeile. Diese Form der Dokumentationsarbeit erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit den Kategorien des Kinderschutzbogens. Wie die Untersuchung der handschriftlichen Eintragungen im Dokument zeigt, bemühen sich die Sozialarbeiter_innen in diesen Fällen, alle geforderten Angaben zu machen und antworten gewissermaßen auf die Fragen und Kategorien, die durch den Kinderschutzbogen transportiert werden. Dabei wird der bearbeitenden Person abverlangt, in voraussetzungsreicher interpretativer Arbeit, ihr Wissen über den Fall in die Kategorien des Instruments zu transformieren (Latour 2002, S. 72 ff). Komplex wird das „Durcharbeiten“ zudem dadurch, dass alle Eintragungen dauerhaft abrufbar bleiben. Wie das Dokument bearbeitet und der Fall eingeschätzt wurde, dies kann von anderen Leser_innen zu anderen Zeiten und von anderen Orten aus anders beurteilt werden: Eine Eintragung, die die Fallarbeit heute gut begründet, z. B. die Entscheidung für oder gegen eine Familienhilfe, kann zu einem künftigen Zeitpunkt ganz anders beurteilt werden.

Weitere Komplexität gewinnt die Dokumentationsarbeit durch die Einbindung eines Dokuments in eine Sequenz von Dokumenten. Nicht nur verlangt das Dokument Stimmigkeit in sich, auch innerhalb der Fallakte gibt es Gestaltschließungszwänge. Eintragungen aus vorherigen Situationen oder Berichte von anderen Akteur_innen sind bei der Bearbeitung des aktuellen Dokuments zu berücksichtigen. Die Fallakte erzeugt auf diese Weise eigene Legitimationszwänge und eigene Realitäten (Wolff 2004), die sich von der Realität des Falls entfernen können. Die Arbeit am Dokument ist für die Sozialarbeiter_innen zweischneidig: Einerseits können sie eine intensive Auseinandersetzung mit dem Fall führen, Schritte der Fallarbeit dokumentieren und begründen. Andererseits können ihre Eintragungen Anlass zu späteren Nachfragen geben.

Das „Durcharbeiten“ des Dokuments demonstriert Bereitschaft, sich als Sozialarbeiter_in, als professionell Handelnde_r, mit den Vorgaben des Instruments zu befassen. Einerseits ließe sich dies als Unterordnung gegenüber dem Handlungsprogramm des Dokuments verstehen: Die bearbeitende Person lässt sich, zumindest partiell, in ihrer professionellen Handlungsautonomie beschneiden und stellt eigene Selektionen zugunsten des Dokuments zurück. Andererseits lässt sich argumentieren, dass das „Durcharbeiten“ von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Fall zeugt. Es könnte als Ausdruck reflexiver und diskursiver Professionalität gelesen werden: Die Sozialarbeiter_in ist bereit, sich auf intensive „Diskussionen“ mit dem Dokument einzulassen. Die bearbeitende Person befasst sich mit fremder Komplexität, den Kategorien des Dokumentes, die nicht unbedingt ihre eigenen sein müssen. Eigene Schwerpunktsetzungen bleiben dennoch möglich. Schriftliche Eintragungen können so oder so vorgenommen werden; sie setzen Interpretationen seitens dem/der Sozialarbeiter_in voraus und können gemäß situativen Einschätzungen erfolgen.

Letztlich bleiben die Aushandlungsprozesse in der Strategie des Durcharbeitens aber etwas einseitig: Das Dokument gibt die Kategorien vor und verlangt Antworten, die Sozialarbeiter_in reagiert mit entsprechenden schriftlichen Eintragungen. Dies gilt für den jeweils aktuell bearbeiteten Fall und auch in vielen weiteren Fällen. Mit der Strategie des Durcharbeitens werden die Kategorien und Handlungsprogramme des Risikoeinschätzungsbogens somit zur Anwendung gebracht und bleiben zugleich, zumindest auf der Ebene des Dokuments, weitgehend unhinterfragt. Dies unterscheidet das Durcharbeiten auch von den Strategien im Umgang mit Risikoeinschätzungsinstrumenten, die hier im Weiteren untersucht werden.

