1 Einführung

Bürgerbeteiligungen finden sich in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens in Deutschland, sind ganz unterschiedlich gestaltet und unterliegen einem sichtbaren Wandel. Motive der Initiatoren und deren Zielsetzungen sind keineswegs einheitlich. Häufig ist Unzufriedenheit mit öffentlichen Entscheidungen ausschlaggebend. Über Auswirkungen ist vergleichsweise wenig bekannt. Wer sich typischerweise als Bürger engagiert, wird bisher auch nur gelegentlich thematisiert. Empirische Untersuchungen beschränken sich häufig auf Einzelfallanalysen. Das ist insofern sinnvoll, da sich der Erfolg einer Bürgerinitiative direkt nur an dem speziellen Projekt messen lässt, ob das Ziel der Initiative erreicht ist. Eine breitere Datenbasis ist jedoch notwendig, um zu verallgemeinerbaren Aussagen zu gelangen. Was für ein Typ Mensch ist aktiv für über das Private hinausgehende Angelegenheiten? Wer beteiligt sich an diesen? Inwiefern wird er davon in seinen Einstellungen und Entscheidungen beeinflusst? Gesellschaftlich und ökonomisch sind Informationen hierüber von Interesse, da diese helfen können zu beurteilen, wo Fehlentwicklungen vorliegen und wie durch direkte Anreize und Nudging diesen entgegen gewirkt werden kann.

Eine erste Phase der Bürgerbewegung in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg lässt sich an pazifistischen und antimilitaristischen Demonstrationen, an den Ostermärschen festmachen (Kempf 1980), die 1960 bereits 1200 Teilnehmer hatten und sich hauptsächlich gegen Atomkraft richteten. Auch die Notstandsgesetzgebung und die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 waren Anlass für gewaltige Kundgebungen. Mit dem Regierungsantritt Willy Brandts 1969 unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“, wurde eine richtige Welle der Bürgerbeteiligung ausgelöst. Einen Wandel von klassischen zu neuen Formen der Partizipation konstatieren Pfenning und Benighaus (2009). Sie stellen politische Partizipation mit einem projektbezogenen Engagement in einem losen institutionellen Rahmen und auf freiwilliger Basis heraus. Auslösendes Element war ein Rückgang der Wahlbeteiligung. Mit der Proklamierung von Bürgergesellschaften, postalischen Bürgerumfragen und Bürgergutachten sollten die beobachteten Probleme abgemildert werden. Mit Hilfe von Planungszellen und runden Tischen sollte eine Vielfalt an Verfahren erzeugt werden, die den Fragestellungen angemessen sind und zu Handlungsempfehlungen führen. Die Entscheidungen müssen aber weiterhin von der Politik getroffen werden (Reidinger 2013). Ein Wandel der Bürgerbeteiligung lässt sich mit dem Aufkommen sozialer Netzwerke feststellen bei gleichzeitigem Rückgang der klassischen lokalen Bürgerinitiativen. Kommunikation über das Internet hat die Bürgerbeteiligung verändert. Netzwerkbildung ist einfacher, kostengünstiger und schneller durchführbar geworden. Der Fokus hat sich von den inhaltlichen Positionen hin zur Art der Kommunikation verschoben (Richter 2013). Die von staatlicher Seite auf den Weg gebrachten Bürgerräte haben in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen (Merkel et al. 2021). Ein vom Bundestag initiierter groß angelegter Versuch zu einem Bürgerrat Ernährungspolitik (2023) hat bereits Ergebnisse vorgelegt.

Auf internationaler Ebene werden europäische Bürgerinitiativen (Glogowski und Maurer 2013) und Energieinitiativen (Karytsas und Theodoropoulou 2022) diskutiert. Untersucht wird, wie lokale direkte Demokratie in Europa aussieht und warum sich Bürger an von staatlicher Seite initiierter Partizipation über soziale Medien beteiligen (Alarabiat et al. 2021).

Insgesamt hat sich die Thematik der Bürgerbeteiligung verschoben und das Betätigungsfeld ist erweitert worden. Es lässt sich kein eindeutiger Trend bei der Beteiligung an Bürgerinitiativen feststellen, aber sie sind keineswegs ein Auslaufmodell, nur das Medium, das für öffentliche Auftritte genutzt wird, ist im Zuge der Digitalisierung ein anderes als in der Vergangenheit. Über Bürgerräte ist noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Neue Demonstrationsformen zu speziellen Themen und von einzelnen Bevölkerungsgruppen initiiert, haben sich herausgebildet. Zu nennen sind hier zum Beispiel die Fridays for Future-Bewegung, Massendemonstrationen gegen rechts und die Straßenblockaden der „Letzten Generation“, die durch Anklebe-Aktionen über zwei Jahre hinweg auf sich aufmerksam gemacht hat.

Nachfolgend werden zunächst die vorliegenden Ergebnisse zu Bürgerinitiativen kurz referiert, um dann ausführlich eigene Auswertungen zu präsentieren. Der Artikel schließt mit einem kurzen Blick auf Bürgerräte als spezielle Art der Bürgerbeteiligung und spricht offene Fragen an.

