Liebe Leserinnen und Leser,

zum Ende des Jahres 2020, in dem vieles anders kam als angenommen, wollen wir Ihnen vor Weihnachten mit der diesjährig letzten Ausgabe des AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv eine Konstante bieten. 2020 ist geprägt von medialen Berichterstattungen zu Prognosen und Modellen, und doch ließ dieses Jahr jede und jeden von uns Unsicherheit in zahlreichen Formen spüren. Die Auswirkungen des Jahres 2020 sind akademisch, gesellschaftlich und auch persönlich weitreichend. Der Forschungsalltag war geprägt von vertagten Projekten und Konferenzen. Abstand wurde zur Norm und dennoch ergaben sich Möglichkeiten näher zusammenzurücken: Digitale Treffen und Vortragsreihen wurden zum „neuen Regelfall“ und bieten trotz physischer Distanz neue Reichweite und Chancen.

Wir beginnen dieses Heft mit der traurigen Nachricht, dass Prof. Dr. Reinhard Hujer am 13. August 2020, unmittelbar vor der Vollendung des 80. Lebensjahres, nach kurzer schwerer Krankheit verstorben ist. Mit ihm verlässt uns ein methodischer und evidenzbasierter Vordenker, welcher das Ideal einer aufgeklärten Wirtschafts- und Sozialpolitik vertrat. 1974 erhielt Reinhard Hujer den Ruf auf den Lehrstuhl VWL, Statistik und Ökonometrie an der TU Darmstadt. 1979 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 innehatte. Pionierleistungen des deutschlandweit und international renommierten Forschers sind unter anderem die Etablierung des sozio-oekonomischen Panels sowie die methodische Beschäftigung mit empirischen Arbeitsmarkttheorien, die über die akademische Sphäre hinaus zu Meilensteinen für die evidenzbasierte Politikberatung in Deutschland wurden. Mit ihrem Nachruf „Reinhard Hujer – Ein Forscherleben als Spiegelbild der Ökonometrie“ würdigen Marco Caliendo et al. (2020) das persönliche, akademische und institutionspolitische Lebenswerk Reinhard Hujers.

Fachlich wird die aktuelle Ausgabe mit dem Beitrag „Die Prognose von Studienerfolg und Studienabbruch auf Basis von Umfrage- und administrativen Prüfungsdaten: Das Projekt ‚Studienverläufe‘ am FB Wirtschaftswissenschaft der FU Berlin“ von Sören Pannier et al. (2020) eröffnet. Analysen des Studienerfolgs erfolgen typischerweise retrospektiv, durch die Befragung von exmatrikulierten Studierenden, oder prospektiv, im Rahmen von Panelerhebungen. Während der retrospektive Ansatz durch eine hohe Non-Response-Rate, sowie durch Fehler der retrospektiven Selbsteinschätzung geprägt ist, scheitern prospektive Ansätze oftmals an Stichprobenausfällen zwischen Befragungswellen. Pannier et al. (2020) präsentieren einen neuen Ansatz auf Basis einer Verknüpfung von administrativen Prüfungsdaten mit Umfragedaten. Dieser Ansatz wurde erstmalig am FB Wirtschaftswissenschaft der FU Berlin durch Hörsaalbefragungen zu Hintergrundinformationen unter Einwilligung der Studierenden realisiert. Die Autoren liefern eine detaillierte Beschreibung des Konzeptes sowie neue Erkenntnisse bezüglich persönlicher und sozio-ökonomischer Einflüsse auf den Studienerfolg. Der Einfluss von Prädiktoren, wie Schulnoten und sozialen Hintergrundmerkmalen, auf den Studienerfolg ist bedeutend geringer als beispielsweise der Einfluss von erzielten Leistungspunkten in der Studieneingangsphase oder die anfängliche Selbsteinschätzung der Studierenden.

