Einleitung

Das menschliche Genom wurde erst im Jahr 2003 vollständig sequenziert. In den seitdem vergangenen nur 15 Jahren haben sich die diagnostischen Möglichkeiten und damit das noch junge Fachgebiet der Humangenetik deutlich verändert. Insbesondere die Technik des „next generation sequencing“ (NGS), die eine parallele Analyse von mehreren Tausend bis Zehntausend Genen im Hochdurchsatzverfahren erlaubt, führte zu einem enormen Zuwachs unserer Kenntnis über die Ursachen monogener Erkrankungen. Waren 2007 erst 2000 Gene als ursächlich für monogene Erkrankungen des Menschen in der Datenbank OMIM® (Online Mendelian Inheritance in Man, www.omim.org) gelistet, kennt man heute über 3900 Gene und entsprechend viele genetisch bedingte seltene Erkrankungen mit jeweils einer Prävalenz von weniger als 1 in 2000. Seit 2014 wurden der Datenbank OMIM® jährlich ca. 300 neue Erkrankungen hinzugefügt [1]. Die große genetische Heterogenität und die oft fehlende klinische Abgrenzbarkeit der meist komplexen Krankheitsbilder haben dazu geführt, dass in der genetischen Diagnostik anstelle der Analyse einzelner Gene zunehmend eine parallele Untersuchung mehrerer Gene mittels NGS-Anwendung stattfindet. Abhängig von der Abgrenzbarkeit des klinischen Phänotyps, der Ergebnisse der Voruntersuchungen beim einzelnen Patienten und der Heterogenität der bekannten genetischen Ursachen können Genpanels von einigen wenigen bis hin zu mehreren 1000 Genen (kleines Genpanel, großes Genpanel, klinisches Exompanel) sinnvoll sein. So sind derzeit z. B. bereits über 1000 verschiedene Gene mit psychomotorischen Entwicklungsstörungen assoziiert (SysID-Datenbank, https://sysid.cmbi.umcn.nl/). Aus dieser großen heterogenen Gruppe ist ein konkretes Beispiel für einen kausal schwer abzugrenzenden klinischen Phänotyp die frühkindliche Epilepsie, bei der die Fehlentladungen der Neuronen sehr viele verschiedene genetische Ursachen haben können (u. a. early infantile epileptic encephalopathies, EIEE 1‑71 in OMIM). Insbesondere hier haben die Ergebnisse immer öfter auch therapeutische Relevanz, so ist z. B. bei einem Defekt in einem Gen für einen Natriumkanal eine Medikation mit einem Natriumkanalblocker nicht sinnvoll bzw. sogar schädlich [10, 11].

Bei gesetzlich versicherten Patienten mit V. a. eine seltene Erkrankung können seit Juli 2016 gemäß EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab) mit der Gebührenordnungsposition (GOP) 11513 im bis zu 100-fachen Ansatz bis zu 25 kb kodierende Sequenz einmal im Krankheitsfall analysiert werden. Dies erlaubt die Analyse eines kleinen Genpanels mit durchschnittlich ca. 4–7 Genen. Basierend auf Detektionsraten einer großen Studie aus England [6], müssten aber z. B. bei Patienten mit Entwicklungsstörungen mindestens die 25 am häufigsten mutierten Gene untersucht werden, um auch nur eine Detektionsrate von 10 % zu erreichen. Mit der GOP 11514, die pauschal vergütet ist, können mehr als 25 kb kodierende Sequenz analysiert werden, also ein großes Genpanel, das über 100 und mehr Gene umfassen kann. Der Vergütungsunterschied dieser beiden GOPs beläuft sich auf ca. 500 €. Eine Leistung nach GOP 11514 (Mutationssuche >25 kB) bei seltenen Erkrankungen ist erst nach Genehmigung durch die gesetzliche Krankenkasse möglich. Hierzu stellt der Versicherte einen Antrag, der durch das beauftragte genetische Labor zu begründen ist.