Ziel dieses Beitrags ist es, empirisch neue Ergebnisse über Bürgerinitiativen zu liefern. Verdeutlicht wird, welche Persönlichkeitsmerkmale prägend dafür sind, ob sich Bürgerinnen und Bürger bei sozialen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen engagieren. Ausgangspunkt bilden aus der Literatur bekannte Untersuchungen, in denen übliche sozio-ökonomische Variablen wie Geschlecht, Alter oder Schulbildung herangezogen werden. Analysiert wird, ob sich unter Verwendung der Daten des Sozio-ökonomischen Panels die Ergebnisse auf Deutschland übertragen lassen. Der eigene Beitrag besteht aber vor allem darin, bisher nicht diskutierte Bestimmungsgründe für die Bürgerbeteiligung in die empirische Analyse einzubeziehen. Dies sind die aus der Psychologie stammenden Big 5-Konstrukte sowie die von Gerechtigkeitsüberlegungen getragenen Begriffe. Darüber hinaus wird untersucht, welche Bedeutung der Bürgerbeteiligung, gemessen an anderen, nicht am Eigennutz orientierten Aktivitäten, beizumessen ist und ob ein Zusammenhang mit der Lebenszufriedenheit besteht.

2 Empirische Ergebnisse zu Bürgerinitiativen

2.1 Wer beteiligt sich?

Empirische Analysen beschränken sich meist auf qualitative Untersuchungen, sagen wenig darüber, wer mit welchen Charakteristika sich an Bürgerinitiativen beteiligt und welche Auswirkungen sich für die Betroffenen ergeben.

Bereits relativ früh hat sich Kempf (1980) zur Frage geäußert, inwiefern sich Personen mit und ohne Bürgerbeteiligung unterscheiden. Er hebt Alter, Geschlecht, Schulbildung und schichtspezifische Unterschiede hervor. Neu ist die Untersuchung von Shi et al. (2022) für China. Analysiert wird dort, ob ein Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und dem Engagement bei politischen Entscheidungen besteht und von welchen Persönlichkeitsmerkmalen dies abhängt, ob das Geschlecht, das Alter, die Schulbildung, die religiöse Ausrichtung, das Einkommen, die Parteimitgliedschaft, der Familienstand, der Status der Eltern, der Wohnsitz auf dem Land oder in der Stadt oder ethnische Unterschiede neben der Berücksichtigung des individuellen Sozialkapitals, der Einstellung zur gesellschaftlichen Toleranz und des sozialen Vertrauens eine Rolle spielen. Die Autoren finden statistisch gesicherte Einflüsse bei all diesen Merkmalen auf die Beteiligung an Bürgerinitiativen außer bei den Variablen Religiosität und Familienstand.

Für Deutschland werden in dieser Studie Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) 2005–2021 verwendet, und zwar für die Beteiligung an Bürgerinitiativen (BI) und für die Merkmale (X1-X12 – vgl. Tab. 1), orientiert an denen, die Shi et al. (2022) herangezogen haben. Bei den meisten dieser Variablen lässt sich unschwer ein möglicher Zusammenhang mit BI begründen oder wird in Shi et al. formuliert, so dass darauf nicht weiter eingegangen wird. Am wenigsten intuitiv einleuchtend ist vielleicht die Bedeutung von X10 für BI. Die Religionszugehörigkeit kann einerseits als Proxy für ethische Einstellungen und altruistisches Verhalten interpretiert werden, das durch die Eltern geprägt und auf die Kinder übertragen wird. Andererseits drückt X10 auch eine Bindung an die christliche Religion aus, die mit Aktivitäten ihrer Anhänger verbunden ist. Welche der beiden Hypothesen stärker durchschlägt, ist eine empirisch zu beantwortende Frage. Nach Tab. 1, Zeile X10 zu urteilen, spricht weniger für die erste Vermutung. Angemerkt sei, dass nicht einfach die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion, sondern die des Vaters herangezogen wird und dass die Bedeutung von X10 für die weitere Analyse eher gering einzuschätzen ist. Voruntersuchungen haben gezeigt, dass die Verwendung der Religionszugehörigkeit des Vaters empirisch zu einem etwas klareren Bild führt als die der Mutter als Bestimmungsgröße.

Tab. 1 Arithmetisches Mittel für X1 bis X12, getrennt für Personen, die an Bürgerinitiativen beteiligt waren, und für solche, die nicht beteiligt waren

In Tab. 1 sind die arithmetischen Mittel von X1-X12 ausgewiesen, getrennt für Personen, die an Bürgerinitiativen teilgenommen haben (BI = 1) und solchen, die nicht beteiligt waren (BI = 0).

Zu beachten ist, dass die ausgewiesenen Mittelwerte über die Jahre hinweg gepoolt sind und dass die Zahl der Personen, für die Informationen über BI und X1-X12 vorliegen, schwankt. Die verwendeten Merkmale werden in unterschiedlichen Wellen erhoben. Weder für BI noch für die meisten der Variablen X1-X12 stehen Angaben in allen Wellen 2005 bis 2021 zur Verfügung. Die Zahl der hier einfließenden Beobachtungen für BI beläuft sich auf 77.771. Beginnend mit dem Jahr 2005 wird BI in jeder zweiten Welle erfasst. X7 berücksichtigt nur Werte aus dem Jahr 2021. Der Stichprobenumfang beläuft sich hier auf N = 6434. Demgegenüber stehen z. B. für X1 Werte für alle Wellen zur Verfügung, nämlich N = 78.635, wobei die Zahl der Beobachtungen pro Jahr zwischen 2250 und 12.603 liegt. Parteinähe: 1 = sehr stark, …, 5 = sehr schwach; Schulabschluss: 1 = Hauptschule, …, 8 = Gymnasium; Ortsgröße: 1 = Großstadt, …, 4 = ländliche Gemeinde; Arbeitszeit; X11 = tatsächliche Arbeitszeit pro Woche einschließlich eventueller Überstunden. Ergänzend zu X11 kann noch die gewünschte Wochenarbeitszeit (X11_g) ausgewiesen werden. Hierfür folgen:

$$(\mathrm{X}11\_ \mathrm{g}| \mathrm{BI}=0)=25{,}012\ \mathrm{und}(\mathrm{X}11\_ \mathrm{g}| \mathrm{BI}=1)=23{,}593$$

Sowohl für X11 als auch für X11_g ist der Arbeitsstundenumfang bei Personen, die sich an Bürgerinitiativen beteiligen, im Durchschnitt geringer als bei denjenigen, die sich nicht beteiligen. Wer weniger arbeitet oder weniger arbeiten möchte als andere, zeigt eine höhere Bereitschaft, sich bei Bürgerinitiativen zu engagieren.

