Die Hilfen zur Erziehung stellen nicht nur in Bezug auf ihr Fall- und Finanzvolumen eines der zentralsten und stark expandierenden Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe dar. Sondern vor allem stehen sie im Zentrum der aktuellen Debatte um Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe im Zuge der SGB VIII-Reform. Unter der sogenannten „Inklusiven Lösung“ wird üblicherweise die Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderung verstanden.

Hinter den Bemühungen um eine „Inklusive Lösung“ verbirgt sich der Anspruch, sämtliche Eingliederungshilfeleistungen ins SGB VIII zu überführen und einen inklusiven Leistungstatbestand zu konzipieren. Die folgenden Ausführungen sollen zur Klärung einiger offener Fragen beitragen und die zukünftigen Herausforderungen für Befähigung und Teilhabe skizzieren.

HzE zwischen Inklusion und sozialer Exklusion

Inklusionspädagogische Diskurse weisen eine Pfadabhängigkeit zum Behinderungsbegriff auf (Schildmann 2012, S. 93). Zugleich steht diese Fokussierung einer zunehmenden Berücksichtigung aller Dimensionen von Heterogenität gegenüber (Hinz 2014, S. 19). In herausragender Weise wird insbesondere auf die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) Bezug genommen (ausführlicher dazu Hopmann 2019, S. 31 ff.). Um einen allzu personenfixierten Blick auf Behinderung zu überwinden, betonen sowohl die ICF als auch die UN-BRK die Wechselwirkungen mit einstellungs- und umweltbezogenen Barrieren. Trotzdem ist diesen Ansätzen gemein, dass sie Behinderung – und damit eine Einschränkung der Teilhabe – überwiegend in Abhängigkeit von einer vorliegenden, medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung voraussetzen und somit einen Kausalzusammenhang zwischen Beeinträchtigung und Behinderung herstellen (ebd. S. 56). Zugleich lässt sich eine „Zurückhaltung gegenüber Exklusionsphänomenen“ (Dederich 2010, S. 11) insofern konstatieren, als dass exkludierende gesellschaftliche Verhältnisse im Rahmen von Inklusionsappellen häufig unberücksichtigt bleiben.

In den erzieherischen Hilfen wird angesichts „familiale[r] Problemkonstellationen, Sozialisations- und Erziehungsanforderungen“ (Böllert 2018, S. 28) weniger der Inklusionsbegriff als vielmehr der Exklusionsbegriff verhandelt (Lüders 2014, S. 27). Zentral sind die unter dem Begriff der sozialen Exklusion kursierenden Versuche auf international-sozialpolitischer Ebene, Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen zu finden. Nach Castel (2011) greifen diese Vorstöße jedoch zu kurz, da eine Homogenität der Ausgeschlossenen angenommen wird, benachteiligten Gruppierungen soziale Statik und Immobilität attestiert wird und zuletzt von einer lokalen Fixierbarkeit und Kulturalisierung von Problemlagen ausgegangen wird. Ein analytisch geschärfter Begriff sozialer Exklusion (Kronauer 2010; Young 2005) versucht den Engführungen zu begegnen, indem die graduellen, relationalen und vielschichtigen Problemlagen innerhalb von Gesellschaft und deren Institutionen betont werden. So lassen sich diese weder dichotom fassen, noch treten sie nur an den gesellschaftlichen Rändern auf, noch sind sie rein individualisierend-kulturalisierend zu begreifen. Dieser analytisch geschärfte Begriff sozialer Exklusion vermag auf die Unterbelichtung gesellschaftstheoretischer Perspektiven in der Inklusionsdebatte zu reagieren, obgleich „beeinträchtigte/behinderte Menschen als exklusionsgefährdete Personen bislang nur am Rande in den Fokus der Aufmerksamkeit [gelangen]“ (Wansing 2013, S. 17). Insgesamt wird deutlich, dass die Theoriedebatten der eher behinderungsspezifischen Inklusion und der benachteiligungsbezogenen sozialen Exklusion bislang weitestgehend getrennt voneinander geführt werden und zudem einer weiteren inhaltlichen Bestimmung bedürfen (Hopf und Kronauer 2016, S. 24).

