Viele, die in der Sozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, sehen in den Kinderrechten einen möglichen Ausweg aus manchen für diese Profession typischen Dilemmata. Wie lässt sich eine Freiwillige Erziehungshilfe so gestalten oder wie kann ich als Verfahrensbeistand beim Familiengericht so agieren, dass ich die Kinder nicht bevormunde? Wie treffe ich im Jugendamt beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch eines Kindes in der Familie eine Entscheidung, die dem besten Interesse des Kindes zumindest nahekommt und seinem Wohl dient? Wie verhalte ich mich in der Kita gegenüber einem Kind, das sich weigert, bei kaltem Wetter eine warme Jacke anzuziehen, wenn alle zum Spielen ins Freie gehen oder ein gemeinsamer Ausflug ansteht? Wie gehe ich als Streetworker mit Jugendlichen um, die lieber auf der Straße als in einer Pflegefamilie oder im Heim leben wollen?

Weder aus der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) noch aus Gesetzen, die wesentliche Grundsätze dieser Konvention übernommen haben, kann ich direkt ableiten, wie ich mich in solchen oder vergleichbaren Situationen verhalte. Ich komme nicht umhin, etwa das Recht eines Kindes, nicht diskriminiert zu werden (Art. 3 KRK), oder das Recht eines Kindes, seine Meinung bei Entscheidungen vorrangig zu berücksichtigen (Art. 12 KRK), in die spezifische Situation zu „übersetzen“, in der meine Entscheidung ansteht. Bei dieser Übersetzung kommen verschiedene Bewertungsmaßstäbe und Grundhaltungen ins Spiel, aber auch rechtliche Verpflichtungen, denen ich „von Amts wegen“ unterliege. Dabei ergeben sich Widersprüche, auch in mir selbst, die nicht einfach aufzulösen sind. Sie können so weit gehen, dass ich mich fragen muss, ob ich in der „Funktion“, die ich von Berufs wegen ausübe, noch in hinreichendem Maße dem Grundgedanken der Kinderrechte Genüge tun kann. Es ist also nicht damit getan, die Soziale Arbeit insgesamt als eine Menschen- oder Kinderrechtsprofession zu verstehen (kritisch dazu Aner/Löffler und Scherr in diesem Schwerpunkt). Stattdessen muss ich mich genauer fragen, was dies in einer konkreten Situation bedeutet und wie es um die Möglichkeiten und Grenzen meines beruflichen Handelns steht.

Menschenrechte als Stachel

Aber die Menschenrechte im Allgemeinen und die Kinderrechte im Besonderen sind als mögliche Leitlinie der Sozialen Arbeit damit keineswegs gegenstandslos. Sie können als eine Art Stachel dienen, der mich – mitunter auf schmerzliche Weise – dazu herausfordert, über den Sinn und die Perspektiven meines beruflichen Handelns nachzudenken und gegebenenfalls gegen dessen Rahmenbedingungen aufzubegehren oder mich zumindest „ehrlich zu machen“. Dies erfordert die Bereitschaft, auch Risiken auf sich zu nehmen und die politischen Dimensionen jeglicher Sozialen Arbeit nicht auszublenden. Oder positiv ausgedrückt: Ich muss mich fragen, inwieweit mein Handeln über die bloße Hilfe für die Kinder hinausgehen und zu Solidarität mit den Kindern werden kann und wo dafür der jeweils geeignete Ort ist. Dabei ist meine Grundhaltung zu den Kindern als Subjekten eigenen Rechts entscheidend. Ich muss Kinderrechte als Ressource der Kinder verstehen, die dazu beitragen kann, ihre bislang noch immer untergeordnete soziale Stellung in der Gesellschaft zu stärken. Dies erfordert, ihre eigenen Erfahrungen und Sichtweisen ernst zu nehmen und alles in meiner Macht Stehende zu tun, um ihnen in ihrem Lebensumfeld und der Gesellschaft insgesamt Geltung zu verschaffen. Ich will dies an einigen Beispielen verdeutlichen.

