Junge Menschen in Deutschland wachsen heute, so könnte man meinen, in einem Land der „offenen Grenzen“ auf und sind auf unterschiedliche Weise – auch für längere Zeiträume – grenzüberschreitend unterwegs. Es geht mit Gleichaltrigen auf eine Ferienfreizeit nach Spanien, in der 10. Klasse steht ein Auslandsjahr in Kanada auf dem Programm und nach dem Abitur ein Freiwilligendienst in Norwegen. Andere reisen mit einem Interrail-Ticket durch Europa, verbringen ein Work-and-Travel-Jahr in Down Under oder planen einen Erasmus-Aufenthalt während ihres Studiums.

Diese Formen einer „transnational mobility“ gehören für viele junge Menschen zu ihrem biographischen Lebensentwurf und werden zunächst einmal durchweg positiv konnotiert. Sie stehen für Horizonterweiterungen, Bildungs- und Qualifizierungsprozesse, interkulturelle Kompetenzen, verbesserte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wem aber wird ein solches „grenzenloses“ mobilsein zugestanden, von wem wird es gefordert und wem wird es abgesprochen? Welche Form von Mobilität wird wie anerkannt?

Damit verbunden ist die Frage: Was ist eigentlich mit auf Migration bezogenen Mobilitätspraktiken, die ebenfalls einen transnationalen Charakter aufweisen und für junge Menschen in Deutschland mit vielfältigen grenzüberschreitenden Erfahrungen einhergehen können? Handelt es sich bei jungen Menschen, die migriert sind oder über familial vermittelte Migrationserfahrungen verfügen nicht auch um transnational mobils? Wieso wird überhaupt zwischen Migration und Mobilität differenziert, wenn es sich doch auch bei Migrationsprozessen um Formen grenzüberschreitender Mobilität handelt, einer Bewegung zur Verbindung von unterschiedlichen Orten, die mitunter auch in unterschiedlichen Nationalstaaten lokalisiert sind?

Mobilität und Migration – ein verzerrtes Bild

Migration und Mobilität stellen zwar zwei „Versionen der Formatierung von Alltagsmobilität (daily mobility) dar“ (Bukow 2016, S. 5). Als zwei Formate von alltäglichen Bewegungen werden sie jedoch sehr unterschiedlich konnotiert und gesellschaftlich konstruiert: Migration als etwas „Problematisiertes“, das nur im Einzelfall positiv gewertet wird (z. B. Fachkräfteanwerbung) und Mobilität als etwas quasi „Natürliches“ und in jedem Fall „Akzeptiertes“, das nur im Einzelfall problematisiert wird (z. B. Bevölkerungsschwund in ländlichen Regionen; nachhaltiges Mobilsein) (vgl. hierzu ausführlicher die Argumentation von Bukow 2016). Bezogen auf die Idee von Jugend steht Mobilität, insbesondere auch die grenzüberschreitende Mobilität, für ökonomische Aufstiegsmöglichkeiten, Qualifizierung und zivilgesellschaftliche Entwicklung (Schröer 2018). Migration und Jugend hingegen wird oft verhandelt unter den Stichworten Integrationsprobleme, Bildungsbenachteiligungen, innere Zerrissenheit, doppelte Transformationsherausforderungen. Betrachtet man die begrifflichen Konstruktionen Mobilität und Migration mit Bezug auf das jugendliche Unterwegssein, so ist also auch zu fragen, welcher länderübergreifenden Mobilitätspraxis welcher Stellenwert gesellschaftlich zugeschrieben wird, welche wird anerkannt und welche nicht? Welches jugendliche Unterwegssein über nationalstaatliche Grenzen hinaus wird eher migrationstheoretisch, und welches mobilitäts- bzw. jugendtheoretisch untersucht?

Während z. B. die meist bildungsbiographischen Mobilitätspraktiken ins Ausland (Schüler_innenaustausch, Aupair, Freiwilligendienst, Interrail-Reise, Erasmus-Aufenthalt, etc.) gesellschaftlich hoch anerkannt sind, gefördert – zum Teil auch gefordert – werden, geraten die vielfältigen grenzüberschreitenden Mobilitäts- und Kommunikationspraktiken junger Menschen, die selbst oder deren Eltern migriert sind, kaum in den Blick oder werden nicht selten vor der Interpretationsfolie eines „Zerrissen-zwischen-den-Stühlen“ diskutiert. Für diese jungen Menschen stellen die jährlich stattfindenden Reisen zu Verwandten ins Herkunftsland der Eltern und auch der grenzüberschreitende kommunikative Austausch per Telefon, Handy, Skype, Facebook oder durch das Versenden von E‑Mails eine zentrale familiale Alltagspraxis dar, die wie selbstverständlich zu ihrem Aufwachsen dazugehört. Das heißt, der grenzüberschreitende Charakter ihres Unterwegsseins kann für junge Menschen, die oder deren Eltern migriert sind, bereits in der Kindheit angelegt sein (abhängig von der jeweiligen Ressourcenausstattung der Familien, den rechtlichen Möglichkeiten bzw. Beschränkungen und den Bedingungen in den jeweiligen Länderkontexten), und setzt sich auch im jungen Erwachsenenalter fort, in dem nicht selten größere grenzüberschreitende Entfernungen zurückgelegt werden (vgl. Urry 2007). So zeigt sich, dass junge Menschen, die über eine Migrationsgeschichte verfügen, häufiger als andere junge Menschen Grenzen im Zusammenhang mit Bildung und Ausbildung überschreiten. Die Möglichkeit, ihr spezifisches kulturelles Kapital, wie z. B. ihre Mehrsprachigkeit, einzusetzen und ihre familialen Beziehungen zu nutzen, bringt junge Menschen u. a. auch dazu, ein Praktikum, ein Auslandssemester, einen Freiwilligendienst oder einen beruflichen Aufenthalt im Herkunftskontext der Eltern zu absolvieren (Klein-Zimmer 2016).

