In den ersten politischen und medialen Diskussionen rund um die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ging es zunächst um die Folgen für die Wirtschaft sowie im Gesundheitswesen und auch für Kultureinrichtungen und Familien. Was auffällig fehlt(e) war der Blick zum einen auf die Folgen der Maßnahmen für viele soziale Problemlagen, die durch die Pandemie verschärft werden und auf Soziale Arbeit, die wesentlich für die Unterstützung der Bewältigung solcher Herausforderungen zuständig ist. In den Debatten und Beratungen fehlen – bis heute – Expert_innen und Expertise aus der Sozialen Arbeit und auch die Absicherung sozialer Einrichtungen erfolgte nur schrittweise mit großen regionalen Unterschieden.

Ein entscheidender Grund für die Nichtwahrnehmung ist, dass Soziale Arbeit und soziale Einrichtungen – und damit auch die in ihnen Beschäftigten – nicht zu den „Kritischen Infrastrukturen“ zählen. Mit „Kritischen Infrastrukturen“ sind nach einer interministeriellen Definition aus dem Jahr 2016 folgende Sektoren gemeint: Energie, Gesundheit, IT und TK, Transport und Verkehr, Medien, Wasser, Finanz- und Versicherungswesen, Ernährung sowie Staat und Verwaltung (Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen (BSI-KritisV) vom 3. Mai 2016).

Während diesen eine wichtige „Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden“ (BSI-KritisV 2020), zugeschrieben wird, wurde Soziale Arbeit – bis auf wenige Handlungsfelder, wie der Beitrag von Stephan Schlebusch über Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Soziale Arbeit im Justizvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen zeigt – offenbar nicht für gleichermaßen bedeutend eingeschätzt. (Abb. 1).

Abb. 1
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Kritische Infrastrukturen nach BSI-KritisV. Quelle: Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2020): Kritische Infrastrukturen. https://www.kritis.bund.de/SubSites/Kritis/DE/Einfuehrung/einfuehrung_node.html

Erst nach deutlichen Interventionen der Wohlfahrtsverbände wurde für Soziale Dienste am 27.03.2020 das „Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV‑2 (Sozialschutz-Paket)“ verabschiedet. Allerdings ist diese Absicherung mit Bedingungen verknüpft, die für andere Bereiche (z. B. Wirtschaftsunternehmen) nicht gelten: Die Leistungen können nur dann in Anspruch genommen werden, wenn die Einrichtung nachweist bzw. sich verpflichtet, dass ihre Angebote „auch zur Bewältigung der Auswirkungen der Pandemie beitragen“ (BMAS 2020). Mitarbeiter_innen der Einrichtungen können zudem im Falle von (Teil‑)Schließungen „in allen systemrelevanten Bereichen und Berufen eingesetzt werden, in denen es aufgrund der Corona-Krise zu Personalengpässen kommt“ (BMAS 2020a).

Das Spektrum der möglichen Einsatzbereiche reicht von anderen sozialen Diensten über das Gesundheitswesen (bei Vorliegen von entsprechenden Qualifikationen), kann aber auch „tätigkeitsfremde Aushilfstätigkeiten in Supermärkten, Unterstützungen in der Logistik der Lebensmittelversorgung, Tätigkeiten als Erntehelfer, Unterstützungen bei Einkäufen oder Begleitung zu Arztbesuchen von Hilfebedürftigen“ umfassen (BMAS 2020a). Inzwischen wurden Frauenhäuser und der Kinderschutz als systemrelevant eingestuft – letzter zuletzt in Hessen (BMFSFJ 2020; Hessische Landesregierung 2020). Andere Bereiche – wie z. B. die Jugendarbeit, darauf macht Wolfgang Schröer in seinem Beitrag aufmerksam – bislang nicht.

Expert_innen unter sich – ohne Soziale Arbeit

Wie bereits eingangs erwähnt, werden Expert_innen der Sozialen Arbeit in die meisten Diskussionen und Beratungsprozessen zum Umgang mit dem Virus nicht einbezogen. Dies zeigt sicher bereits daran, dass die Wohlfahrtsverbände sich erst deutlich zu Wort melden mussten und auch in der kleckerhaften Einbeziehung einzelner Bereiche der Sozialen Arbeit in die Kritischen Infrastrukturen. Das gleiche Muster setzt sich jedoch (leider) auch in den Expert_innenrunden fort, die Bundes- und Landesregierungen für die (Weiter‑)Entwicklung von Maßnahmen zu Rate zieht. Zwar wurde das Gremium der Nationale Akademie der Wissenschaften „Leopoldina“ wegen seiner Zusammensetzung in Bezug auf das Geschlechterverhältnis oder auch wegen des Fehlens von Mitgliedern aus den östlichen Bundesländern kritisiert, nicht jedoch wegen des offenkundigen Fehlens von Expert_innen aus der Sozialen Arbeit oder Sozialpädagogik. Im „Expertenrat Corona des Ministerpräsidenten des Landes NRW“ sind zwar mehr Frauen vertreten, aber neben Vertreter_innen verschiedener universitärer Disziplinen, sowie Unternehmen lediglich eine Geschäftsführerin eines Trägers sozialer Dienste.