Als ich vor nunmehr fast 50 Jahren Kinder und Jugendliche, die aus Heimen oder ihren Familien geflohen waren, um Misshandlungen oder autoritärer Gängelung zu entkommen, dabei begleitete, sich mittels einer Hausbesetzung ein selbstbestimmtes Leben zu verschaffen, begegneten sie mir und meinen Kolleg_innen, die wir ihnen helfen wollten, mit der Bemerkung, sie wollten in ihren neuen Zuhause keine „Sozialarbeiter“ haben, sondern sich von uns als „Mitarbeitern“ begleiten lassen. Die Rede ist vom Georg-von-Rauch-Haus in Berlin-Kreuzberg, das als selbstverwaltetes „Jugendwohnkollektiv“ bis heute existiert (vgl. Liebel 2012). Während ich damals als Referent für Jugendhilfe im Berliner Pädagogischen Zentrum angestellt war, waren drei andere in unserer Unterstützergruppe als Sozialarbeiter_innen im damaligen Bezirksamt Kreuzberg tätig. Um größere Konflikte zu vermeiden, sahen die Behörden zwar davon ab, das besetzte Gebäude gewaltsam räumen zu lassen, aber sie wollten im Haus Sozialarbeiter installieren, um die Jugendlichen im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass „den Gesetzen“, insbesondere dem Kinderschutz, Genüge getan werde. Damals war zwar noch nicht von Kinderrechten die Rede, aber in unserer Unterstützergruppe waren wir davon überzeugt, dass den Jugendlichen das Recht auf ein Leben zustand, das gemeinsam von ihnen selbst bestimmt wird. Wir glaubten, den Jugendlichen am besten dadurch beizustehen, dass wir mit pädagogischen Argumenten zwischen den Jugendlichen und den staatlichen Behörden vermittelten. Aus der Sicht der Jugendlichen war dies ein unnötiger „Eiertanz“. Uns dämmerte in dieser Situation, dass die eigene biografische Prägung und professionelle Einbindung in die Sozialbürokratie die subjektiv angestrebte Solidarität unterminieren können. Für uns alle resultierte aus der Erfahrung dieses Widerspruchs ein politischer Lernprozess, der mich auch in den späteren Jahren nicht mehr losließ. Er führte letztlich dazu, ein emanzipatorisches Verständnis von Kinderrechten zu gewinnen, das diese in erster Linie als lebensweltliche Ressource der Kinder und Jugendlichen versteht.

Paternalistische Rationalität

In unserer professionellen Rolle neigen wir dazu, unser Handeln von einer paternalistischen Rationalität leiten lassen, die die spezifischen Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder und Jugendlichen zu wenig beachtet. Wir müssen immer wieder lernen, dass die „Richtigkeit“ der Kriterien für eine vermeintlich rationale Entscheidung nicht nur von vermeintlich objektiv messbaren Tatbeständen abhängt, sondern auch von der jeweiligen Perspektive und Wahrnehmung der beteiligten Subjekte. Dies sei an einer Szene in einer Kita veranschaulicht, in der eine Erzieherin ihr Handeln von dem Grundsatz leiten lässt, die von ihr betreuten Kinder in ihrer vielfältigen Subjektivität wahrzunehmen und ihre Sichtweise zu achten (Richter und Lehmann 2016, S. 57): „Der betroffenen Erzieherin ist kalt. Sie kennt das, denn sie friert häufig, wie sie sagt, ‚vor allen Dingen, wenn ich draußen bin‘. Sie sieht ein Mädchen, das nur im T‑Shirt in den Garten gegangen ist. Daraufhin geht sie dreimal zu dem Mädchen und fragt nach, ob es ihm gut gehe und ob sie einmal seine Temperatur fühlen könne. Das Mädchen akzeptiert das Handlungsbedürfnis der pädagogischen Fachkraft und lässt sie gewähren. Als die Erzieherin aber ein viertes Mal kommt und wieder fragt, ob es ihm wirklich gut gehe oder ob ihm kalt sei und ob sie mal fühlen solle, dreht sich das Mädchen um und sagt: ‚Ist dir kalt? Dann zieh deine Jacke an! Es geht mir gut‘. Die Erzieherin nimmt diesen Hinweis an und denkt nach eigener Aussage: ‚Wow! Ich geh dann mal‘.“

Das Handeln der Erzieherin ist nicht vom Zweifel an der Kompetenz des Kindes, sondern von dem Bewusstsein der Differenz zwischen ihrer eigenen Wahrnehmung und der des Mädchens geleitet. Sie gesteht sich ein, dass ihr Gefühl nicht bruchlos auf das Empfinden des Kindes zu übertragen ist, ein Erwachsener also nicht ohne weiteres wissen kann, was das Beste für das Kind ist. In der Studie, aus der ich dieses Beispiel genommen habe, wird angemerkt (ebd.): „In diesem Interaktionsbeispiel werden nicht die möglichen Folgen der kindlichen Entscheidung, sondern letztlich die Argumente des Kindes zur Begründung für das pädagogische Handeln herangezogen. Das Kind erhält die Möglichkeit, ‚das letzte Wort‘ zu behalten und selbstständig Verantwortung zu übernehmen.“