Entscheidet sich der veranlassende Arzt bei einer genetisch heterogenen Erkrankung – in Kenntnis der Genehmigungsschwierigkeiten – gegen ein großes Genpanel und kann mit einem kleineren Genpanel keine Diagnose stellen, darf ein großes Genpanel gemäß EBM im gleichen Krankheitsfall, also im Zeitraum eines Jahres (im aktuellen sowie den nachfolgenden drei Quartalen), nicht mehr durchgeführt bzw. beantragt werden. Viele Eltern betroffener Kinder, die sich primär entscheiden, einen Antrag auf ein großes Genpanel zu stellen, sind aktuell mit der Problematik konfrontiert, dass eine Genehmigung des Antrags wenig wahrscheinlich ist und das Antragverfahren wertvolle Zeit beansprucht, die u. U. bei der Therapie des Kindes fehlt.

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) beanstandete 2016 den Genehmigungsvorbehalt durch die Krankenkassen, da dieser in die ärztliche Therapie- und Diagnostikfreiheit eingreife. Eine solche Einschränkung würde die Kompetenzen von Kassenärztlicher Bundesvereinigung und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (KBV und GKV-SV) übersteigen. Zudem forderte die Wirtschaftsministerkonferenz 2018 das BMG auf, hier für eine Verbesserung der Versorgungssituation zu sorgen.

Aus bayerischen Diagnostiklaboren berichten wir über die Erfahrungen, die mit Antragstellung, Widerspruchsverfahren, Genehmigungsquote, Ablehnungsgründen und diagnostischem Outcome bei der Analyse großer Genpanels im Rahmen unterschiedlicher seltener Erkrankungen gewonnen wurden.

Methoden

Erhebungszeitraum, beteiligte humangenetische Einrichtungen

Im Herbst 2018 wurden alle humangenetischen Diagnostiklabore angeschrieben, die Mitglieder des Landesverbands Bayern des BVDH (Berufsverband Deutscher Humangenetiker e. V.) sind, und angefragt, ob sie sich an einer statistischen Erhebung zur Häufigkeit einer Antragstellung bzw. den Erfahrungen mit dem Genehmigungsverfahren bei den gesetzlichen Krankenkassen beteiligen möchten.

Formalien der Antragstellung

Eine Leistung nach GOP 11514 (Mutationssuche >25 kB) bei seltenen Erkrankungen ist erst nach Genehmigung durch die gesetzliche Krankenkasse möglich. Hierzu stellt der Versicherte einen Antrag, der durch das beauftragte genetische Labor zu begründen ist. Die GOP 11304 des EBM regelt die Vorgaben für das wissenschaftlich begründete ärztliche Gutachten zum Antrag des Versicherten nach der GOP 11514. Obligater Leistungsinhalt sind Angaben zum Patienten, die Angabe der rechtfertigenden Indikation der beantragten Untersuchung des Patienten, eine Epikrise, insbesondere im Hinblick auf die Prüfbarkeit der rechtfertigenden Indikation, einschließlich Angabe der Verdachtsdiagnose gemäß ICD-10-GM der seltenen Erkrankung und der klinischen und humangenetischen Vorbefunde. Weiterhin gefordert sind eine Beschreibung des konkreten Untersuchungsumfangs mit tabellarischer Auflistung von Genname(n) einschl. Angabe der jeweils kodierenden Sequenzlänge und Gennummer(n) nach OMIM. Es wird der Nachweis zu den Studien, die den Untersuchungsumfang begründen, und eine Bewertung der differentialdiagnostischen und -therapeutischen sowie der prognostischen Aussage der Untersuchung gefordert. Je nach Komplexität des Krankheitsfalles umfasst ein Antrag 10–20 Seiten.

Ergebnisse

Schriftliche Rückmeldungen zu gestellten Anträgen kamen aus insgesamt vier bayerischen Diagnostiklaboren. Eines der Labore berichtete, dass vier anfänglich gestellte Anträge abgelehnt wurden, sodass keine weiteren Antragstellungen erfolgten. Drei Labore hatten eine größere Anzahl an Anträgen gestellt und trugen diese Daten zu einer Auswertung bei.

