Im Kontext der Debatte um Inklusion im engeren (bezogen v. a. auf Menschen mit Behinderungen) wie im weiteren Sinn (bezogen auf alle Menschen, die in irgendeiner Weise verschieden sind und darunter insbesondere diejenigen, die in der Gefahr sind, benachteiligt zu werden) geht es um Fragen der Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe und Autonomie. Sowohl die Soziale Arbeit, vor allem im Kontext nonformaler, als auch die Sonderpädagogik, im Kontext schulischer wie außerschulischer Bildungs- und Unterstützungsangebote sind dabei mit den damit verbundenen Widersprüchen und Antinomien konfrontiert.

Kinder- und Jugendhilfe und schulische Sonderpädagogik haben teils große Schnittmengen in Bezug auf ihre Adressat_innen, beispielsweise in den erzieherischen Hilfen (vgl. Loeken 2012, S. 363 f.). Dabei geht es unter anderem auch um Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien (vgl. Werning et al. 2008), die beispielsweise die Diagnose „Verhaltensstörungen“ und damit einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich „Emotionale und soziale Entwicklung“ zugeschrieben bekommen. Viele dieser Kinder und Jugendlichen sind gleichzeitig Adressat_innen der Kinder- und Jugendhilfe, beispielsweise in stationären Hilfen zur Erziehung, in der Sozialpädagogischen Familienhilfe oder auch in Tagesgruppen.

Die Frage ist, wie in diesen Feldern besonderer Förderungs- oder Unterstützungsbedarf derjenigen, die spezielle Hilfe benötigen, sichtbar gemacht (und auch legitimiert) wird und wie die daraus folgende Intervention aussieht. Im Inklusionsdiskurs gilt als Paradigma, die Verschiedenheiten nicht als Selektionskriterium – und damit als Anlass zu besondern und auszugrenzen oder zu stigmatisieren – zu betrachten, sondern die Verschiedenheit aller als Grundtatsache zu berücksichtigen und entsprechend zwar kompensatorische Rahmenbedingungen und Unterstützungsmöglichkeiten zu schaffen, diese aber nicht als Spezifizierungsangebote anzulegen, die wiederum Stigmatisierungs- und Ausgrenzungspotenzial haben (vgl. Dederich 2020, S. 529 f.). Sofern es also um soziale Ungleichheit oder Beeinträchtigungen geht, haben Soziale Arbeit wie Sonderpädagogik es mit der Frage zu tun, wie besondere Benachteiligungs‑/Beeinträchtigungsformen kompensatorisch, anerkennend, nichtstigmatisierend und trotzdem besondere Bedarfe berücksichtigend, aber nicht ausgrenzend wahrgenommen, reflektiert und bearbeitet werden können.

Im Kontext eines mehrgliedrigen meritokratischen Schulsystems, das sich auf die „Leistungsfähigkeit“ von Schüler_innen als Maßstab für Differenzierung innerhalb oder zwischen Schulformen bezieht, zeigen sich besondere Widersprüche hinsichtlich der Frage von Teilhabeförderung. Kritisiert wird, dass der schulische Universalitätsanspruch, Bildungszugänge zu ermöglichen, konterkariert wird, indem durch „schulische Bewertungs- und damit Anerkennungspraxen […] nicht nur die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus Milieus […], deren lebensweltliche Bildung den schulischen Erwartungen nicht ohne weiteres entspricht“ befördert wird, „sondern diesen Heranwachsenden wird in der Schule systematisch die Erfahrung vorenthalten, leistungsbereit und leistungsfähig zu sein“ (Wiezorek 2014, S. 13). Übertragen auf das Feld der Sonderpädagogik heißt das, die schulische Besonderung, die behauptet, spezifische Förderung zu ermöglichen, desintegriert gleichzeitig und führt darüber hinaus zu einer zusätzlichen Begrenzung der Teilhabemöglichkeiten.