Janusz Korczaks Grundrechte von Kindern

Eine solche Haltung der Erzieherin könnte von dem polnisch-jüdischen Pädagogen Janusz Korczak inspiriert gewesen sein, der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kinderrechte in einem emanzipatorischen und lebensweltlichen Sinn konzipierte und in den von ihm geleiteten Kinderheimen praktizierte (vgl. Liebel 2020, S. 215 ff.). Gleichermaßen einfach wie radikal formulierte er in seiner „Magna Charta Libertatis“ drei Grundrechte von Kindern:

  • das Recht des Kindes auf den heutigen Tag,

  • das Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod und

  • das Recht des Kindes so zu sein, wie es ist (Korczak [1919–20] 1999, S. 45).

Für Korczak war die Erkenntnis zentral, dass der erwachsene Pädagoge nicht wissen kann, was für das Kind das Beste ist. Er muss dieses Wissen gemeinsam mit dem Kind erwerben und in seiner Interaktion mit dem Kind immer wieder aufs Neue hinterfragen. Dies hieß für ihn ebenso, die für das pädagogische Handeln konstitutive Macht in Frage zu stellen und bereit zu sein, den Kindern auf gleicher Augenhöhe zu begegnen und bereit zu sein, von ihnen zu lernen. Hierzu sei ein Beispiel angeführt, in dem Korczak seine Lernerfahrung in einer Sommerkolonie schildert (Korczak [1919–20] 1999, S. 222): „Ich hatte verstanden, dass Kinder eine Macht darstellen, die man zur Mitwirkung ermuntern und durch Missachtung gegen sich aufbringen kann, mit der man aber auf jeden Fall rechnen muss. […] Am nächsten Tag sprach ich das erste Mal während einer Plauderei beim Waldspaziergang nicht zu den Kindern, sondern mit den Kindern; ich sprach nicht davon, was ich möchte, dass sie seien, sondern davon, was sie sein wollten und könnten. Vielleicht habe ich mich damals das erste Mal davon überzeugt, dass man von Kindern viel lernen kann, dass auch sie Forderungen und Bedingungen stellen und Einwände machen, und dass sie ein Recht darauf haben.“

Wenn wir Kinder als Subjekte eigenen Rechts verstehen, stehen wir auch in der Sozialen Arbeit vor der Herausforderung, die Kinder als ebenbürtig zu respektieren, und, wo immer möglich, ihre Sichtweise zu verstehen und ihren Willen anzuerkennen. Dass dies immer wieder erfordert, die eigene Praxis selbstkritisch zu hinterfragen, will ich an einem Beispiel in der indischen Metropole Kalkutta verdeutlichen.

Wie auf allen Märkten in Ländern des Globalen Südens sind auch in Kalkutta viele Kinder damit beschäftigt, restliches Gemüse oder Obst aufzusammeln. Mitunter klauen sie auch was von den Ständen. Meist sind sie in Gruppen unterwegs und teilen sich die Arbeit auf. Während einige sammeln oder klauen, schleppen andere die Beute in kleinen Säcken weg, um sie danach untereinander aufzuteilen oder an anderen Stellen des Marktes weiterzuverkaufen. Eines Morgens brachten einige Kinder einen Jungen zum Treffpunkt einer Hilfsorganisation und sagten, er sei von einem Händler geschnappt und an Ort und Stelle von einem Polizisten verprügelt worden. Der Junge blutete an mehreren Stellen und sah übel zugerichtet aus. Als er einigermaßen wiederhergestellt war, wurde ihm gesagt, der Polizist habe unrecht gehandelt und müsse zur Rechenschaft gezogen werden. Nachdem der Junge ruhig zugehört hatte, sagte er (zit. n. Balagopalan 2013, S. 142; eigene Übersetzung aus dem Englischen): „Hör mal, Tante, es wäre viel schlimmer gewesen, wenn er mich mitgenommen und eingesperrt hätte. Sie hätten mich weiß Gott wie lange da drin gelassen und da wären viel schlimmere Dinge passiert. Der Polizist hat seinen Job gemacht und mir geholfen, indem er mich gleich auf dem Markt verhauen hat. Ich kenne ihn, er hat mich öfter kleine Aufträge erledigen lassen. Wenn ich auf dem Markt einen Platz zum Schlafen suchte, hat er mir eine Decke besorgt, damit ich mich in der Nacht zudecken konnte.“