Diese theoretischen Befunde scheinen sich in der aktuellen SGB VIII-Reformdebatte zu reproduzieren, da auch hier Inklusion maßgeblich mit Blick auf ein spezifisches Verständnis von Behinderung und zugleich weniger vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Exklusionsmechanismen verhandelt wird. Dabei gehen den derzeitigen Bemühungen um eine „Inklusive Lösung“ eine Reihe von Vorläuferdebatten und -entwicklungen voraus. Der ab 2007 einsetzende Reformprozess der Eingliederungshilfen hin zu einem Bundesteilhabegesetz und die Ratifizierung der UN-BRK 2009 in Deutschland haben die neuerliche Reformdebatte begünstigt. Dennoch sind bis heute folgende Regelungen rechtsgültig: Leistungen der Eingliederungshilfe werden für Kinder und Jugendliche mit einer sogenannten seelischen Behinderung nach §35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII gewährt, während Kinder und Jugendliche mit einer attestierten geistigen und/oder körperlichen Behinderung Leistungen der Eingliederungshilfe nach der Maßgabe der §§90 ff., 2. Teil, SGB IX (bis Ende 2019 nach §§53 ff. SGB XII) erhalten können. Hilfen zur Erziehung können schließlich gemäß den §§27 ff. SGB VIII gewährt werden. Dieser rechtlichen Zuordnungslogik lastet jedoch der Vorwurf an, Abgrenzungsprobleme bei Mehrfachbehinderung, bei der Zuordnung zu einzelnen Formen von Behinderung und schließlich bei der Unterscheidung von erzieherischen und behinderungsspezifischen Bedarfen zu produzieren (Meysen 2014, S. 221 ff.). Obgleich ein erster Reformanlauf scheiterte, verschwanden die Bemühungen um eine „Inklusive Lösung“ keineswegs von der Bundesagenda. Als Resultat des von 11/2018 bis 12/2019 laufenden Dialogprozesses „Mitreden – Mitgestalten: Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe“ ist 2020 nun ein Gesetzesentwurf zu erwarten.

Obwohl die aktuellen Bestrebungen einer rechtlichen Zusammenführung der bislang getrennten Leistungen auf langjährige Missstände zu reagieren versuchen und sie daher mehr als überfällig erscheinen, so vernachlässigen sie zentrale Fragen weitestgehend. So zeigt sich, dass das Teilhabe- und Inklusionsverständnis in der Reformdebatte maßgeblich auf Behinderung verengt wird und aufgrund einer stark „administrativ-juristische[n]“ (Hopmann 2016, S. 390) Fokussierung inhaltlich unterbestimmt bleibt (Hopmann und Ziegler 2017, S. 91). Indem eine ursächliche Beeinträchtigung vorliegen muss – hier kommen die Kausalitätsannahmen bei Behinderung zum Tragen –, um von der Möglichkeit einer Teilhabebeeinträchtigung sprechen zu können, wird Teilhabe auch maßgeblich mit Behinderung verknüpft. Gleichzeitig wird damit die Errungenschaft, Behinderung als soziale und von einer medizinisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung abgetrennte Kategorie zu begreifen, unterlaufen. Als Konsequenz dieser Logik gilt Nicht-Behinderung nicht als teilhaberelevant (Chassé 2017, S. 67). Wenn die Inklusionsdebatte ernstgenommen werden soll, braucht es zunächst eine grundsätzliche Auseinandersetzung über den „soziale[n] Sinn der Hilfen zur Erziehung“ (Winkler 2001, S. 257). Bislang fehlt es jedoch aufgrund der kaum miteinander verknüpften Debatten um Inklusion und Exklusion sowie deren inhaltliche Unterbestimmung an einer gemeinsamen und begründeten Informationsbasis für Inklusion in den Hilfen zur Erziehung.