In einem nächsten Schritt werden alle demographischen und sozio-ökonomischen Merkmale aus Tab. 1 zusammen als erklärende Variablen für BI herangezogen, wobei BI als Dummy-Variable definiert ist. Datengrundlage ist die Welle 2021 des SOEP. Als signifikant (α = 0,10) erweist sich bei einer Probitschätzung mit N = 2151 der Einfluss der Variablen X4, X7, X11, X11_g und X12:

$$\begin{aligned}\mathrm{BI}=-0{,}056-0{,}120\cdot \mathrm{X}4-0{,}384\cdot \mathrm{X}7+&0{,}004\cdot \mathrm{X}8+0{,}009\cdot \mathrm{X}11-\\ &0{,}011\cdot \mathrm{X}11\_ \mathrm{g}+0{,}332\cdot \mathrm{X}12\end{aligned}$$
(1)

Bei einer alternativen Spezifikation, bei der X11 durch die Dummy-Variable Teilzeit X11a ersetzt wurde und X11_g unberücksichtigt blieb, ergab sich mit N = 2283:

$$\mathrm{BI}=-0{,}107-0{,}227\cdot \mathrm{X}4-0{,}392\cdot \mathrm{X}7+0{,}021\cdot \mathrm{X}8+0{,}010\cdot \mathrm{X}11\mathrm{a\ }+0{,}303\cdot \mathrm{X}12$$
(2)

wobei sich außer bei X8 der Einfluss aller Regressoren als signifikant erwies bei α = 0,05. Inhaltlich bedeutet dies, Frauen beteiligen sich weniger als Männer an BI. Personen, die eine starke Nähe zu der von ihnen bevorzugten politischen Partei signalisieren, und auf dem Land leben, engagieren sich mehr als diejenigen, die sich parteipolitisch wenig gebunden fühlen und deren Wohnsitz die Großstadt ist. Beschäftigung im öffentlichen Dienst und kürzere Arbeitszeiten, wie Teilzeitbeschäftigung, finden sich verstärkt bei BI-Aktivisten. Bemerkenswert ist, dass diejenigen, die nur eine geringe Nähe zu einer politischen Partei – zu welcher auch immer – aufweisen, sich weniger als andere an BI beteiligen. A priori ist die umgekehrte Hypothese keineswegs abwegig. Wer mit der Parteipolitik generell nicht einverstanden ist und daher nur eine geringe Parteibindung empfindet, versucht über andere Wege, z. B. über BI, Einfluss auf gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Entscheidungen zu nehmen. Es zeigt sich jedoch: wer politisch interessiert ist, fühlt sich eher zu einer Partei hingezogen als desinteressierte. Die Erfahrung mit dieser Bindung macht dann aber vielleicht deutlich, dass die Nähe zu dieser Partei allein unzureichend ist, sondern dass es eines weiteren persönlichen Engagements bedarf.

Ein Problem in (1) und (2) ist die Messung der Variablen „Parteinähe“. Unterstellt wird, dass es sich bei X7 um eine unbeobachtete metrische Variable handelt. Vermutet wird jedoch, dass die Befragten nur in der Lage sind, zwischen einer diskreten Anzahl an Zuständen zu unterscheiden, für die der Einfachheit halber gleiche Abstände angenommen werden. Alternativ kann anstelle von (1) oder (2) die Variable X7 in fünf Dummy-Variablen zerlegt werden, d. h. die Annahme gleicher Abstände wird aufgegeben:

X7_k = 1, wenn X7 = k; X7_k = 0, wenn X7 ≥ 1 & X7 ≤ 5, wobei k = 1, …, 5.

Wird eine Regression mit absolutem Glied geschätzt, muss eine der Dummy-Variablen unberücksichtigt bleiben, z. B. X7_4. In diesem Fall ergibt sich eine Probitschätzung von

$$\begin{aligned}&\mathrm{BI}=-2{,}075-0{,}232\cdot \mathrm{X}4+1{,}588\cdot \mathrm{X}7\_ 1+1{,}197\cdot \mathrm{X}7\_ 2+\\ &0.734\cdot \mathrm{X}7\_ 3+1{,}455\cdot \mathrm{X}7\_ 5+0{,}024\cdot \mathrm{X}8+0{,}011\cdot \mathrm{X}11\mathrm{a\ }+0{,}309\cdot \mathrm{X}12\end{aligned}$$
(3)

Insignifikant ist bei dieser Probitschätzung der Einfluss der Variablen X8 und für X7_3 ergibt sich ein p‑Wert von 0,1001.