Evidenzbasierte Diagnostik im Widerspruch zu Inklusion

Die Attraktivität der Evidenzbasierung ist eng an den Präventionsdiskurs geknüpft, der sich sowohl in der Sozialen Arbeit als auch in der Sonderpädagogik etabliert hat. Prävention im Sinne frühzeitiger Interventionen vor Eintreten problematischer Verläufe gilt als Königsweg der Ermöglichung gelingender Lebensbewältigung. Die Debatte um Prävention geht mit einer immensen Zunahme an evidenzbasierten Ansätzen, die anhand spezifischer Kriterien und auf Basis statistischer Wahrscheinlichkeiten die Einschätzung von Förderbedarf (Sonderpädagogik) oder riskanter Entwicklungsverläufe (Soziale Arbeit) diagnostisch prüfen, einher. Diese bewegen sich in einem Spannungsfeld der möglichst gezielten Identifikation von Unterstützungsbedarfen und des damit verbundenen generalisierenden Stigmatisierungspotenzials, das den Einzelfall aufgrund bestimmter Kategorisierungen unter einen Generalverdacht der Problementwicklung stellt.

Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass die Falldiagnostik zwar auf der Grundlage empirisch valider statistischer Größen vorgenommen wird, jedoch nicht sicher ist, ob die Wahrscheinlichkeitsvorhersage genau den je konkreten Fall tatsächlich betrifft. Wenn also ein Diagnostikkriterium wie beispielsweise ein staatlicher Transferleistungsbezug der Eltern als Prädiktor für problematische Bildungs- oder Entwicklungsverläufe verwendet wird, kann selbst bei einer Wahrscheinlichkeit von 86 % nicht mit Sicherheit bestimmt werden, ob der konkrete Jugendliche, um den es geht, tatsächlich gefährdet ist. Die Orientierung an Evidenzbasierung ist damit mit Kausalannahmen verbunden, die die Komplexität einer Praxis auf etwas Steuerbares reduzieren (vgl. Ziegler 2010). Das Versprechen der Kontrollierbarkeit und der gezielten Überwindung von Problemen negiert dabei bei einer direkten Übertragung auf Einzelfälle die Komplexität von Menschen und die Kontingenz von Lebensverläufen. Implizite Normativitäten und Normalitätsvorstellungen (vgl. Ziegler 2001) als Grundlage von Risiko-Kategorisierungen, Kausalitätsannahmen, die mit Risikokriterien verknüpft werden, die Definitionsmacht derjenigen, die normativ erwünschte Präventionsziele oder Verhaltensänderungen (durch)setzen – d. h. Lehrkräfte oder sozialpädagogische Fachkräfte – und die Exklusionsfolgen für Adressat_innen werden darüber hinaus ausgeblendet (vgl. Wohlgemuth 2009).

In der Sozialen Arbeit findet eine kritische Debatte um die Potenziale und Grenzen von Evidenzbasierung statt, in deren Zusammenhang u. a. thematisiert wird, dass wissenschaftliche Evidenz im Sinne von Erkenntnis über Wirkungen neben dem Versprechen einer höheren Zurechenbarkeit teilweise mit dem Zweck der Effizienzsteigerung und der Steuerung bestimmter Settings verwechselt wird (vgl. Albus et al. 2018, S. 20). Mit Blick auf das Feld der Hilfen zur Erziehung haben verschiedene Studien die Wirksamkeit bestimmter Faktoren für den Erfolg der Leistungserbringung untersucht (vgl. Albus et al. 2010; Macsenaere 2017). Sie verweisen darauf, dass Faktoren wie eine hohe Beteiligtheit der Adressat_innen, ein Vertrauensverhältnis sowie eine gute Beziehung zwischen Fachkräften und Adressat_innen relevant sind für den Erfolg einer Hilfeleistung. Damit rücken im Zusammenhang komplexer Pfadabhängigkeiten vor allem Kontextfaktoren und weniger subjektbezogene Kriterien als Wirkfaktoren in den Blick.