Offensichtlich sah der Junge wenig Sinn darin, auf seine Rechte aufmerksam gemacht zu werden. Er konnte sich nicht vorstellen, inwiefern die Berufung auf diese Rechte dazu beitragen könnte, seine Lage zu verbessern. Es wäre allerdings kurzschlüssig, darin einen Mangel an Verständnis der Kinderrechte zu sehen. Das Problem liegt zum einen in der Art, in der dem Jungen seine Rechte vermittelt und schmackhaft gemacht werden sollten, zum anderen in der politisch-gesellschaftlichen Konstellation, in der er sich wie viele andere Kinder in prekären Lebenslagen befindet und die es ihm nahezu unmöglich macht, sich als Subjekt eigenen Rechts zu verstehen. Die Weigerung des Jungen, gegenüber dem Polizisten, der ihn misshandelt hatte, auf seinen Rechten zu bestehen, macht sichtbar, dass allgemein formulierte Rechte je nach konkreter Situation und Erfahrung ganz verschiedene Bedeutungen erlangen können. Der Junge hatte nicht nur komplexere Erfahrungen mit dem Polizisten gemacht, als sie für die Sozialarbeiterin vorstellbar waren, sondern er hatte auch weit mehr als nur die gerade erlittene Misshandlung im Blick. Da er in seinem täglichen (und nächtlichen) Leben weiterhin mit dem Polizisten rechnen musste, war es für ihn durchaus naheliegend, die Vor- und Nachteile einer Rechtsbeschwerde abzuwägen. Weit entfernt von einer Haltung der Unterwürfigkeit, bewies er ein bemerkenswertes Gespür für die real existierenden Abhängigkeiten und Machthierarchien und wusste sie in seinem Sinne zu handhaben.

Das in dem Beispiel gezeigte Verhalten eines Kindes zeigt die Notwendigkeit, Rechte nicht aus der Vogelperspektive zu betrachten, sondern sich der Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder vor Ort zu vergewissern. Sarada Balagopalan, die Autorin der Fallstudie, weist ausdrücklich darauf hin, dass sie die Kinderrechte keineswegs als unsinnig und nutzlos betrachte. Ebenso wenig wolle sie der Straflosigkeit von Rechtsverletzungen das Wort reden und die bestehenden Machthierarchien und Ungerechtigkeiten hinnehmen. Sie hält es aber für unabdingbar, mit Kinderrechten (ebenso wie mit Menschenrechten allgemein) in kontext- und situationsspezifischer Weise umzugehen. Rechte werden nicht schon dadurch wirksam, dass sie den Menschen als „natürlich“ zugeschrieben oder in Gesetzen und Regeln verbrieft sind. Sich auf sie zu berufen, ergibt nur Sinn, wenn sie nicht durch tatsächliche Macht- und Besitzunterschiede unterlaufen werden. Angesichts ihres vielfach marginalisierten Status gilt dies für Kinder, die unter Bedingungen extremer Armut und Unterdrückung leben, in besonderem Maße. Wie das Straßenkind in Indien, von dem im letzten Beispiel die Rede war, gibt es auch im vergleichsweise wohlhabenden Deutschland viele Kinder, deren Rechte massiv verletzt werden und die wenig Grund haben, an die „Macht des Rechts“ zu glauben.

Da wir in der Sozialen Arbeit vorwiegend mit solchen Kindern zu tun haben, können wir uns nicht damit begnügen, sie auf ihre Rechte hinzuweisen oder diese von oben „anzuwenden“. Wir müssen uns auf die konkrete Lebenssituation der Kinder einlassen und uns fragen, was Rechte für sie bedeuten und wie die eigenen Rechte für sie relevant werden können. Dazu gehört, dass wir bereit sind, von den Kindern zu lernen und unsere professionellen Handlungsmaßstäbe für das, was für die Kinder am besten ist, immer wieder zu hinterfragen. Kinderrechte können eine Leitlinie der Sozialen Arbeit im Umgang mit Kindern sein, aber sie müssen im Licht der spezifischen Lebensbedingungen, Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder reflektiert werden. Nur so kann aus gutgemeinter, den Kindern aufgedrängter Hilfe eine Praxis werden, die von ihnen als nützlich und bedeutungsvoll erlebt und als solidarisch verstanden werden kann.