Damit lässt sich etwas bitter feststellen: Während wirtschaftliche und medizinische Probleme ebenso wie die Situation der Kultureinrichtungen und die Herausforderungen für Familien bei der Planung der Krisenmaßnahmen wenigstens zum Teil im Blick sind, sind soziale Dienstleistungen insgesamt dies nicht. Soziale Arbeit und ihre Protagonst_innen sind in der gegenwärtigen Situation keine nachgefragten Expert_innen. Im Gegenteil wurden alltägliche sozialarbeiterische Leistungen erst nach deutlichem Einspruch der (Wohlfahrts‑)Verbände in staatliche Unterstützungsmaßnahmen aufgenommen.

Dies ist vielleicht auch ein Zeichen, dass Disziplin und Profession sich lange Zeit eher wenig politisch positioniert und eingemischt hat. Damit wurde auch versäumt, auf die Zusammenhänge von wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung hinzuweisen bzw. diese notwendige Einheit im politischen und öffentlichen Bewusstsein stark zu machen. Gerade angesichts zu erwartender Einsparungen in der sich abzeichnenden ökonomischen Krise müssen solche Zusammenhänge laut und vernehmbar vorgetragen werden. Wichtig scheint damit, dass die Profession und Disziplin Soziale Arbeit sich in der Gegenwart und Zukunft besser platzieren, ihre „Systemrelevanz“ und ihren Platz in der „kritischen Infrastruktur“ verdeutlicht und Ansprüche an eine Beteiligung an Krisen- oder Katastrophendiskursen fordert und auch wahrnimmt. Die ver.di-Kampagne „Wir sind unverzichtbar“Footnote 1 und oder auch die Stellungnahme „Soziale Arbeit während der Corona-Pandemie: Who cares?!“ des DBSH-Landesverbandes Berlin/BrandenburgFootnote 2 sind hier sicher ein guter Anfang.

Rückzug in Nationalstaatsdenken

Eine Reihe der Maßnahmen, die zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus eingeleitet wurden, trugen zudem Züge einer nationalstaatlichen Abschottung. Grenzschließungen, Ausfuhrverbote für medizinische Waren, Aufnahmestopps für Geflüchtete und eine Logik, in der zunächst die nationalen Interessen im Vordergrund standen und erst langsam auch internationale Dimensionen, Fragen und Probleme in den Blick gerieten – und dies war zunächst auch noch wesentlich auf die EU begrenzt. Während im „Inland“ dem Schutz des Lebens eine hohe Priorität eingeräumt wird, galt und gilt dies z. B. nicht für die in einigen Ländern oder an den Grenzen der EU in engen in überfüllten Lagern versammelten Schutzsuchenden aus Drittstaaten.

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Eine Erweiterung der Perspektive erscheint aber dringend notwendig, reflektiert sie doch nicht zuletzt auch den Charakter einer Pandemie, d. h. der kontinentübergreifenden Ausbreitung eines Infektionserregers. Spiegeln sich darin zum einen verschiedene Dimensionen von Globalisierungsprozessen – die schnelle Ausbreitung des Virus durch moderne Mobilität, die Verlagerung von Produktionsstätten in einzelne Länder und die damit entstandenen Abhängigkeiten – so machen sich auch in internationaler Hinsicht soziale Ungleichheiten in einer ebenso schnellen Abfolge bemerkbar. Das müsste auch Folgen für die Konzeption einer Internationalen Sozialen Arbeit haben – eine Frage, der Tanja Kleibl und Ronald Lutz in ihrem Beitrag nachgehen.

Die Pandemie bzw. die in der Folge ergriffenen Maßnahmen und Regelungen unterliegen schnellen Veränderungen. Die hier versammelten Beiträge sind Mitte April entstanden, so dass sich ggf. einzelne aufgeführte Sachverhalte bereits geändert haben können.