Auch der Vorsitzende der Kinderkommission des Deutschen Bundestages, Matthias Seestern-Pauly (FDP), musste in einem Interview mit der ZEIT vom 16. Juli 2020 die Nicht-Beachtung der UN-Kinderrechtskonvention während der Corona-Krise klar und deutlich rügen: „Die Belange der Kinder in der Corona-Krise sind nicht ausreichend wahrgenommen worden – darüber sind wir uns in der Kommission einig. Darum haben wir in einer Erklärung angemahnt, dass die in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte und die Bedürfnisse der Kinder auch in der Corona-Krise nicht aus dem Blick geraten dürfen“ (Schoener 2020, S. 28).
Es war nicht zu übersehen, dass die Entscheidungen der Bundesregierung während der Pandemie das Kindeswohl nicht vorrangig berücksichtigt haben. Zentrale Schutzrechte blieben unbeachtet. Besonders davon betroffen waren und sind Kinder in Armut und in prekären Lebensbedingungen (so z. B. ca. drei Millionen Kinder im Rechtskreis des Bildungs- und Teilhabepakets, denen von heute auf morgen das kostenlose Mittagessen in der Kita- oder Schul-Einrichtung ohne Kompensation gestrichen wurde). Elementare Schutz‑, Fürsorge- und Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen sind in der Corona-Krise in Deutschland verletzt worden (so wurden Kinder, Jugendliche, Schüler_innen-Vertretungen, Jugendverbände und Kinderrechtsorganisationen überwiegend nicht gefragt oder auch nur in Kenntnis gesetzt darüber, was man mit ihnen und ihren schulischen sowie außerschulischen Betreuungs‑, Bildungs- und Betätigungseinrichtungen vorhatte). Außerdem haben die Maßnahmen zur Verstärkung von Kinderarmut beigetragen (vgl. Houben 2020). Dagegen sollten an Kinderperspektiven anknüpfende Alternativen und Gegenstrategien Konzepte der Armutsbekämpfung, der Partizipation junger Menschen und der Förderung sozialer Infrastruktur vereinen, die den gesellschaftspolitischen Kontext nicht aus den Augen verlieren (vgl. Klundt 2020, S. 15 f.).
Indessen sind die psychosozialen Folgen der Corona-Krise (und der ergriffenen Maßnahmen) laut „Copsy“-Studie (Corona und Psyche) der Hamburger Universitäts-Klinik Eppendorf (UKE) nicht übersehbar. Vor der Pandemie fühlte sich ein Drittel aller befragten Kinder und Jugendlichen „psychisch stark belastet“, seit der Corona-Krise sind es 71 %. „27 Prozent der Kinder und Jugendlichen sowie 37 Prozent der befragten Eltern gaben an, dass es mehr Streit in der Familie gab“ (Frankfurter Rundschau v. 11./12.07.2020). Diese Ergebnisse hat selbst die Forscherinnen und Forscher erstaunt, wie die Kinder- und Jugendpsychiaterin Ulrike Ravens-Sieberer vom UKE die enorme Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens kommentiert: „Dass sie allerdings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht.“ (Frankfurter Rundschau v. 11./12.07.2020, S. 3).
Und, wie auch das neuerliche „Factsheet“ der Bertelsmann-Stiftung zu „Kinderarmut in Deutschland“ von 2020 ein weiteres Mal nachgewiesen hat, sind die Entwicklungen im Bereich Kinderarmut gerade mit der Corona-Krise noch einmal verschärft worden. So wachse mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf, was immerhin 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren betrifft. Die Kinder- und Jugendarmut verharre seit Jahren auf diesem hohen Niveau. Trotz langer guter wirtschaftlicher Entwicklung seien die Zahlen kaum zurückgegangen. Kinderarmut sei seit Jahren ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland. „Die Corona-Krise wird die Situation für arme Kinder und ihre Familien weiter verschärfen. Es ist mit einem deutlichen Anstieg der Armutszahlen zu rechnen. Aufwachsen in Armut begrenzt, beschämt und bestimmt das Leben von Kindern und Jugendlichen – heute und mit Blick auf ihre Zukunft. Das hat auch für die Gesellschaft erhebliche negative Folgen“ (Bertelsmann-Stiftung 2020, S. 1). Die Vermeidung von Kinderarmut müsse gerade jetzt politisch Priorität haben. Sie erfordere neue sozial- und familienpolitische Konzepte, wozu Strukturen für eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und eine Absicherung ihrer finanziellen Bedarfe gehöre (durch ein sog. Teilhabegeld oder eine Grundsicherung; vgl. ebd.).