„Häkchen setzen“ und „Ignorieren“: professionelle Autonomie behaupten und Schwerpunkte in der Fallarbeit setzen

Ein zweiter Interaktionsstil wird hier als „Häkchen setzen“ bezeichnet. Es geht dabei um eine Handlungsweise, im Zuge derer Sozialarbeiter_innen den Anforderungen des Instruments einerseits weitgehend Genüge tun, sich dessen Handlungsskript andererseits entziehen. Häufig verlangen Risikoeinschätzungsinstrumente, dass neben offenen Feldern Eintragungen in Form des Setzens eines Hakens oder eines numerischen Wertes vorgenommen werden. Es wird z. B. gefragt, ob ein „hohes“ oder „geringes Gefährdungsrisiko“ vorliegt und ob „sofort“, „zügig“, „umgehend“ oder „später“ „Handlungsbedarf“ besteht (vgl. Ackermann 2017, S. 230). Oder es wird verlangt, bestimmte Kategorien, z. B. die „Angemessenheit der Wahrnehmung kindlicher Bedürfnisse“ durch die elterlichen Bezugspersonen, auf einer numerischen Skala von −2 bis +2 zu bewerten (Ackermann 2017, S. 232 ff.). Die Sozialarbeiter_innen sehen sich aufgefordert, ihre Einschätzung mit einem entsprechenden Kreuz oder einer numerischen Eintragung zu dokumentieren.

Mit der Vorgehensweise, die hier als „Häkchen setzen“ bezeichnet wird, markieren die Sozialarbeiter_innen, dass sie grundsätzlich bereit sind, den Handlungsaufforderungen des Instruments (mithin den organisational vorgesehen Entscheidungsstrukturen) zu entsprechen. Die bearbeitenden Personen setzen an den vorgegebenen Stellen ihren Haken oder tragen numerische Werte ein (z. B. +1 oder −1). Die zur Erläuterung vorgesehen Textfelder werden jedoch leer gelassen.Footnote 4 Ein breiter Einsatz von Aufmerksamkeitsressourcen, wie es beim Durcharbeiten der Fall ist, wird vermieden. Gleichzeitig wird von den bearbeitenden Personen demonstriert – und für potenzielle Leser_innen deutlich gemacht –, dass das Dokument zumindest grundsätzlich wahrgenommen und bearbeitet wurde. Wie es zur dokumentierten Einschätzung kam, bleibt für die Lesenden in der Lektüre des Dokuments im Unklaren. Der Interaktionsstil ähnelt einem „Dienst nach Vorschrift“ bzw. der Form „brauchbarer Illegalität“ (Luhmann 1964, S. 304 ff.). Die bearbeitenden Personen lassen sich von dem Dokument nur in begrenztem Umfang sagen, was zu tun ist, verweigern gewissermaßen ausführliche Auskünfte, kommen den Handlungsaufforderungen jedoch weitgehend nach. Eine intensivere Bearbeitung des Instruments wird jedoch vermieden. Die Sozialarbeiter_innen markieren insofern eine gewisse Distanz gegenüber organisationalen, in das Instrument inskribierten Handlungsanforderungen, behaupten professionelle Autonomie gegenüber dem Instrument.

Noch weitergehend als das „Häkchen setzen“ umgeht die dritte Handlungsweise, hier als „Ignorieren“ bezeichnet, die Handlungsaufforderungen des Risikoeinschätzungsinstruments. Von Ignorieren spreche ich, wenn von den zuständigen Sozialarbeiter_innen einige Passagen eines Dokuments ausgefüllt werden, andere Abschnitte jedoch gänzlich unbearbeitet bleiben und „ignoriert“ werden. Der/die bearbeitende Sozialarbeiter_in macht z. B. Angaben zu den Rahmendaten einer Meldung, die Passagen zur Einschätzung der Familiensituation oder der Abschnitt zu den hieraus resultierenden Gefährdungen werden jedoch nicht ausgefüllt. Auch das temporäre oder gänzliche Ignorieren eines Instruments im Sinne einer Verweigerung der Nutzung kann als Form des Ignorierens gelesen werden.

