Liebe Leserinnen und Leser,

obwohl die Herausforderungen durch die Corona-Pandemie aktuell (teilweise) nachlassen, kommt die diesjährig letzte Ausgabe des AStA (Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv) erneut in einer Zeit, die uns als Gesellschaft auf die Probe stellt. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Ukraine fordert von uns allen Partizipation im Entscheidungsprozess im Umgang mit diesem Konflikt – Entscheidungen, die sich zuallererst auf das Leben und die Zukunft der UkrainerInnen, aber nicht zuletzt auch auf die volkswirtschaftliche Situation in Europa beziehen. Weil diese und andere wichtige Entscheidungen unter anderem auf soliden Daten und statistischen Methoden basieren müssen, nimmt unser Engagement wissenschaftliche Arbeit sichtbar zu machen nicht ab.

Die Beiträge dieser Ausgabe starten mit einem Rückblick auf die Heinz-Grohmann-Lecture auf der virtuellen Statistischen Woche 2021 in Kiel. In seinem zur Vorlesung hier erscheinenden Artikel „Grenzen und Fortschritte indikatorengestützter Politik am Beispiel der Corona-Pandemie“ diskutiert Wagner (2022) statistisch-methodische Probleme von (sozialen) Indikatoren am Beispiel der Corona-Pandemie. Wagner (2022) umreißt in seinem Beitrag kurz den historisch-politischen Kontext sozialer Indikatoren, um vor diesem Hintergrund ausgewählte Probleme der in der Pandemie genutzten Indikatoren zu diskutieren. Schließlich werden zwei zentrale Lehren im Hinblick auf die Nützlichkeit von statistischen Indikatoren im politischen Steuerungsprozess am Beispiel der Corona-Pandemie gezogen. Welche das sind, erfahren Interessierte im Artikel.

Rengers und Fuchs (2022) vergleichen in ihrem Beitrag „Stille Reserve in Deutschland: Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier Konzepte“, die Schätzung der Stillen Reserve des Statistischen Bundesamts (StBA) mit der des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die Schätzung bzw. Definition der Stillen Reserve unterscheidet sich bei den beiden Institutionen grundsätzlich. Das StBA nähert sich ihr aus einer mikroökonomischen Perspektive an und schließt aus Antworten auf Fragen im Mikrozensus zur Erwerbsbeteiligung auf die Zugehörigkeit zur Stillen Reserve. Dabei wird die Stille Reserve im Rahmen des Labour-Force-Konzeptes, also Personen, die aktiv eine Arbeit suchen, für eine solche aber kurzfristig nicht zur Verfügung stehen und zum anderen Personen, die aktuell keine Arbeit suchen, aber grundsätzlich gerne arbeiten würden und dafür auch verfügbar sind, ermittelt. Das IAB hingegen nutzt eine makroökonomische Herangehensweise und schätzt die Stille Reserve mithilfe eines statistischen Modells. Hier wird sie als Unterschied einer theoretischen „Vollbeschäftigungsarbeitslosenquote“ und der tatsächlichen Arbeitslosenquote definiert. Die Autoren setzen sich mit beiden Methoden auseinander und beobachten eine Annäherung der Ergebnisse.

Mutai (2022) zeigt in seinem Artikel „Small area estimation of health insurance coverage for Kenyan counties“ einen Weg zur Schätzung von Krankenversicherungsabdeckungsraten auf der County-Ebene in Kenia. Design-basierte Schätzer für die Krankenversicherungsabdeckungsrate auf der kenianischen County-Ebene sind oftmals nicht vertrauenswürdig. Mutai (2022) schlägt als Alternative eine modell-basierte M‑Quantile-Regression auf der County-Ebene vor, um die Abdeckungsrate verlässlicher zu schätzen. Diese Methodik kombiniert dabei Daten aus dem kenianischen Demographic and Health Survey 2014 mit kenianischen Registerdaten. Zusammenfassend lassen sich generell niedrige Krankenversicherungsabdeckungsraten in Kenia und eine hohe Ungleichverteilung der Raten beobachten.

Flintz et al. (2022) untersuchen in ihrem Artikel „Emissionswirkungen der 2021 reformierten Kfz-Steuer: Eine empirische Analyse“ die Effektivität der reformierten Kfz-Steuer in Bezug auf ihre Lenkungswirkung für das Einsparpotential an Kohlendioxid (CO2). Für die Schätzung nutzen die Autoren das diskrete Nachfragemodell von Berry et al. (1995). Hintergrund ist eine bereits erfolgte Anpassung der Kfz-Steuer, die die Steuerbelastung für Fahrzeuge mit hohen Emissionen überproportional erhöht. Die Studie zeigt, dass die relevanten Werte der CO2-Intensität und der CO2-Ausstoß neu gekaufter Fahrzeuge, sowie die Gesamtanzahl der jährlich verkauften Autos nur in geringem Maße sinken. Die Autoren vermuten daher eine nur minimale Lenkungswirkung der durchschnittlich um 11 € erhöhten Steuer. Mithilfe einer Simulation wird gezeigt, wie sich eine deutlich höhere fiktive Steuererhöhung von durchschnittlich 90 € auswirken würde. Diese könnte eine signifikant höhere Reduktion der oben genannten Indikatoren zur Folge haben. Selbst diese fiktiven, deutlich höheren Werte wären aber in Relation zu den jährlichen Gesamtemissionen der deutschen Autoflotte insignifikant.