Im SOEP wird nicht direkt die Mitgliedschaft zu einer Partei erfragt, sondern nur welcher Partei die Befragten zuneigen (partei_b; b = SPD, CDU, FDP GRÜNE, LINKE, AfD). Kendall’s τ (tau-b) kann zur Bestimmung des Zusammenhangs zwischen BI und partei_b herangezogen werden, und ein Test auf Unabhängigkeit lässt sich durchführen (vgl. Agresti 1984, S. 162 f, Kendall und Gibbons 1990). Aus den Angaben der letzten beiden Zeilen in Tab. 2, die ebenfalls auf Basis der SOEP-Daten 2021 ermittelt wurden, ist zu entnehmen, dass sich Anhänger der Linken eher an Bürgerinitiativen beteiligen als andere, während AfD-Anhänger eine geringere Neigung aufweisen. Es zeigt sich weiterhin, dass für SPD-Anhänger, Anhänger der Linken und der AfD die Hypothese der Unabhängigkeit bei α = 0,01 abgelehnt werden muss im Gegensatz zu CDU, FDP und GRÜNE.

Tab. 2 Kendall’s tau‑b und Test auf Unabhängigkeit zwischen Bürgerbeteiligung und Nähe zu politischen Parteien

2.2 Sind die Big 5-Persönlichkeitsmerkmale maßgeblich für die Beteiligung an Bürgerinitiativen?

In Tab. 1 und in die ausgewiesene Schätzung gehen Merkmale ein, die in der Literatur als wesentlich eingestuft werden. Ob diese ausschlaggebend sind für die persönliche Entscheidung, sich an Bürgerinitiativen zu beteiligen, ist keineswegs eindeutig.

Es lässt sich vermuten, dass jeder Mensch seine Entscheidungen eher nach individuellen Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen trifft. Hier können die in der Persönlichkeitspsychologie (Stern 1911, Goldberg 1992) entwickelten Big-Five-Merkmale (openness (O), extraversion (E), conscientiousness (C), agreeableness (A) und neuroticism (N)) einen Anhaltspunkt liefern. Abb. 1 zeigt, wie die Bevölkerung im Durchschnitt diese 5 Merkmale auf einer Skala 5–28 bewertet, getrennt für Personen mit (1) und ohne (0) BI-Beteiligung. Die Antworten zu 16 Fragen aus dem SOEP 2019 bilden die Grundlage der Bewertung. 3 bzw. 4 der Fragen können einem Merkmal zugeordnet werden. Die Befragten sollten auf einer Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 7 (stimme voll zu) antworten. Theoretisch liegt damit der nicht gewichtete Gesamtsummenwert pro Person und Merkmal zwischen 5 und 28.

Abb. 1
figure 1

Big-Five-Merkmale für Menschen mit (1) und ohne (0) Teilnahme an Bürgerinitiativen. Quelle: SOEP (2019)

Die Rangfolge der Gesamtsummenwerte für die fünf Merkmale zeigt bei Personen mit und ohne Bürgerbeteiligung keinen Unterschied. Lediglich bei der Offenheit (= O-Wert: erfinderisch, einfallsreich, neugierig) lässt sich ein deutlicher Unterschied erkennen. Dagegen scheinen der E‑Wert (gesellig), der C‑Wert (effektiv, organisiert), der A‑Wert (kooperativ, freundlich, mitfühlend) und der N‑Wert (emotional labil, verletzlich, nervös, unsicher, unzufrieden) ohne Bedeutung dafür zu sein, ob sich jemand an Bürgerinitiativen beteiligt. Diejenigen, die sich beteiligen, weisen im Durchschnitt einen höheren Grad an Offenheit auf. Sie sind einfallsreich, bringen neue Ideen in die Diskussion. Diese Fähigkeiten können nutzbringend bei Bürgerinitiativen eingesetzt werden.

Von den fünf Merkmalen erhält Neurotizismus bei der subjektiven Beurteilung den geringsten durchschnittlichen Wert, ist jedoch bei denjenigen, die sich an keiner BI beteiligt haben, etwas höher. Personen mit einem hohen N‑Wert neigen dazu, auf BI tendenziell destruktiv zu wirken.

2.3 Ist die Einschätzung, was als fair angesehen wird, für die eigene Entscheidung bedeutsam, ob man sich an Bürgerinitiativen beteiligt?

Als alternative oder ergänzende Hypothese lässt sich formulieren: Die persönliche Bewertung, wann eine Gesellschaft als fair eingestuft wird, beeinflusst die Entscheidung, ob sich jemand an BI beteiligt. Der Gedanke hinter dieser Vermutung ist, dass die Motivation, sich an BI zu beteiligen, altruistisch geprägt ist. In Abb. 2 wird zwischen vier Fairnesskriterien unterschieden, die im SOEP 2021 erfragt werden. Auf der Ordinate ist der Wertebereich für die Fairness-Kriterien abgebildet, der sich theoretisch zwischen 1 und 7 bewegt.

Abb. 2
figure 2

Bürgerinitiativen und Fairnesskriterien getrennt für Beschäftigte mit (1) und ohne (0) Teilnahme an Bürgerinitiativen. Quelle: SOEP (2021)

Die größten Zustimmungswerte der vier Fairnesskriterien erhalten „Förderung der Bedürftigen“ und „höherer Lohn für Fleißige“. Beim ersten Kriterium stehen altruistische Überlegungen im Vordergrund, während beim zweiten die individuelle Beeinflussbarkeit prägend ist. Keine oder kaum Unterschiede lassen sich jedoch für Personen mit und ohne Beteiligung an BI feststellen. Das ist im Gegensatz dazu für „gleicher Lohn für alle“ der Fall. Diejenigen, die gleichen Lohn für alle befürworten, finden sich vermehrt in der Gruppe der BI-Teilnehmer.

