Inklusionspädagogische Diskurse weisen eine Pfadabhängigkeit zum Behinderungsbegriff auf (Schildmann 2012, S. 93). Zugleich steht diese Fokussierung einer zunehmenden Berücksichtigung aller Dimensionen von Heterogenität gegenüber (Hinz 2014, S. 19). In herausragender Weise wird insbesondere auf die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) Bezug genommen (ausführlicher dazu Hopmann 2019, S. 31 ff.). Um einen allzu personenfixierten Blick auf Behinderung zu überwinden, betonen sowohl die ICF als auch die UN-BRK die Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbezogenen Barrieren. Trotzdem ist diesen Ansätzen gemein, dass sie Behinderung – und damit eine Einschränkung der Teilhabe – überwiegend in Abhängigkeit von einer vorliegenden, medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung voraussetzen und somit einen Kausalzusammenhang zwischen Beeinträchtigung und Behinderung herstellen (ebd. S. 56). Zugleich lässt sich eine „Zurückhaltung gegenüber Exklusionsphänomenen“ (Dederich 2010, S. 11) insofern konstatieren, als dass exkludierende gesellschaftliche Verhältnisse im Rahmen von Inklusionsappellen häufig unberücksichtigt bleiben.
In den erzieherischen Hilfen wird angesichts „familiale[r] Problemkonstellationen, Sozialisations- und Erziehungsanforderungen“ (Böllert 2018, S. 28) weniger der Inklusionsbegriff als vielmehr der Exklusionsbegriff verhandelt (Lüders 2014, S. 27). Zentral sind die unter dem Begriff der sozialen Exklusion kursierenden Versuche auf international-sozialpolitischer Ebene, Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen zu finden. Nach Castel (2011) greifen diese Vorstöße jedoch zu kurz, da eine Homogenität der Ausgeschlossenen angenommen wird, benachteiligten Gruppierungen soziale Statik und Immobilität attestiert wird und zuletzt von einer lokalen Fixierbarkeit und Kulturalisierung von Problemlagen ausgegangen wird. Ein analytisch geschärfter Begriff sozialer Exklusion (Kronauer 2010; Young 2005) versucht den Engführungen zu begegnen, indem die graduellen, relationalen und vielschichtigen Problemlagen innerhalb von Gesellschaft und deren Institutionen betont werden. So lassen sich diese weder dichotom fassen, noch treten sie nur an den gesellschaftlichen Rändern auf, noch sind sie rein individualisierend-kulturalisierend zu begreifen. Dieser analytisch geschärfte Begriff sozialer Exklusion vermag auf die Unterbelichtung gesellschaftstheoretischer Perspektiven in der Inklusionsdebatte zu reagieren, obgleich „beeinträchtigte/behinderte Menschen als exklusionsgefährdete Personen bislang nur am Rande in den Fokus der Aufmerksamkeit [gelangen]“ (Wansing 2013, S. 17). Insgesamt wird deutlich, dass die Theoriedebatten der eher behinderungsspezifischen Inklusion und der benachteiligungsbezogenen sozialen Exklusion bislang weitestgehend getrennt voneinander geführt werden und zudem einer weiteren inhaltlichen Bestimmung bedürfen (Hopf und Kronauer 2016, S. 24).
Diese theoretischen Befunde scheinen sich in der aktuellen SGB VIII-Reformdebatte zu reproduzieren, da auch hier Inklusion maßgeblich mit Blick auf ein spezifisches Verständnis von Behinderung und zugleich weniger vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Exklusionsmechanismen verhandelt wird. Dabei gehen den derzeitigen Bemühungen um eine „Inklusive Lösung“ eine Reihe von Vorläuferdebatten und -entwicklungen voraus. Der ab 2007 einsetzende Reformprozess der Eingliederungshilfen hin zu einem Bundesteilhabegesetz und die Ratifizierung der UN-BRK 2009 in Deutschland haben die neuerliche Reformdebatte begünstigt. Dennoch sind bis heute folgende Regelungen rechtsgültig: Leistungen der Eingliederungshilfe werden für Kinder und Jugendliche mit einer sogenannten seelischen Behinderung nach §35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gewährt, während Kinder und Jugendliche mit einer attestierten geistigen und/oder körperlichen Behinderung Leistungen der Eingliederungshilfe nach der Maßgabe der §§90 ff., 2. Teil, SGB IX (bis Ende 2019 nach §§53 ff. SGB XII) erhalten können. Hilfen zur Erziehung können schließlich gemäß den §§27 ff. SGB VIII gewährt werden. Dieser rechtlichen Zuordnungslogik lastet jedoch der Vorwurf an, Abgrenzungsprobleme bei Mehrfachbehinderung, bei der Zuordnung zu einzelnen Formen von Behinderung und schließlich bei der Unterscheidung von erzieherischen und behinderungsspezifischen Bedarfen zu produzieren (Meysen 2014, S. 221 ff.). Obgleich ein erster Reformanlauf scheiterte, verschwanden die Bemühungen um eine „Inklusive Lösung“ keineswegs von der Bundesagenda. Als Resultat des von 11/2018 bis 12/2019 laufenden Dialogprozesses „Mitreden – Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“ ist 2020 nun ein Gesetzesentwurf zu erwarten.
Obwohl die aktuellen Bestrebungen einer rechtlichen Zusammenführung der bislang getrennten Leistungen auf langjährige Missstände zu reagieren versuchen und sie daher mehr als überfällig erscheinen, so vernachlässigen sie zentrale Fragen weitestgehend. So zeigt sich, dass das Teilhabe- und Inklusionsverständnis in der Reformdebatte maßgeblich auf Behinderung verengt wird und aufgrund einer stark „administrativ-juristische[n]“ (Hopmann 2016, S. 390) Fokussierung inhaltlich unterbestimmt bleibt (Hopmann und Ziegler 2017, S. 91). Indem eine ursächliche Beeinträchtigung vorliegen muss – hier kommen die Kausalitätsannahmen bei Behinderung zum Tragen –, um von der Möglichkeit einer Teilhabebeeinträchtigung sprechen zu können, wird Teilhabe auch maßgeblich mit Behinderung verknüpft. Gleichzeitig wird damit die Errungenschaft, Behinderung als soziale und von einer medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung abgetrennte Kategorie zu begreifen, unterlaufen. Als Konsequenz dieser Logik gilt Nicht-Behinderung nicht als teilhaberelevant (Chassé 2017, S. 67). Wenn die Inklusionsdebatte ernstgenommen werden soll, braucht es zunächst eine grundsätzliche Auseinandersetzung über den „soziale[n] Sinn der Hilfen zur Erziehung“ (Winkler 2001, S. 257). Bislang fehlt es jedoch aufgrund der kaum miteinander verknüpften Debatten um Inklusion und Exklusion sowie deren inhaltliche Unterbestimmung an einer gemeinsamen und begründeten Informationsbasis für Inklusion in den Hilfen zur Erziehung.