Derweil werden vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen in Deutschland von der Corona-Pandemie belastet. So ist laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung die Zahl der Erwerbstätigen, die zwischen April und Juli 2020 Einkommenseinbußen hinnehmen mussten, von 20 auf 26 % gestiegen. Klagten jedoch bei den Haushalten mit mehr als 3200 € Nettoeinkommen 22 % über Lohneinbußen, so waren es bei den Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen unter 1500 € immerhin 40 % und bei denen mit bis zu 2600 € mit 30 % immer noch fast ein Drittel der Betroffenen (vgl. Müller 2020, S. 5).
Zugleich betont die Forscherin Shan Huang beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), dass Corona sozial Benachteiligte stärker als andere bedroht. Diejenigen werden am schwersten vom Virus betroffen, die ohnehin sozial benachteiligt seien. Wer dazu noch ethnischen Minderheiten entstamme, unterliege besonders hohen Krankheits- und dazu Mortalitätsrisiken. „In den USA ist den Centers for Disease Control and Prevention zufolge das Risiko eines Krankenhausaufenthaltes unabhängig vom Alter für sie vier- bis fünffach höher. Ähnliche Erhebungen von Public Health England ergeben, dass unter Berücksichtigung demografischer Effekte die Sterblichkeit in Großbritannien unter ethnischen Minderheiten bis zu doppelt so hoch ist“ (Huang 2020, S. 12). Auch seien laut verschiedenen US-Studien unter afroamerikanischer oder eingewanderter Bevölkerung in den USA die Testwahrscheinlichkeit niedriger, die Test-Positivraten deutlich höher und Infektionen unter sozial Benachteiligten systematisch untererfasst. Für Deutschland weise eine erste Analyse der AOK Rheinland/Hamburg und des Universitätsklinikums Düsseldorf auch in die ähnliche Richtung höherer Corona-Gesundheitsrisiken bei niedrigerem Sozialstatus – am Beispiel Erwerbslosigkeit. Demnach sei „ein erhöhtes Risiko von schweren Corona-Verläufen bei Arbeitslosigkeit“ zu erkennen (ebd.).
Auf der globalen Ebene befürchten verschiedene Hilfswerke, dass die Zahl der Hungernden auf dieser Erde wieder über eine Milliarde Menschen steigen könnte, wenn der „Brandbeschleuniger“ Corona auf die sowieso schon von Klimawandel, Konflikten und Naturphänomenen wie z. B. Heuschrecken geplagten Krisenländer des globalen Südens treffe. „Die Welthungerhilfe-Chefin warnte davor, Lockdowns als Allheilmittel in der Pandemie zu betrachten und darüber die entstehenden Kollateralschäden zu unterschätzen. So gingen die Investitionen in Entwicklungsländern zurück“ (Frankfurter Rundschau 2020a, S. 13).
Auch der Aufsatz „Internationale Soziale Arbeit neu denken“ von Ronald Lutz und Tanja Kleibl setzt sich mit der „Verschärfung Globaler Ungleichheit durch Covid-19“ auseinander (Lutz und Kleibl 2020, S. 247 ff.). Über deren sozioökonomischen und ausbeuterischen Entstehungsbedingungen machen sich die Autor_innen keine Illusionen: „Globale Ungleichheit muss als historisch gewachsenes Phänomen von Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus verstanden werden“ (ebd., S. 247). Sie referieren die Erkenntnisse der Hilfsorganisationen „Brot für die Welt“ oder „Misereor“, wonach im globalen Süden mangels sozialstaatlicher Absicherungen und Infrastrukturen nach dem Lockdown „möglicherweise mehr Menschen an den Folgen der Ausgangssperre sterben werden als durch das Virus selbst“ (ebd., S. 248). Nach einigen instruktiven Beispielen aus Indien, Südafrika, Malawi, Bangladesch, Kolumbien, Brasilien zu den verwundbarsten Gruppen der jeweiligen Gesellschaften fordern Lutz und Kleibl, dass „Soziale Arbeit (…) auf allen Ebenen politischer werden“ müsse (ebd., S. 250). Ihrem diskutablen und hoffnungsfrohen Appell des Weltsozialforums „Eine andere Welt ist möglich“ ist am Ende des Aufsatzes die Forderung „eines radikale(n) Wechsel(s) in Perspektive, Sprache und Kategorien“ beigelegt, was sehr unterstützenswert scheint.