Im sonderpädagogischen Kontext wird beispielsweise der Response-to-Intervention-Ansatz (RTI) als nichtdiskriminierendes und evidenzbasiertes Konzept der inklusiven Förderung von Kindern im schulischen Setting thematisiert (vgl. Huber et al. 2013). Dabei werden zunächst alle Kinder einer Klasse im Unterricht mit einer „präventiven Grundausrichtung“ instruiert, Schulleistungs- und Verhaltensscreenings dreimal jährlich sowie eine Lernverlaufsdiagnostik bei „Risikoschülern“ durchgeführt. Auf der Basis der Diagnostik werden dann ca. 20 % der Schüler_innen für eine „intensive Förderung“ ausgewählt, die aus evidenzbasierter Kleingruppenförderung, der Vermittlung standardisierter Problemlöse-Konzepte und engmaschiger Lernverlaufsdiagnostik (ein- bis zweimal wöchentlich) besteht. In dieser Gruppe werden dann die fünf Prozent der Kinder identifiziert, die einer intensiven Einzelfallhilfe zugeführt werden, die aus einer „umfassenden Diagnostik“, „häufiger, intensiver und individualisierter Intervention“ und einer „häufigen Lernverlaufsdiagnostik“ besteht (Huber und Grosche 2012, S. 314).

Als Argument für die Einordnung des Konzepts als inklusiv dient dabei, dass zunächst alle Kinder von Anfang an im Fokus der Screenings stehen und nicht nur bestimmte Kinder, auf die sich das Modell dann zunehmend konzentriert. Dieser Zugang wird allerdings kritisch diskutiert insofern, dass im Zusammenhang von RTI Verhalten normativ als abweichend bewertet und daraus Förderbedarf abgeleitet wird. Die Normierung des Lern- und Sozialverhaltens widerspricht dabei dem inklusiven Gedanken der Heterogenität von Ausdrucksformen und Zugängen zu Unterricht „diametral“ (Willmann 2018, S. 109) und blendet Beeinträchtigungen des Lernverhaltens, die nicht am Schüler_innensubjekt selbst festgemacht werden können, aus. Das Problem der Fokussierung auf eine standardisierte Messung von Verhalten als unangemessen/angemessen oder normal/abweichend, ohne die Bedingungen des Zustandekommens dieses Verhaltens in die Diagnostik einzubeziehen (so dass damit auch eine mögliche „Sinnhaftigkeit“ des Verhaltens nicht in den Blick kommt und die Diagnose damit zur „Sanktionierung falschen Verhaltens“ verkommt) und damit der Fokussierung auf die Subjekte ohne hinreichende Einbeziehung der Kontexte weder als Ursachen noch als Gegenstand der Intervention macht damit eine individualisierende Diagnostik und Förderung zu einem Instrument des Regierens von Subjekten im Foucaultschen Sinn.

Teilhabeförderung und Stigmatisierung

Diagnosen stellen – sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe als auch im sonderpädagogischen Feld – als Soziale Diagnostik für die Erstellung von Hilfeplänen oder AO-SF-Diagnostik eine Grundlage für die Generierung von Zeit‑, Personal- oder finanziellen Ressourcen dar. Die dabei alte und immer wieder neu zu stellende Frage ist, wer bzw. was diagnostiziert wird: Behandeln wir Situationen oder Personen (Meinhold 1982)?

Im Praxisalltag werden Kinder, denen besonderer Unterstützungsbedarf zugeschrieben wird, oft als „Inklusionskinder“ (Grosche 2015, S. 28), „Grenzgänger“ (Hiller 1994), „U-Boot-Kinder“ (Kißgen et al. 2019, S. 71), „Risikokinder“ (Kottmann & Miller 2014, S. 219) oder als „Beistellkinder“ (Klauß 2010, S. 286) bezeichnet.

