Dass dieser Themenschwerpunkt von derart zugespitzter Aktualität sein würde, war Mitte 2019, zum Zeitpunkt seiner Planung, nicht abzusehen. Insbesondere die Corona-Pandemie und Situation von Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU und die damit verbunden medialen, politischen, aber auch die fachöffentlichen Debatten verschiedener Disziplinen zeigen in aller Schärfe die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit (menschen-)rechtlichen Fragen. Welchen Stellenwert sollte diese Auseinandersetzung in der Sozialen Arbeit haben?

Die Rede über Menschenrechte bezieht sich – zumindest in seriösen Zusammenhängen – mehr oder weniger explizit auf die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Im Kontext Sozialer Arbeit ist der Bezugspunkt in aller Regel der von Silvia Staub-Bernasconi entwickelte Ansatz, nach dem Soziale Arbeit eine Menschenrechtsprofession sei.

Menschenrechte und Soziale Arbeit

Diese Position hat Staub-Bernasconi bereits zu Beginn der 1990er Jahre formuliert. Als Vertreterin der sog. Züricher Schule, die ihre Theorie „systemtheoretisches Paradigma der Sozialen Arbeit“ nennt, ist sie der Auffassung, Soziale Arbeit habe den Auftrag, soziale Probleme zu bearbeiten, sie zu lösen, zu mildern oder ihnen vorzubeugen. Dabei sei sie aber nicht nur ihren Adressat_innen auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite verpflichtet, sondern verfüge als Profession auch über ein eigenes Mandat (ausführlicher vgl. Hammerschmidt et al. 2019, S. 146 ff.). Dieses Mandat leitet sie aus der der gemeinsamen Erklärung des Centre of Human Rights der UNO in Genf mit dem internationalen Berufsverband der Sozialarbeiter_innen (International Federation of Social Workers, kurz: IFSW) mit dem Titel „Human Rights and Social Work“ ab, nach der die Menschenrechte „die Rechtfertigung und den Beweggrund für das Handeln im Bereich der Sozialen Arbeit [bilden]“ (vgl. Staub-Bernasconi 2000, S. 626).

Dieser normative Bezugspunkt entfaltet offensichtlich eine große Faszination, nicht zuletzt auf angehende Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen. Es kann nur spekuliert werden, ob zur Begeisterung der Studierenden für den normativen Gehalt dieser Theorie das verbreitete Studienmotiv des Helfens beiträgt, oder es sich eher um die Erwartung handelt, damit eine vermeintliche eindeutige moralische Position beziehen zu können, sich auf der Seite der moralisch Besseren verorten zu können. Möglicherweise ist auch der enthaltene Forderungskatalog (ebd., S. 629 ff.) attraktiv, weil er eine klare Handlungsanleitung zu geben scheint.

Die Intention der Theoretisierung Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession war zweifellos, zur Professionalisierung als Bemühung um eine wissenschaftlich besser fundierte Fachlichkeit der Praxis Sozialer Arbeit beizutragen. Dies verband sich mit einem berufspolitischen Ringen um einen anerkannten Status der Sozialen Arbeit als Profession. Von Staub-Bernasconi wird der Bezug auf die Menschenrechte dazu als drittes Mandat der Sozialen Arbeit (neben denen der Hilfe und Kontrolle) bezeichnet. Dieses Mandat habe sich die Soziale Arbeit selbst zu erteilen, womit die Soziale Arbeit in den Kreis der Professionen aufgerückt wäre, denn die Verfügung über ein Mandat, das Autonomie gegenüber staatlichen Aufgabenzuweisungen ermöglicht, kennzeichnet die klassischen Professionen.

Offen bleibt jedoch, wer konkret das Handlungssubjekt ist, das sich selbst die Aufträge erteilen soll oder kann. Problematisch ist zudem, dass Soziale Arbeit nur einen begrenzten Beitrag zur Bearbeitung sozialer Probleme leisten kann und dass sie primär mit Problemen der Lebensführung befasst ist, nicht mit Änderungen der strukturellen Ursachen sozialer Probleme (Scherr 2001).

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© Ruth Hebler

Die Beiträge des Schwerpunkts

Dafür, dass die Menschenrechte als ethische Fundierung Sozialer Arbeit fungieren sollen, lassen sich plausible Gründe finden. Ob sie es tatsächlich sein können und sind, ist eine Frage der theoretischen Auseinandersetzung und der Praxis. Die Beiträge des Schwerpunkts diskutieren beides mit unterschiedlicher Gewichtung.

  • Im ersten Beitrag vertieft Albert Scherr die oben angedeutete Kritik. Er kommt unter anderem zu dem Schluss, dass eine falsch verstandene Moralisierung und Politisierung zu falschen Erwartungen an die Soziale Arbeit und in der Folge zur Überforderung der Fachkräfte und zu Resignation führen kann. Weitere Beiträge fokussieren konkrete Felder Sozialer Arbeit.

  • Im zweiten Beitrag blickt Manfred Liebel auf die Soziale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und fragt, ob Kinderrechte als Leitlinie Sozialer Arbeit taugen. Er plädiert dafür, sie je konkret im Licht der spezifischen Lebensbedingungen, Erfahrungen und Sichtweisen der Kinder zu reflektieren.

  • Der dritte Beitrag von Kirsten Aner und Eva Maria Löffler stellt die Frage, ob und mit welcher normativen Orientierung die Soziale Arbeit mit älteren Menschen unter besonders schlechten Rahmenbedingungen in der sozialen Altenhilfe und Pflege zumindest in der unmittelbaren Interaktion und Planung von Angeboten ethisch verantwortlich handeln kann. Die Autorinnen greifen dabei – wie zuvor Manfred Liebel – die Magna Charta Libertatis für Kinder auf, die Janusz Korczak 1919 formulierte.

  • Caroline Schmitt und Samia Aden befassen sich im vierten Beitrag mit der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten in Unterkünften. Eine Fallvignette zeigt Strategien einer pädagogischen Fachkraft, ihr pädagogisches Mandat auszufüllen und an Menschenrechten orientiert zu agieren, wie auch die Grenzen, an die sie dabei stößt.