Wenn Sozialarbeiter_innen Risikoeinschätzungsinstrumente ignorieren oder nur Häkchen setzen, so geschieht dies im Kontext sinnhaft begründeten und organisational situierten Handelns. Sicherlich kann die Missachtung des Dokuments auch als Weigerung gelesen werden, sich intensiv mit der Diagnose von Kindeswohlgefährdungen zu befassen. Gleichzeitig wäre aber wichtig zu beachten, dass die Verwendung von Akten und anderer Dokumente, auch „schlechte“ Aktenführung, immer in ihrem organisationalen Kontext zu sehen ist (Garfinkel [1967] 2008): In der Bearbeitung von Fällen müssen die Sachbearbeiter_innen Prioritäten setzen, zwischen „aktiven“ und „passiven“ Fällen unterscheiden (Emerson 1983) und zwischen Dokumentations- und Interaktionsarbeit priorisieren (Ackermann 2012). Während einer meiner Feldbesuche konnte ich beispielsweise beobachten, wie Sozialarbeiter_innen am Ende einer Dienstwoche einen ganzen Stapel von Risikoeinschätzungsinstrumenten ausfüllten, was eigentlich vor den Hausbesuchen hätte ausgeführt werden sollen, die während der Woche erfolgt waren. Die Erklärung der Sozialarbeiter_innen war, dass sie hierzu im Handlungsvollzug eines Krisendiensts einfach keine Zeit gehabt hätten.

Das „Häkchen setzen“ und das „Ignorieren“ von Risikoeinschätzungsbögen markieren professionelle Autonomie gegenüber dem Dokument, dem vorgeschriebenen Verfahren und der Organisation. Die Sozialarbeiter_innen setzen andere Prioritäten, als Dokument und organisationales Verfahren nahelegen. Eine solche distanzierte Nutzungsweise könnte zudem als Ausdruck professioneller Handlungsweisen verstanden werden, die Hilfeorientierung und Beziehungsgestaltung höher bewerten als kontrollierende Aspekte und Dokumentationsarbeit. Das Dokument wird als weniger wichtig behandelt. Aufmerksamkeit, die nicht in die Dokumentationsarbeit fließt, kann für interaktive Tätigkeiten genutzt werden. Die Handelnden nehmen dabei allerdings in Kauf, gemessen an den organisationalen Erwartungen, die Dokumentationslage zu einem Fall zu „vernachlässigen“.

Redigieren: Risikoeinschätzungsinstrumente umschreiben und eigene Einschätzungen relevant machen

Eine weitere Strategie soll hier kurz umrissen und als „Redigieren“ bezeichnet werden. Wiederkehrend konnte ich während der Feldforschung und in der Analyse von Dokumenten feststellen, wie Sozialarbeiter_innen Kinderschutzbögen umschrieben oder eben „redigierten“. Die Sozialarbeiter_innen beginnen im Fall des Redigierens zwar eine intensive Aushandlungen mit dem Dokument, weigern sich allerdings gleichzeitig, den Handlungsanforderungen durchweg zu folgen, mehr noch: Sie überschreiben die Vorgaben des Instruments, fügen z. B. eigene Kategorien hinzu. In Kinderschutzbögen werden die Sozialarbeiter_innen z. B. gefragt, ob eine „Gefährdungslage“ vorliege oder nicht. Den bearbeitenden Personen wird mit der Option „ja“ und „nein“ eine binäre Kodierung vorgegeben (Ackermann 2020b, S. 30). Eine Sozialarbeiterin weist dies bspw. zurück und überschreibt die vorgegebenen Antwortfelder mit einem handschriftlichen Eintrag: Sie notiert: „Es bestehen Zweifel“ und begründet dies ebenfalls handschriftlich. An einer anderen Stelle wird etwas pauschalisierend nach dem „Versagen“ der Kindeseltern gefragt. Die Sozialarbeiter setzt ihr Kreuz und markiert, dass hier aus ihrer Sicht in der Tat problematische elterliche Verhaltensweisen beobachtet wurden. Neben dem Kreuz notiert sie zugleich („Kdm.“) und verweist damit darauf, dass das hier gesetzte Kreuz nur die Kindesmutter meint, die Angabe aber nicht für den Vater gilt. Mit der handschriftlichen Eintragung präzisiert sie die Einschätzung, weist auf eine ungenaue Vorgabe des Risikoeinschätzungsbogens hin und verwehrt sich gegen eine aus ihrer Sicht unzulässige Verallgemeinerung der Einschätzung für beide Elternteile.