Cummiskey und Lübke (2022) schlagen in ihrem Artikel vor, das Gewicht des Themas „Kausalität“ in den Lehrplänen von (Statistik‑)Studierenden zu erhöhen. In der sich dynamisch verändernden Statistik- und Data Science-Welt nimmt die Rolle eines soliden Verständnisses von Kausalität im Kontext verschiedener Methoden zu. Folglich ist es wichtig kausale Modellierung und kausale Inferenz in die Lehrpläne zu integrieren. Studierende sollten in der Lage sein die qualitativen Annahmen ihres datengenerierenden Prozesses in Bezug auf Kausalität zu verstehen. Die Verfasser schlagen Inhalte wie Potenzial Outcomes und Counterfactuals, die Definition kausaler Effekte, Confounding und Bias, kausale Diagramme und Schätzmethoden kausaler Effekte vor, die Teil einer grundlegenden Ausbildung sein sollten. Diese können über einen spezifischen Kurs mit aufgenommen werden oder in bereits existierende Kurse der Ökonometrie und (angewandten) Statistik integriert werden.

Für diese Ausgabe hat Walter Krämer (2022) Gerhard Arminger interviewt. Er ist 1949 in Salzburg geboren und ist wohl eine der herausragenden Gestalten in der deutschsprachigen Statistik. Nach einem Studium der Soziologie in Linz und Wien hat er zum Thema „Loglineare Modelle zur Analyse nominal skalierter Variabler“ promoviert. Als Professor für Wirtschaftsstatistik wirkte er von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2014 an der Universität Wuppertal. Im Dialog mit Walter Krämer spricht er über Meilensteine seiner Forschung in den Bereichen der nicht-quantitativen abhängigen Variablen für Paneldaten. Weiterhin wird die aktuelle Lehr- und Forschungsstruktur in der deutschen Statistik mit der der angelsächsischen Universitäten verglichen, die eine einfachere Bildung von Schwerpunkten zulassen. Die beiden Interviewpartner gehen auch auf die Analyse von betriebswirtschaftlichen Daten ein, ein Feld in dem Arminger auch selbst unternehmerisch tätig wurde. Ergänzt wird das Interview mit einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema „Political Correctness“ und den Umgang mit ihr im akademischen Kontext.

Und zuletzt dürfen wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, ermuntern, das AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv mit Ihren Beiträgen zu unterstützen. Vielleicht nutzen Sie dabei die Gelegenheit, eine Arbeit im Sonderheft zum Thema „Qualitätsaspekte Maschinellen Lernens“ einzureichen: Statistisches Maschinelles Lernen (ML) ist im Umgang mit Daten mittlerweile weit verbreitet und besticht durch häufig herausragende, teilweise auch verblüffende Ergebnisse und Einsichten. Trotz der überzeugenden Leistung Maschinellen Lernens im Hinblick auf genauere Klassifikationen, Regressionen, Clusterbildungen etc. gibt es eine Reihe von kritischen Fragen aus Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft sowie amtlicher Statistik und Verwaltung, die bei der Vorbereitung, Implementierung und Anwendung von ML auftreten. Sind diese Fragen nicht oder nur unzureichend beantwortet, wird der Einsatz von ML häufig skeptisch gesehen, schlimmstenfalls sogar abgelehnt. Das Sonderheft widmet sich diesen Fragen und den damit verbundenen Qualitätsaspekten Maschinellen Lernens. Beiträge können in deutscher oder englischer Sprache eingereicht werden. Sie können dabei beispielsweise konkrete Projekte im Hinblick auf wichtige Qualitätsaspekte diskutieren, oder herausarbeiten, welche Anforderungen an ML gestellt werden müssen, um dessen Einsatz in der Datenanalyse oder datengetriebenen Entscheidungsfindung in Einklang mit den jeweils zugrunde liegenden Qualitätsverpflichtungen und -anforderungen in Einklang zu bringen.

Thomas Augustin (Ludwig-Maximilians-Universität München), Florian Dumpert (Statistisches Bundesamt), Nina Storfinger (Bayerisches Landesamt für Statistik) und Sebastian Wichert (ifo Institut) geben dieses Sonderheft heraus und freuen sich über Einreichungen bis zum 31.03.2023.

Abschließend wünschen wir Ihnen und Ihren Familien und Freunden ein frohes Weihnachtsfest, andauernde Gesundheit sowie alles Gute für das Jahr 2023.

Timo Schmid und Markus Zwick