Weshalb geraten diese Mobilitätspraktiken nicht als Bildungsmobilitäten im jungen Erwachsenenalter stärker in den Blick, werden als solche anerkannt und gefördert? Nicht nur, dass Mobilitätspraktiken junger Menschen in erster Linie im Zusammenhang mit der familialen Migrationsgeschichte beleuchtet und diskutiert werden, auch treten andere Mobilitätspraktiken durch diese Fokussierung in den Hintergrund bzw. werden unter einer Migrationsfolie betrachtet. So berichtet auch eine junge Frau, die im Rahmen einer Untersuchung zu transnationalen Lebensentwürfen junger Erwachsener mit Migrationsgeschichte (Klein-Zimmer 2016) befragt wurde, eher nebenbei:

„also ich hatte ein Auslandssemester in Schweden gemacht, das hab ich ja vergessen //aah@ja// das war im (.) fünften Semester genau. (.) Da war ich fünf Monate in Schweden war ich noch //ahja// genau in Stockholm das war richtig cool ja das war schön, also (.) eine sehr sehr wunderschöne Stadt und das war halt ERASMUS also hast Du auch tausend Menschen //mhm// kennengelernt aus verschiedenen Ländern oder so das, das hat auf jeden Fall (.) auch irgendwie einen, weiterentwickelt sozusagen //mhm// irgendwie dieses (.) Kontakt zu andern Menschen (.) aus andern Ländern und (.) mit andern Einstellungen und auch da war es glaub ich zum ersten mal richtig allein und hab allein gewohnt und sowas //ahja// das war irgendwie //ja// aber es hat gut funktioniert“

Die junge Frau berichtet an dieser Stelle von einem zentralen Verselbständigungsschritt in ihrem biographischen Entwurf, der als eine bildungsbezogene grenzüberschreitende Mobilitätspraxis gedeutet werden kann. Nicht selten zeichnen sich jugendliche Lebenswelten also durch Gleichzeitigkeiten und Verwobenheiten von unterschiedlichen Formen der grenzüberschreitenden Mobilität aus.

Weshalb werden diese doch allesamt bildungsbiographischen grenzüberschreitenden Unternehmungen junger Menschen mit Migrationsgeschichte nicht als solche betrachtet? Weshalb wird dem Erlernen von Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch mehr Anerkennung entgegengebracht als Sprachen, die als migrantische Sprachen bezeichnet werden? Weshalb stellen die einen grenzüberschreitenden Mobilitätspraktiken ein Potential im Lebenslauf dar und die anderen werden als Hindernis betrachtet?

Während in den bislang aufgeführten Beispielen ein grenzüberschreitendes Mobilsein für die jungen Menschen – sei es ins Herkunftsland der Eltern und darüber hinaus – zum einen aufgrund der ökonomischen Ressourcen, aber auch aufgrund ihrer deutschen Staatsangehörigkeit, meist problemlos möglich war, gestaltet sich diese Situation für junge Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, deutlich schwieriger bis unmöglich.

So können junge Geflüchtete kaum davon sprechen, dass ihre bisherigen grenzüberschreitenden Mobilitätserfahrungen anerkannt würden bzw. sie nach dem Ankommen in Deutschland Möglichkeiten hätten, an grenzüberschreitenden Mobilitätsprogrammen teilnehmen zu können, wenn sie denn wollten. Vielmehr, so zeigt es auch eine empirische Studie zu unbegleiteten und begleiteten geflüchteten Jugendlichen (Lechner und Huber 2017), fühlen sich die jungen Menschen in ihrem potentiellen mobilen Alltag sehr eingeschränkt:

Die Jugendlichen fühlen sich eher ausgebremst: „Wir machen überhaupt nichts, unsere ganze Zeit ist Freizeit, wie ein Kleinbaby, das nichts gemacht hat.“, meint ein 18jähriger, der in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt. Ein 14jähriges begleitetes Mädchen aus Syrien beschreibt beklemmend ihren Alltag so: „Ich stehe auf, sitze herum (…) und bleibe sitzen bis ich schlafe“. (Holthusen 2019, S. 24)