Sinnvoll erscheint es daher, die Beziehung (1) um den Einfluss Offenheit (als X13 in (4) bezeichnet) und das Fairnesskriterium „gleicher Lohn für alle“ (als X14 in (4) bezeichnet) zu ergänzen.

Dies führt zu der Probitschätzung:

$$\begin{aligned}&\mathrm{BI}=\ -1{,}432-0{,}127\cdot \mathrm{X}4-0{,}345\cdot \mathrm{X}7+0{,}075\cdot \mathrm{X}8+0{,}006\cdot \mathrm{X}11+0{,}402\cdot \mathrm{X}12+0{,}029\cdot \mathrm{X}13+0{,}089\cdot \mathrm{X}14\end{aligned}$$
(4)

Alle sieben Determinanten für BI erweisen sich als signifikant bei α = 0,05. Für die anderen Big-Five-und Fairness-Merkmale zeigt sich kein statistisch gesicherter Zusammenhang mit BI.

2.4 Ist der Einfluss auf die Beteiligung an Bürgerinitiativen exogen?

Ökonometrisch wird ein IV-Probitmodell mit einem endogenen Regressors x1 geschätzt (Wooldridge 2010, S. 585 ff.). Formal liegt folgender Ansatz zugrunde:

$$y_{1}*=y_{2}\upbeta +x_{1}\upgamma +\mathrm{u}$$
(5)
$$y_{2}=x_{1}\Pi _{1}+x_{2}\Pi _{2}+\mathrm{v}$$
(6)

Für die Störgrößen wird angenommen, dass (u, v) ∼ N (0, Σ) gilt, wobei σ11 auf eins normiert ist, um das Modell identifizieren zu können; β and γ sind Strukturparameter. Die Matrizen Π1 und Π2 erfassen Parameter der reduzierten Form eines rekursiven Modells; y2 ist ein beobachtbarer, quantitativer Regressor. Demgegenüber ist y1∗, nicht beobachtbar, sondern nur die Dummy-Variable y1.

$$Y_{1}=\begin{cases} \ 0{,}\text{wenn}\,y_{1}*\le;0\\ \ 1{,}\text{wenn}\,y_{1}*\geq 0 \end{cases} $$
(7)

Die Verwendung eines linearen Wahrscheinlichkeitsmodells, dem die Annahmen für ein klassisches Regressionsmodell zugrunde liegen, oder die eines einfachen Probitmodells, erscheint wenig sinnvoll. Es bestehen Zweifel an der Gültigkeit der Exogenitätsannahme für einzelne Regressoren. Ausgehend von zwei Nullhypothesen:

H1

Das Einkommen ist ein exogener Regressor.

H2

Der Umfang der Arbeitszeit ist ein exogener Regressor.

wird bei jeweils alternativen Instrumenten auf Exogenität geprüft. Wenn H1 oder H2 zu verwerfen ist, sind OLS-Schätzer des linearen Wahrscheinlichkeitsmodells aber auch Probitschätzer verzerrt und inkonsistent. Zu vermuten ist, dass die Höhe des Einkommens nicht nur bestimmend dafür ist, ob sich jemand an Bürgerinitiativen beteiligt, sondern dass sich diejenigen, die sich bei ihren Aktivitäten mehr von altruistischen Motiven leiten lassen, dem Einkommen einen geringeren Stellenwert beimessen. Entsprechend ist es naheliegend, dass die (gewünschte) Arbeitszeit einerseits Einfluss darauf nimmt, ob eine Präferenz für die Teilnahme an BI besteht, dass aber andererseits das Engagement bei BI weniger Raum für längere Arbeitszeit lässt.

Die Ergebnisse der Tests in Tab. 3 sind gemischt. Während bei M1 H0 nicht abzulehnen ist, muss M2 eindeutig verworfen werden. Weniger klar ist das Ergebnis bei M3 und M4. Es sollten IV-Schätzungen für M2 und mit Abstrichen auch für M4 und M3 durchgeführt werden. Auf M1 könnte verzichtet werden. Dessen Schätzung dient lediglich als Referenz. Sie macht klar, dass im Vergleich zu (4) keine wesentlichen Unterschiede bestehen. Auf die Wiedergabe der vier Schätzungen wird aus platzsparenden Gründen verzichtet.

Tab. 3 Tests auf Exogenität zwischen Teilnahme an Bürgerinitiativen und deren Determinanten

2.5 Beteiligung an Bürgerinitiativen, Ausübung von Ehrenämtern und Spendentätigkeit

Zu den individuellen Aktivitäten, die gesellschaftlich von Bedeutung sind, gehört zweifellos die Teilnahme an Bürgerinitiativen. Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, die zumindest primär nicht auf marktwirtschaftlich orientiertes Verhalten ausgerichtet sind, wie die Übernahme von Ehrenämtern und das Spenden von Geldern für gemeinnützige Projekte oder Einzelpersonen (Hübler 2023, 2024).