Durch solche und ähnliche Versuche der Präzisierung, letztlich aber auch des Redigierens des Kinderschutzbogens machen Sozialarbeiter_innen eigene Einschätzungen relevant. Wenn eine Sozialarbeiterin auf die Frage, ob eine Vernachlässigung vorliegt oder nicht, mit der handschriftlichen Eintragung „Verdacht auf Vernachlässigung“ antwortet und diese quer zu den Kategorien des Dokumentes vermerkt, so spiegelt dies die Ambivalenz, die für das Handlungsfeld typisch ist, zurück in die Arbeit mit dem Dokument. Sie bringt Komplexität in die Aushandlung mit dem Instrument ein, die im Design des Bogens abgeschnitten wurde. Kindeswohlgefährdungen sind nicht immer eindeutig zu bestimmen, so die Botschaft des Eintrags, auch, wenn das Dokument dies verlangt (vgl. Ackermann 2020b). Der Kinderschutzbogen versucht, Eindeutigkeit herzustellen, mit dem Eintrag macht die Sozialarbeiterin die Ambivalenz für die weitere Fallarbeit wieder verfügbar.

Sozialarbeiter_innen bringen insofern mit dem Redigieren noch stärker als beim „Ignorieren“ oder „Häkchen setzen“ Reflexivität und Autonomie in ihrem professionellen Handeln zum Ausdruck. Das Dokument wird als Diskussionspartner ernst genommen, das eigene Wissen aber nicht dem Wissen des Instruments untergeordnet, sondern reflexiv entgegengesetzt. Mit überschreibenden Anmerkungen leisten Sozialarbeiter_innen Widerstand gegen die Kategorien sowie gegen die inhaltlichen und zeitbezogenen, inskribierten Handlungsaufforderungen des Instruments. Sie weisen Versuche zurück, über den Einsatz von Technik und Standardisierung Einfluss auf ihre professionelle Entscheidungspraxis zu nehmen. Mit dem „Redigieren“ wird das Dokument als relevant und zugleich als fehlbar markiert.

Risikoeinschätzungsinstrumente und Digitalisierung als Gefahr für autonomes und professionelles Handeln

Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Verwendung von Risikoeinschätzungsinstrumenten keinesfalls dazu führen kann, Einschätzungen von Sozialarbeiter_innen zu ersetzen. Die Instrumente fordern die bearbeitenden Personen vielmehr zu komplexen Interaktionen und Interpretationsleistungen heraus (vgl. Ackermann 2020b). Risikoeinschätzungsinstrumente transportieren eigene, inskribierte Begrifflichkeiten und Handlungsprogramme. Der Einsatz solcher Dokumente muss allerdings in bereits komplexen Handlungszusammenhängen. Es kommt zu vernetzten Urteils- und Entscheidungsprozessen (Bastian 2019). Risikoeinschätzungsinstrumente werden Teil der organisationalen Entscheidungs-Infrastruktur (Büchner 2018); sie machen eine komplexe Sache noch komplexer (Gillingham 2019, S. 104 f.).

Was ergibt sich nun für die Frage nach dem professionellen Handeln? Mit Abbott (1988) wird Professionalität als Dreischritt aus Diagnose, Inferenz und Maßnahme gefasst. Risikoeinschätzungsbögen betreffen zunächst das Feld der Problembestimmung, der Diagnose. Es handelt sich um einen Aspekt professionellen Handelns, der gemäß Abbott (1988) ebenso wie die Ausführung der gewählten Anschlusshandlung (oder Hilfe) delegiert werden kann. Aber auch der Kern der professionellen Tätigkeit, das Inferieren, also die Schlussfolgerung, welche Maßnahmen angesichts der erstellten Diagnose zu ergreifen sind, wird von den Risikoeinschätzungsinstrumenten berührt. Die entsprechenden Maßnahmen werden zwar nicht vorgegeben. Zugleich ergeben sich aber aus der Interpretation des Falls in Interaktion mit dem Risikoeinschätzungsbogen Implikationen für die Inferenz und die zu ergreifenden Maßnahmen. Die entsprechenden Dokumente sehen Fragen nach den vorgesehenen Maßnahmen und Handlungskonzepten vor, die in Relation zu den zuvor gemachten diagnostischen Angaben beantwortet werden müssen. Mit der organisationalen Verankerung können Risikoeinschätzungsinstrumente in der Tat in professionelle Entscheidungsprozesse vordringen und sich mit dem Handeln von Sozialarbeiter_innen in einer netzwerkartigen Struktur verbinden.