Inklusion als Befähigung

Eine solche Informationsbasis verspricht der Capabilities-Ansatz (CA) in der Lesart Nussbaums (2007) zu bieten. Der CA folgt der Idee, zentrale Bedingungen für ein gutes und wohlergehendes Leben eines jeden Menschen in Form von capabilities und deren Ermöglichung zu erfassen und zu bewerten. Der CA basiert begründungstheoretisch auf der menschlichen Würde und zielt auf die Differenzierung zwischen Handlungen und Daseinsweisen (functionings) sowie Befähigungen (capabilities) ab. Handlungen und Daseinsweisen beziehen sich auf tatsächlich vollzogene oder verwirklichte Handlungen oder Lebensentwürfe, welche Menschen für sich als wertvoll erachten. Befähigungen sind als die sozialen, politischen und ökonomischen Ermöglichungsräume zu verstehen, im Rahmen derer sich Menschen auf Basis freiheitlicher Entscheidungen für oder gegen die Realisierung unterschiedlicher Kombinationen dieser Handlungen und Daseinsweisen entscheiden können oder nicht. Aus der Reihe potentiell denkbarer Befähigungen schlägt Nussbaum eine universelle Liste von zehn zentralen Befähigungen vor, die für das wohlergehende Leben von Menschen von besonderer Bedeutung sind: (1) Leben, (2) Körperliche Gesundheit, (3) Körperliche Integrität, (4) Sinne, Vorstellungen und Gedanken, (5) Gefühle, (6) Lebensplanung und -gestaltung, (7) Zugehörigkeit und soziale Beziehungen, (8) Andere Lebewesen, (9) Spiel und (10) Kontrolle über die eigene Umwelt. Auf dieser Basis lässt sich nun das inklusive Moment im Anschluss an den CA bestimmen (siehe Hopmann 2019, S. 165 ff.).

Zunächst zeigt sich soziale Exklusion aus Perspektive des CA auf zwei Ebenen: Als aktuelle und unmittelbar erfahrbare Form der Benachteiligung in den Handlungen und Daseinsweisen und als potentielle bzw. sich entwickelnde Form der Benachteiligung hinsichtlich der Befähigungen. Behinderung wird im Rahmen des CA als eine Form der Benachteiligung – also als Einschränkung der Befähigungen sowie der Handlungen und Daseinsweisen – verstanden und lässt sich somit auf beiden Ebenen verorten. Wenn nun soziale Exklusion die Benachteiligung in den Befähigungen bzw. Handlungen und Daseinsweisen meint, zielt Inklusion auf die Überwindung eben jener Einschränkungen auf Ebene der Befähigungen bzw. Handlungen und Daseinsweisen ab. Damit gerät einerseits die substantielle Inklusivität von aktuellen Handlungen und Daseinsweisen und deren Unterstützung in den Blick. Unterstützungsangebote in Form von Hilfen und Institutionen wären somit dann als inklusiv zu verstehen, insofern sie die Handlungen oder Lebensentwürfe von Menschen selbstbestimmungsfunktional und im Einklang mit der menschlichen Würde unterstützen. Andererseits – und als Hauptfokus des capabilities-basierten Inklusionsansatzes fungierend – lässt sich die prozedurale Inklusionsperspektive herausarbeiten, die die Befähigungen und deren Eröffnung, d. h. die Konsequenz und das Ziel von (sozialpädagogischen) Interventionen, in den Blick nimmt. Demnach wären Hilfen und Institutionen in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung dann als inklusiv zu bewerten, wenn die Zielperspektiven sämtlicher Interventionen an den Befähigungsdimensionen des CA ausgerichtet sind, d. h., wenn die Eröffnung und aktive Erhöhung von Befähigungen im Zentrum der Bemühungen stehen.

Um den Ansatz zur empirischen Anwendung zu bringen, wurden im Rahmen einer eigenen Untersuchung Expert_inneninterviews mit professionellen Akteur_innen geführt, die sich in den Hilfen zur Erziehung sowie deren Relevanzbereich verorten lassen und selbst einen eigenen Bezug zu Inklusion formulieren (mehr dazu in Hopmann, 2019, S. 211 ff.). Dadurch sollen Aussagen über die Inklusivität erzieherischer Hilfen generiert werden. Dazu wurden die aus dem empirischen Material rekonstruierten Wissensbestände jeweils auf der theoretischen Folie der substantiellen Inklusivität und der prozeduralen Inklusionsperspektive eingeordnet und systematisiert (Hopmann 2019, S. 369 ff.). Es zeigt sich, dass das empirische Material überwiegend Anschlüsse an die Ebene der substantiellen Inklusivität (d. h. die Unterstützung von aktuellen Handlungen und Daseinsweisen) bietet. Demgegenüber bleibt die zentrale Ebene der prozeduralen Inklusionsperspektive (d. h. die Ermöglichung und Sicherstellung von Befähigungen) überwiegend ausgespart.