Ein Vergleich, wie viele Menschen sich an solchen Aktivitäten beteiligen, zeigt deren relative Bedeutung. Abb. 3 liefert einen Hinweis, dass die Teilnahme an Bürgerinitiativen in der Bevölkerung deutlich weniger ausgeprägt ist als die Übernahme eines Ehrenamtes und erst recht als die Bereitschaft zum Spenden. Auf der Ordinate sind Anteilswerte ausgewiesen. Nach Abb. 3 beteiligen sich z. B. in der Gruppe derjenigen, die komplexe Politik oft nicht verstanden haben, zu 10% an Bürgerinitiativen, 20% nehmen ein Ehrenamt wahr und 30% haben Geld für außerhalb der engeren Familie und an Organisationen gespendet. Da es sich bei den drei Aktivitäten um häufbare Merkmale handelt, kann die Summe der drei Anteilswerte 1 übersteigen. Sicherlich sind die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten mit für die Unterschiede verantwortlich. Die Graphik verdeutlicht zusätzlich, dass diejenigen, die häufiger Schwierigkeiten haben, die heutige komplexe Politik zu verstehen, bei allen drei Aktivitäten zurückhaltender sind als andere. Wer angibt, weniger Probleme zu haben, komplexe Politik zu verstehen, weist eine größere Neigung als andere auf, sich an den drei untersuchten, gesellschaftlich relevanten Feldern zu beteiligen, bei denen nicht der eigene monetären Vorteil im Vordergrund steht.

Abb. 3
figure 3

Menschen mit Erfahrungen in Bezug auf Bürgerinitiativen, Ehrenämter und Spendentätigkeit. Quelle: SOEP (2019, 2020)

Soll die Bereitschaft in allen drei Feldern gesteigert werden, könnte eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit hilfreich sein, die die Politik einfach erklärt und überzeugend begründet, warum Entscheidungen in der vorliegenden Form getroffen wurden. Etwas unerwartet erscheint die rückläufige Beteiligung für diejenigen, die angegeben haben, dass sie nie Schwierigkeiten hatten, die komplexe Politik zu verstehen, im Vergleich zu denjenigen, die in der Vergangenheit selten Probleme hatten. Teilweise bewusst oder unbewusst falsche Antworten bei dieser Kategorie könnten dafür verantwortlich sein.

2.6 Nimmt die Lebenszufriedenheit bei Bürgerbeteiligung zu?

Allein mit dem Hinterfragen von Merkmalen, in denen sich BI-Beteiligte von anderen unterscheiden, ist es nicht getan. Vielmehr besteht auch ein Interesse daran zu erfahren, welche Auswirkungen es hat, wenn sich Menschen an BI beteiligen, da diese mutmaßlichen Einflüsse durchaus ihre Entscheidung für oder gegen BI tangieren können.

Lebenszufriedenheit (ZUF), gemessen durch eine Skala von 0 bis 10, in Verbindung mit dem Vertrauen in Politiker sollte hier nicht bedeutungslos sein. Abb. 4 liefert einen Eindruck in dieser Hinsicht. Je höher das Vertrauen in die Politik ist, abgetragen auf der Abszisse, umso höher ist die Lebenszufriedenheit, abgetragen auf der Ordinate, unabhängig davon, ob BI-Beteiligung vorliegt oder nicht. BI-Teilnehmer empfinden aber aufgrund ihrer Erfahrung mit BI für sich nur einen vergleichsweise geringeren Zuwachs an Zufriedenheit, wenn das Vertrauen in die Politik steigt. Sie glauben, dass ihr momentanes Vertrauen in die Politik fragil ist. Verbessert werden kann dies, wenn die Bürger mit ihrem Anliegen ernster genommen werden, wenn z. B. Zwischenbewertungen laufender Projekte erfolgen und die Ergebnisse zu Korrekturen im weiteren Vorgehen führen. Als Vergleichsmaßstab dient der Verlauf des Zusammenhangs zwischen Zufriedenheit und Vertrauen in die Politik für die Gruppe der Personen ohne BI-Beteiligung. Es zeigt sich ein deutlich stärkerer Anstieg der Zufriedenheit mit wachsendem Vertrauen in die Politik. Insgesamt wird bei den ZUF-Angaben nicht der gesamte mögliche Wertebereich ausgeschöpft.

Abb. 4
figure 4

Lebenszufriedenheit und Vertrauen in Politiker getrennt für Personen mit und ohne Beteiligung an Bürgerinitiativen, Anmerkung: Abb. 4 zeigt lokalgewichtete Glättungslinien, vgl. Hübler 2005, S. 221 f.; Daten: SOEP (2021)

2.7 Sind Menschen mit Bürgerbeteiligungserfahrung produktiver als andere?

In eine ganz andere Richtung als die Frage der Lebenszufriedenheit geht die zunächst irrelevant erscheinende Untersuchung, ob Bürgerbeteiligung und Produktivität in einem Zusammenhang miteinander stehen.

Abb. 5 offenbart einen interessanten Unterschied für Personen mit und ohne BI-Beteiligung zum Zusammenhang zwischen Produktivität und Vertrauen in die Politik. Zunächst zeigt sich, dass bei geringem Vertrauen eine positive Korrelation existiert. Diese nimmt mit langsam wachsendem Vertrauen für die Gruppe der BI-Teilnehmer zunächst deutlich schneller zu, um nach Erreichen des Maximums wieder abzufallen. Demgegenüber verstärkt sich der Korrelationszusammenhang bei denjenigen ohne BI-Erfahrung kontinuierlich.