Werden die beobachteten Strategien im Umgang mit Risikoeinschätzungsinstrumenten mit dem Begriff der Professionalität verbunden – verstanden als situatives Handeln angesichts von komplexen und widersprüchlichen Handlungsanforderungen (Thole und Polutta 2011) –, so ergeben sich folgende, weitere Überlegungen. Das „Durcharbeiten“ bringt einerseits eine sich unterordnende Positionierung der Sozialarbeiter_innen gegenüber dem Instrument zum Ausdruck: Die Handelnden folgen den inskribierten Kategorien und Handlungsprogrammen des Kinderschutzbogens; sie investieren Aufmerksamkeit und Zeit in die Bearbeitung. Andererseits spiegelt sich im „Durcharbeiten“ die Bereitschaft wider, die Diagnose, verstanden als einen Kernaspekt professionellen Handelns, ernst zu nehmen und sich dafür auf einen intensiven Austausch mit dem Instrument einzulassen. Das Setzen von Häkchen und das Ignorieren ähneln einem Dienst nach Vorschrift: Den Handlungsanforderungen wird zumindest weitgehend genüge getan, ohne allerdings zu viel Aufmerksamkeitsressourcen zu investieren. Die Anforderungen des Dokuments partiell zurückzuweisen oder gar zu „ignorieren“, demonstriert in diesem Kontext professionelle Autonomie sowie eine Priorisierung interaktiver Tätigkeiten. Das „Redigieren“ des Instruments verbindet professionelle Autonomie mit einem reflexiven Anspruch: Der Logik des Risikoeinschätzungsbogens werden eigene Kategorien, Optionen und Einschätzungen – durchaus auch konfligierende – gegenübergestellt. Das Zurückweisen der Handlungsanforderungen sowie das Überschreiben des Dokumentes verweisen auf Widerstand gegen Versuche der Standardisierung von Kernbereichen professionellen Handelns.Footnote 5

Die Bearbeitung von Dokumenten muss zudem immer in Relation zu konkreten Arbeitskontexten verstanden werden (Garfinkel [1967] 2008): Je nach Situationserfordernis kann es Ausdruck von Professionalität sein, sich intensiv mit einem Dokument zu befassen, um im Stil des „Durcharbeitens“ ein genaueres Verständnis des Falls zu entfalten. Angesichts der jeweils situativ gebundenen Handlungslogiken kann professionelles Handeln aber genauso bedeuten, die Bearbeitung des Dokuments zurückzustellen, es gar zu „ignorieren“ und interaktive Tätigkeiten zu priorisieren. Die hier beschriebenen Strategien im Umgang mit Risikoeinschätzungsbögen sollten daher nicht (vorschnell) beurteilt, sondern nüchtern im Kontext alltagspraktischer Vollzüge betrachtet und weiter erforscht werden. Die Sozialarbeiter_innen der Jugendämter können nur ermuntert werden, den Einsatz von Risikoeinschätzungsinstrumenten weiterhin von situativen Erfordernissen abhängig zu machen.

Angesicht der zunehmenden Einführung digitaler Dokumentationssysteme ist allerdings zu befürchten, dass die beschriebenen, widerständigen Handlungsweisen sowie Möglichkeiten flexibler, situationsadäquater Professionalität überhaupt zurückgedrängt werden. Mit Hilfe von digitalen Dokumentationssystemen können Workflows auch in Jugendämtern so gestaltet werden, dass Einschätzungen notwendigerweise, vollständig und in einer bestimmten Sequenzierung vorgenommen werden müssen (Ley 2010). Beispielsweise kann das Ausfüllen eines Hilfeplans oder das Beantragen einer Hilfe in elektronischen Programmen der Fallbearbeitung ausgeschlossen werden, wenn zuvor nicht andere Dokumente, z. B. Risikoeinschätzungsbögen, vollständig ausgefüllt wurden. Ein solches rigides, digitales System zur Gestaltung von Fallarbeit führt zu einer „Vereinheitlichung des Arbeitsbogens“ (ebd.: 230) und gefährdet nicht nur professionelle Strategien im Umgang mit Risikoeinschätzungsbögen, sondern fallbezogenes, situationsadäquates, professionelles Handeln von Sozialarbeiter_innen im Kinderschutz überhaupt.