Diese Titulierungen drücken die Besonderung mit Blick auf die Einzelnen und eine damit verbundene Stigmatisierung im eklatanten Widerspruch zur Inklusionsidee aus. In diesen fragwürdigen Benennungen von Kindern drückt sich aber ebenfalls eine weitgehende Ignoranz gegenüber den Kontextbedingungen aus. Wie Benedikt Hopmann in seinem Beitrag zu diesem Schwerpunkt beschreibt, steht in der Sonderpädagogik vor allem der Fokus auf das Subjekt und seine Behinderung und sich daraus ergebende Beeinträchtigungen und weniger die strukturellen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen im Fokus. Dies erscheint insofern konsequent, als pädagogisches Handeln im engeren Sinn sich nicht auf die Gesellschaft, sondern vielmehr Subjekte als Adressat_innen der Intervention richtet. Auch die Soziale Arbeit schlägt sich immer wieder mit dem Problem herum, dass sie zwar mit den Subjekten arbeitet, aber viele Problemlagen ihre Ursache in gesellschaftlichen oder strukturellen Bedingungen haben. Dennoch steht hier ausdrücklich das Subjekt in seinem gesellschaftlichen Zusammenhang im Fokus (Röh 2013, S. 15)

Das Spannungsfeld der Autonomieermöglichung für das Subjekt und der Teilhabeermöglichung innerhalb einer Gesellschaft stellt Sonder- wie Sozialpädagogik angesichts der Inklusionsfrage vor die Herausforderung, mit diesem Spannungsfeld zwischen Subjekt und Gesellschaft umzugehen ohne sie in Richtung einer Regierung der Subjekte aufzulösen. Soziale Kompetenztrainings, die Vermittlung von Selbstregulationstechniken, Tokensysteme und andere verhaltensorientierte Interventionen sind dann zwar die logische Folge kontextnegierender Pädagogik. Sie werden aber zu zynischen Formen der Zurichtung von Kindern und Jugendlichen, wenn die Rahmenbedingungen, vor deren Hintergrund ein spezifisches Verhalten „sinnvoll“ ist, nicht in den Blick genommen und verändert werden.

In diesem Zusammenhang wird das sogenannte „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ (Wocken 1996) thematisiert, d. h. Problemlagen oder Beeinträchtigungen werden in der Diagnose dramatisiert, um mehr Unterstützungsressourcen zu generieren, gleichzeitig verschärft dies die Stigmatisierung der Adressat_innen (vgl. Neumann und Lütje-Klose 2020; Bundesjugendkuratorium 2012, S. 14). Das „Förderungs-Stigmatisierungs-Dilemma“ bezeichnet in diesem Zusammenhang das Problem, „dass wir diagnostische Kategorien brauchen, um Verhalten zu verstehen und Kinder adäquat fördern zu können. Gleichzeitig aber tragen diese diagnostischen Kategorien das Risiko der Stigmatisierung in sich“ (Boger und Textor 2016, S. 96).

Die Zuschreibung spezifischen Förderbedarfs verknüpft mit Diagnosen unzureichenden Verhaltens bedeutet allerdings die „fortlaufende Erfahrung scheiternder Anerkennung auf der Grundlage individualisierter zugeschriebener Leistung […] sodass für diese Kinder und Jugendlichen die Schule tendenziell zu einem Ort der Behinderung von Bildungsprozessen und zu einem Ort des Ausschlusses aus gleicher Bildung für alle wird“ (Helsper et al. 2005, S. 201, zit. nach Wiezorek 2014, S. 15).

Die derzeit diskutierte Idee einer „bedingungslosen Kinder- und Jugendhilfe“ (Schrödter 2020) thematisiert das Stigmatisierungspotenzial – ob sie allerdings eine Lösung darstellt, bleibt noch offen. Eine Alternative könnte in einem care-ethischen Zugang liegen, der im Fall einer Problemlage analog zu den Phasen von Joan Tronto in einer fragenden Haltung ein paternalistisches Überstülpen von Zielen und Bedarfen und eine damit verbundene standardisierte Diagnostik begrenzt (Tronto 1993, S. 106 ff.). Im „caring about, taking care of, care-giving und care-receiving“ wird deutlich, welchen Perspektivwechsel es bedeutet, jeweils im Einzelfall mit den Adressat_innen in dialogischen Verfahren zu überprüfen, welche Unterstützung es braucht, wo und wie kompensatorisch zu handeln ist und wo vielleicht auch die Grenzen der Intervention liegen, um die Autonomie der/des Adressat_in nicht zu verletzen.