Abb. 5
figure 5

Produktivität und Vertrauen in Politiker getrennt für Personen mit (1) und ohne (0) Teilnahme an Bürgerinitiativen. Anmerkung: Abb. 5 zeigt lokalgewichtete Glättungslinien, vgl. Hübler 2005, S. 221 f. Arbeitsproduktivität und ein erfolgreiches Berufsleben werden hilfsweise durch Erwerbseinkommen pro Arbeitszeit, bezogen auf einen Monat, berechnet. Daten: SOEP (2021)

Produktive Menschen sind üblicherweise von ihren Fähigkeiten überzeugt. Sie wollen, wenn sie sich an BI beteiligen, auch die ihrer Meinung nach richtigen Wege und Ziele einbringen und durchsetzen. Sie glauben zunächst mit ihrem Einsatz bei BI, das Projekt erfolgreich in Zusammenarbeit mit der Politik begleiten zu können. Es entsteht ein Vertrauensverhältnis zwischen den Akteuren. Im Verlaufe der Beteiligung an Bürgerinitiativen zeigt sich aber häufig, dass die erwarteten Erfolge ausbleiben. Behördliche Auflagen, unklare Kompetenzen innerhalb der BI, ein träges und zähes Abstimmungsverhalten zwischen den Politikern und innerhalb der häufig sehr heterogen personellen Zusammensetzung der BI aufgrund divergierender Zielsetzungen zeichnen dafür verantwortlich. Aus Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit folgt für einen Teil der im Erwerbsleben erfolgreichsten Personen ein Rückzug aus den gemeinsam mit anderen initiierten Projekten. Dies drückt sich durch den Knick im rechten Teil von Abb. 5 aus.

Andere Personen bleiben aus altruistischen Motiven weiter den BI verbunden. Oder anders ausgedrückt, innerhalb der Gruppe der erfolgreicheren und an BI beteiligten Personen weist der Grad des Vertrauens in die Politik eine starke Spreizung auf. Es besteht eine nichtlineare Beziehung. Mehr Kompetenzen für die im Erwerbsleben erfolgreichen Personen, ausgedrückt durch deren Produktivität, könnte zumindest bei einem Teil deren weitere Mitarbeit sichern Dem stünde dann allerdings Verdrossenheit, Widerspruch und verminderter persönlicher Einsatz der mit viel Enthusiasmus gestarteten anderen BI-Teilnehmer gegenüber. Nicht zuletzt daran sind in der Vergangenheit viele BI gescheitert.

3 Ausblick: Bürgerräte als Bürgerbeteiligung

Neuere Versuche, die Bürgerbeteiligung zu verbessern, laufen auf die Etablierung von Bürgerräten hinaus. Im Unterschied zu traditionellen Formen geht die Initiative von staatlichen Stellen oder Vereinen aus und die Schlüssel für Beratungs- und gegebenenfalls Entscheidungsgremien werden a priori festgelegt. Bürger sollen beraten, aber Abgeordnete entscheiden, so hieß es in den Tagesthemen der ARD vom 21.07.2023. Eine proportional geschichtete Zufallsauswahl (Baron 2023) eignet sich, um eine Annäherung an das Repräsentationsideal zu erreichen. Darüber hinaus sollen politisch unterrepräsentierte Personengruppen stärker als bislang in zufallsgestützte Gremien eingebunden werden.

Ob das Kriterium Repräsentativität in jedem Fall wünschenswert ist, hängt von der Zielsetzung ab. Geht es eher darum, einen Bürgerrat zu bestimmen, der mit seinen Vorschlägen zu einem größtmöglichen Zielerreichungsgrad kommt, dann ist ein überproportionaler Anteil an Experten zu der jeweiligen Thematik von Vorteil. Alternativ könnte eine Vorauswahl auch so erfolgen, wie sie bei üblichen Bürgerinitiativen gang und gäbe ist, dass sich nämlich zunächst die engagieren, die am stärksten von der Thematik betroffen sind. Das hätte den Vorteil, dass das Ziel mit großem Nachdruck verfolgt wird. Eine Gefahr bestünde jedoch darin, dass die Zusammensetzung zu sehr von Lobbyisten geprägt wäre.

In Bürgerrat Demokratie (2023) werden die wesentlichen Argumente für und gegen eine Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch Bürgerbeteiligung zusammengetragen. Positiv hervorgehoben werden unter anderem Meinungsaustausch, Förderung einer aktiven Bürgerschaft, bessere Repräsentativität, Kontrolle von Lobbyismus, Schaffung von Transparenz, schnellere Entscheidungsfindung, bessere Qualität der Entscheidungen, Überwindung der Politikverdrossenheit, mehr Zufriedenheit für die Gesamtbevölkerung ermittelt. So war der Anteil derjenigen mit Hauptschulabschluss deutlich niedriger als der entsprechende Wert für die Gesamtbevölkerung. Dem steht gegenüber, dass dadurch hohe Anforderungen an Bürgerinnen und Bürger gestellt werden, die Gefahr der Beeinflussung durch Interessengruppen besteht, dass ein ganz unterschiedlicher Wissensstand der Beteiligten zu verzerrten Entscheidungen führen kann, dass Minderheiten benachteiligt werden könnten, dass die wegen der Verarbeitung großer Datenmengen notwenige Online-Beteiligung zu Verzerrungen der Repräsentativität führen können und zu abnehmendem persönlichen Kontakten beim Austausch von Informationen. Weiterhin sind ein hoher finanzieller Aufwand und die Gefahr zu nennen, dass die Ergebnisse ohne Wirkung bleiben.