Mit statistischen Methoden und Anwendungen im Kontext von Verteilungspolitik beschäftigen sich Schoch und Müller (2020) in ihrem Beitrag: „Methoden zur Behandlung von Unterrepräsentation bei schiefen Verteilungen für die stichprobenbasierten Mikrosimulation: Eine Analyse zu den Umverteilungseffekten in der obligatorischen Krankenversicherung der Schweiz“. Schoch und Müller erinnern, dass die Aussagekraft von stichprobenbasierten Mikrosimulationen in direkter Beziehung zur Qualität der Stichprobe steht. Probleme, wie etwa die Verzerrung von stichprobenbasierten Schätzern durch Non-Response, überträgt sich ebenfalls auf die Ergebnisse der Mikrosimulation. Besonders drastisch äußern sich diese Simulations- bzw. Schätzprobleme bei verteilungspolitischen Fragestellungen, die durch schiefe Verteilung, extreme Werte und schwere Ränder (heavy tails) charakterisiert sind. Schoch und Müller erarbeiten und diskutieren zwei Ansätze: Erstens, eine Methode, die dem rechten Rand der Verteilung ein Pareto-Model unterstellt und somit eine Anpassung der Verteilung von Einkommen ermöglicht ohne die empirische Einkommensverteilung zu verfälschen. Zweitens, veranschaulichen Schoch und Müller den Vorteil der Verwendung von robusten Schätz- und Anpassungsmethoden bei Ausreißer-anfälligen Variablen mit schiefer Verteilung am Beispiel von Registerdaten zu Gesundheitskosten.

Für das Interview dieser Ausgabe nutzte Walter Krämer (2020) die Statistische Woche 2019 in Trier, um mit Göran Kauermann über Fachliches und Persönliches zu sprechen. Göran Kauermann ist Inhaber des Lehrstuhls für Statistik und ihre Anwendungen in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der LMU München sowie geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Statistik. Vielen Leserinnen und Lesern ist Kauermann auch als langjähriger Herausgeber der Fachzeitschrift Allgemeines Statistisches Archiv (mit neuem Namen Advances in Statistical Analysis) und als Mitbegründer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Statistik bekannt. Krämer portraitiert die Gedanken eines passionierten und international erfahrenen Statistikers. Aus dem aktuellen Gespräch erfahren wir unter anderem worin Unterschiede einer angelsächsischen und einer deutschen Perspektive der Statistik liegen, auf welche akademischen Leistungen Göran Kauermann besonders stolz ist und welche Chancen sich für die moderne Statistik in Deutschland aus dem Spannungsfeld Data Science ergeben.

Zum Ausklang eines bewegten Jahres bedanken wir uns wieder für alle Einreichungen bei AStA dem Wirtschafts- und Sozialstatistischen Archiv. Ohne Sie, liebe Autorinnen und Autoren, würden wir keine so spannenden und unterhaltsamen Artikel lesen können. Weiterer Dank gebührt auch den Mitgliedern des Beirats der Zeitschrift und den zahlreichen Reviewerinnen und Reviewern, die durch ihre großartige und ehrenamtliche Arbeit konstruktiv zur Qualität des AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv beitragen.

Ein besonderer Dank gilt darüber hinaus auch Ihnen, liebe Leserinnen und Leser! Wir danken Ihnen für Ihre Treue und Ihr Interesse und hoffen Ihnen neben dem Lesevergnügen mit dieser Ausgabe auch Inspiration für eigene Beiträge in künftigen Ausgaben zu geben. Unterstützen Sie uns beispielsweise neben wissenschaftlichen Einreichungen gerne auch mit Vorschlägen für Buchbesprechungen, herausragenden Masterarbeiten zur Veröffentlichung in Kurzform, Vorstellungen von bedeutenden Entwicklungen auf statistischen Lehrstühlen oder in statistischen Ämtern.

Abschließend, wünschen wir Ihnen und Ihren Familien ein frohes Weihnachtsfest sowie alles Gute für das Jahr 2021.

Timo Schmid und Markus Zwick