Georg Simmel hat dieses Ungleichgewicht in den Mobilitätsmöglichkeiten wie folgt beschrieben: „Denn sie [die Erleichterung der Ortsveränderung, K. K.-Z.] bewirkt, dass auch der prinzipiell Sesshafte doch jederzeit sich überallhin begeben kann, so dass er neben seiner Sesshaftigkeit mehr und mehr noch alle Vorteile der Mobilität genießt, während dem Unsteten, prinzipiell Beweglichen nicht im gleichen Masse die Vorteile der Sesshaftigkeit zugewachsen sind“ (Simmel 1992, S. 764). Diese Feststellung lässt sich auch auf junge Menschen übertragen, die aus den verschiedensten Gründen nach Deutschland eingereist sind. So entscheiden, neben anderen Ressourcen, im Wesentlichen der jeweilige rechtliche Status sowie die Staatsangehörigkeit, in welcher Weise die jungen Menschen lokal, regional oder transnational mobil sein können.

Möglichkeitsraum für alle jungen Menschen

Das Bild einer Generation der „offenen Grenzen“ trifft demnach keinesfalls für alle jungen Menschen zu und hängt neben der Ressourcenausstattung (ökonomisches Kapital, Bildungsgrad, Netzwerke) vor allem von dem jeweiligen politisch-rechtlichen Status ab, der den jungen Menschen zugeschrieben wird. „Positive Regelungen wie die europäische Freizügigkeit für EU-Bürger ermöglichen eine produktive Nutzung kultureller und sozialer Ressourcen für transnationale Laufbahnen; restriktive Regelungen des deutschen Ausländer- und Asylrechts reduzieren eine transnationale Orientierung quasi auf die Funktion der Überlebensstrategie“ (Fürstenau und Niedrig 2007, S. 257). Oder anders formuliert: für die einen jungen Menschen werden Förderprogramme aufgelegt (Studierendenmobilität/Ausbildungsmobilität), um sie in ihrer grenzüberschreitenden Mobilitätspraxis zu unterstützen; für andere junge Menschen, die in Deutschland leben, wie z. B. geflüchtete Jugendliche und junge Erwachsene, gelten hingegen starke Mobilitätseinschränkungen, die die Teilhabe an einem mobilen Jugendalltag verhindern und für unsichere Zukunftsperspektiven bei den jungen Menschen sorgen.

They produce societies that are more and more diverse – racially, ethnically, and religiously, but also in terms of membership and rights. There are increasing numbers of long-term residents without membership, who live for extended periods without full rights or representation, in conditions of semi-permanent impermanence. (Levitt und Crul 2018, S. 4)

Auch in der Forschungsliteratur werden die beiden Formate Mobilität und Migration bislang eher getrennt voneinander betrachtet. In der empirischen Studie von Tully und Baier (2006) zur Beschreibung des mobilen Jugendalltags, sprechen die Autoren zwar von der hochmobilen Jugend und dem Eindringen von Mobilitätspraktiken in alle Lebensbereiche jugendlichen Alltags. Ein migrationsbezogenes Mobilsein bzw. auch grenzüberschreitende Mobilitätspraktiken insgesamt, werden hier (noch) nicht thematisiert. Auch gibt es mittlerweile vielfältige Studien zu transnational ausgerichteten Lebensentwürfen junger Menschen mit Migrationshintergrund (u. a. Fürstenau und Niedrig 2007; Klein-Zimmer 2016) und zu grenzüberschreitenden Jugendmobilitäten in Form von EU-Austauschprogrammen oder Freiwilligendiensten und einer kritischen Auseinandersetzung zu den je unterschiedlichen Teilhabemöglichkeiten (Mangold 2013; Altissimo et al. 2017; Becker und Thimmel 2019; Hemming et al. 2019). Ein Zusammendenken der unterschiedlichen grenzüberschreitenden Mobilitätspraktiken und ihren Einfluss auf das alltägliche Mobilsein junger Menschen bleibt jedoch aus.

Zu fragen ist also, und hierzu regen die bisherigen Studien und dieser Schwerpunkt an, ob wir uns nicht ein sehr viel differenzierteres Bild von den lokalen, regionalen und transnationalen Mobilitätspraktiken aller junger Menschen in Deutschland machen müssen? Für die Ermöglichung von Jugend wäre es zudem eine zentrale Aufgabe der Gesellschaft, Ausgrenzung durch Herstellung von gleichen Teilhabechancen zu verhindern (vgl. BMFSFJ 2017). In Bezug auf die Ermöglichung eines grenzüberschreitenden Unterwegsseins für alle jungen Menschen ist dies bislang jedoch nur in Ansätzen gelungen.