Bisher sind nur wenige, allgemein verfügbare Daten vorhanden. Die Institute für Demokratie- und Partizipationsforschung und für transformative Nachhaltigkeitsforschung (2021) liefern mit ihrem Evaluationsbericht zum Bürgerrat erste wesentliche empirische Befunde. Es zeigt sich (Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt 2021), dass Bürgerratsmitglieder politisch eher links oder zur Mitte orientiert sind, sich mehrheitlich oder sogar stark für Politik interessieren, dass Deutschland als ganz überwiegend demokratisch einstuft wird, dass von den öffentlichen Medien am meisten das Fernsehen genutzt wird, um sich politisch zu informieren, gefolgt von Tageszeitungen und sozialen Medien, dass Aktivitäten am stärksten in Kirchen und Sportvereinen signalisiert werden, aber weniger in Parteien und Gewerkschaften.

Ein Problem bei vielen dieser Angaben ist, dass keine vergleichbaren Angaben für die Gruppe derjenigen vorliegen, die keinem Bürgerrat angehören. Nur bei einzelnen der erhobenen Merkmale finden sich entsprechende Angaben für Deutschland insgesamt. Offensichtlich gibt es unter den Bürgerräten relativ mehr Personen mit höherem Bildungsabschluss als in der Grundgesamtheit.

Aufgrund der Angaben in Bürgerrat Klima (2021) lässt sich für fünf Merkmale ermitteln, ob die Verteilung auf die Merkmalsausprägungen bei den Klimaratsmitgliedern signifikant von der Verteilung in der Grundgesamtheit abweicht. Tab. 4 zeigt für die Merkmale Schulabschluss (Z2) und Relevanz des Klimaschutzes (Z5) eine Ablehnung von H0. Die Tests für die anderen drei Merkmale führen zu keiner statistisch klaren Entscheidung.

Tab. 4 χ2-Tests auf Gleichheit der Verteilung von Merkmalsausprägungen bei Bürgerratsmitgliedern und der Gesamtbevölkerung in Deutschland

Parteipräferenzen zugunsten der Grünen und der CDU/CSU ließen sich bei den Ratsmitgliedern ausmachen im Vergleich zu den Angaben bei der INSA-Sonntagsfrage. Relativ zur Gesamtbevölkerung finden sich unter den Teilnehmern nur niedrige Zustimmungswerte für AfD und FDP sowie mit Abstrichen für die SPD. Insgesamt zeigten sich mehr als 80% mit den Ergebnissen und dem Prozess der Urteilsfindung zufrieden.

Kürzlich – Tagesschau 14. Januar 2024 – hat der Bürgerrat für Ernährungspolitik seine Empfehlungen vorgelegt. Vorrangig wird danach kostenfreies Mittagessen für alle Kinder empfohlen. Nicht unerwartet äußerten sich die Teilnehmer eher skeptisch gegenüber der tatsächlichen Umsetzung ihrer Empfehlungen durch die Politik. Mehr Verbindlichkeit bei der Umsetzung der Empfehlungen durch die Politik wird erwartet. Viele Teilnehmer waren sich unsicher, was die politische Relevanz der Ergebnisse betrifft.

Bemängeln lässt sich, dass die Initiierung der Bürgerräte von staatlicher Seite ausgehen, dass das Auswahlverfahren a priori feststeht und dass durch die Unverbindlichkeit der Empfehlungen das Instrument „Bürgerrat“ zum Teil eine negative Gesamtbewertung erfährt.

Fischer-Bollin (2021) stellt die Frage, ob Bürgerräte ein Zukunftsmodell sind, und damit implizit vielleicht sagen will, dass Bürgerinitiativen in traditioneller Form ein Auslaufmodell sind (siehe auch Montag und Beribes 2021). Bürgerräte müssen nach seiner Meinung in eine breitere öffentliche Kampagne oder einen allgemeineren Bürgerdialog eingebunden werden. Er hebt hervor, dass Bürgerräte einerseits Teil der allgemeinen Willensbildung der Bevölkerung sind und andererseits konkret der Beratung der politischen Entscheidungsträger dienen. Daraus ergibt sich a priori ein Dilemma: Ein Zuviel an Einfluss der Bürgerräte bedeutet, dass die Parlamentsarbeit behindert wird. Ein Zuwenig hat zur Folge, dass die Politikverdrossenheit bestehen bleibt oder sogar noch zunimmt. Der Spontanität der traditionellen Bürgerinitiativen muss aber weiterhin Raum gelassen werden.

Bisher wissen wir zu wenig darüber, welche Auswirkungen Bürgerräte auf die Teilnehmer, die direkt Betroffenen und die Gesellschaft haben. Ist das Auswahlverfahren, das auf Zufallselementen basiert, aber keiner reinen Zufallsauswahl entspricht, das Modell für die Zukunft? Sollte die erste Stufe der Auswahl, die auf Freiwilligkeit beruht, sich an einem Bürgerrat zu beteiligen, beibehalten werden? Sind damit Verzerrungen im Sinne der Initiatoren bei der endgültigen Verteilung der Bürgerräte verbunden?

Die vorgelegte Untersuchung hat Wege aufgezeigt und Ergebnisse präsentiert, wie es mit der Analyse der Bürgerbeteiligung weitergehen kann. Der gleichzeitige Blick auf Bestimmungsgründe und Auswirkungen ist erfolgversprechend. Aus empirischer Sicht bleibt noch Einiges offen. Versuchen Lobbyisten Einfluss auf die Tätigkeit der Bürgerräte zu nehmen? Wir müssen genauere Kenntnis darüber haben, welche Merkmale und Verhaltensweisen dazu führen, dass Personen ihre Bereitschaft erklären, sich an einem Bürgerrat zu beteiligen, welche Ziele sie verfolgen. Sind diese eher kurz- oder langfristig ausgerichtet? Wird eine stärkere staatliche Einflussnahme befürwortet oder eher eine Zurückhaltung?