Herausforderungen für Befähigung und Teilhabe

Inklusion in den Hilfen zur Erziehung wird durch den CA entscheidend qualifiziert, indem zwei analytische Teilperspektiven formuliert werden, die als Informationsbasis für Inklusion fungieren:

  1. 1.

    die selbstbestimmungsfunktionale Unterstützung von Handlungen und Daseinsweisen im Einklang mit der menschlichen Würde (substantielle Inklusivität) und

  2. 2.

    die Eröffnung und aktive Erhöhung von Befähigungen (prozedurale Inklusionsperspektive). Auf diesem Aspekt liegt der Hauptfokus.

Der Ansatz ermöglicht die Zusammenführung der Diskursstränge um Inklusion und soziale Exklusion, indem Einschränkungen von Lebensführungsweisen – z. B. aufgrund von Behinderung als eine Form von Benachteiligung – als gemeinsamer und gerechtigkeitsrelevanter, an erzieherische Hilfen adressierter Auftrag fokussiert werden. Auf Basis der Analyse des empirischen Materials kristallisieren sich folgende spezifische Ebenen des capabilities-basierten Inklusionsansatzes heraus:

  • Recht auf befähigende Ermöglichungsräume (z. B. durch subjektive Rechte, Recht auf Infrastruktur)

  • Zielbestimmungen erzieherischer Hilfen im Sinne der prozeduralen Inklusionsperspektive als organisational-professioneller Auftrag, Unterstützung im Sinne der substantiellen Inklusivität (d. h. Entwicklung von Professionalität)

  • bedarfsbezogener Auftrag: Unterstützung des Tuns und Seins von Adressat_innen, Konsequenzen aus individuellen Bedarfen und Lebensumständen

Da sich die Inklusionsdebatte derzeit jedoch überwiegend auf der Ebene der Handlungen und Daseinsweisen (substantielle Inklusivität) vollzieht, bleibt die eigentlich zentrale Ebene der Befähigungen (prozedurale Inklusionsperspektive) weitestgehend ausgespart, so dass hier eine Leerstelle der derzeitigen Inklusionsbemühungen zu konstatieren ist. Denn mit den Ebenen der capabilities-basierten Inklusionsperspektive wird ein weitreichender „mehrstufiger Maßnahmenkomplex“ (Kaufmann 1982, S. 68) sozialer Interventionsformen adressiert, welche insgesamt als „normativer Bezugspunkt einer Wohlfahrtsproduktion“ (Böllert 2013, S. 110) verstanden werden können. Angesichts dieser wohlfahrtstaatlichen Verortung der capabilities-basierten Inklusionsperspektive stellt sich für die erzieherischen Hilfen nun die Frage, ob sie aufgrund ihrer (momentanen) wohlfahrtsstaatlichen Verfasstheit weiterhin als limitiert affirmiert werden sollen, ob sie Allmachtsfantasien entwickeln und damit ihren Interventionsradius überschätzen oder ob sie sich grundlegenden Neuorientierungen gegenüber öffnen. Dass alternative Entwürfe denkbar und vielversprechend sind, zeigt nicht zuletzt der jüngste Strukturentwurf einer Bedingungslosen Jugendhilfe (Schrödter 2020). Dieser verfolgt den Anspruch, Leistungen ohne stigmatisierende Bedürftigkeitsprüfungen universalistisch und ethisch akzeptabel zu gewähren. Vor diesem Hintergrund eröffnet der CA eine fruchtbare Perspektive für eine alternative inklusive Lösung für die Hilfen zur Erziehung, die auf das Verständnis von Inklusion als Befähigung verweist.