Alle Labore berichteten von einem extrem hohen zeitlichen und organisatorischen Aufwand für das Antragverfahren. Nachdem ein veranlassender Arzt ein genetisches Diagnostiklabor mit einer NGS-Analyse über 25 kb beauftragt hatte, war jeweils eine aufwendige Kommunikation zwischen dem Labor, dem beauftragenden Einsender und dem Patienten erforderlich, um alle Unterlagen und Vorbefunde für das wissenschaftlich begründete ärztliche Gutachten anzufordern bzw. um im Verlauf des Antragverfahrens beim Patienten eingehende Rückmeldungen der Krankenkasse zu Zusatzanfragen des MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen), Ablehnungen oder Genehmigungen der Krankenkasse weiterbearbeiten zu können.

Die eingereichten Anträge wurden durch Ärzte des MDK begutachtet. Die gesetzlich vorgegebene Bearbeitungsfrist von 5 Wochen gemäß SGBV wurde durch Krankenkassen und den MDK nach Schwierigkeiten in der Anfangszeit in der Regel eingehalten. Zu einer zusätzlichen Verzögerung zwischen Indikationsstellung und einer Einleitung der Diagnostik führte – in zahlreichen Fällen – ein Widerspruchsverfahren nach Ablehnung des Antrags durch die Krankenkasse.

Im Erhebungszeitraum von 7 Quartalen wurden in den vier Diagnostiklaboren insgesamt 314 Gutachten zur Begründung eines Antrags nach GOP 11514 erstellt (Labor B: 194 Gutachten/Anträge, Labor A: 70 Gutachten/Anträge, Labor C: 46 Gutachten/Anträge, Labor D: 27 Gutachten/Anträge).

Von den insgesamt 337 gestellten Anträgen aus den vier Laboren wurden 219 Anträge (71 %) abgelehnt. Insgesamt 95 Anträge (29 %) wurden genehmigt, teilweise allerdings erst nach bis zu 5 Widersprüchen (Tab. 1).

Tab. 1 Antrag nach Gebührenordnungsposition (GOP) 11514 – Genehmigungen, Ablehnungen, Widersprüche

Eine Auswertung des Alters der betroffenen Patienten zeigte, dass die Mehrzahl der Anträge für Kinder gestellt wurde und die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung des Antrags mit dem Lebensalter zunahm. Berücksichtigt man das Alter der Patienten bei Antragsstellung, dann lag die Genehmigungsquote bei den Patienten im Alter von unter 6 Jahren mit knapp 40 % etwas höher als bei den Patienten aus den höheren Altersgruppen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Antrag nach Gebührenordnungsposition (GOP) 11514 – Altersstatistik der Patienten (Genehmigungen vs. Ablehnungen), Daten aus Laboren A, B und C.

Die klinische Fragestellung war bei den meisten Patienten die ursächliche Klärung einer schwerwiegenden Entwicklungsstörung mit oder ohne weitere Fehlbildungen. Weitere Anträge bezogen sich auf die diagnostische Zuordnung bei Patienten mit therapieschwierigen Epilepsien, neuromuskulären Erkrankungen sowie speziellen neurogenetischen Fragestellungen.

Bei insgesamt 97 Patienten konnte nach einer Genehmigung der Diagnostik durch die Krankenkasse eine Mutationssuche in über 25 kb kodierender Sequenz gemäß GOP 11514 veranlasst werden. Bezüglich der diagnostischen Aufklärungsquote erfolgte eine Auswertung von 88 Patienten, die den beiden größten Patientengruppen mit einer neurogenetischen oder neuromuskulären Fragestellung (28 Patienten) bzw. einer Entwicklungsstörung (60 Patienten) zugeordnet werden konnten (Abb. 2). Die Auswertung zeigte, dass bei über 30 % der Patienten die krankheitsursächliche Mutation identifiziert und eine gesicherte genetische Diagnose gestellt werden konnte. Dies erlaubte eine eindeutige diagnostische Zuordnung der Symptomatik und sicherte eine definierte seltene Erkrankung bei dem Patienten. Bei zusätzlichen, ca. 12 % der Patienten wurde ein genetischer Befund erhoben, der zum aktuellen Zeitpunkt keine sichere Aussage zuließ, ob die gefundene genetische Veränderung von klinischer Relevanz war oder nicht. Etwas mehr als 50 % der Patienten blieben auch nach der genetischen Untersuchung ohne Diagnose.

Abb. 2
figure 2

Diagnostische Aufklärungsquote nach einer Mutationssuche in >25 kb kodierender Sequenz in den Patientengruppen mit einer neurogenetischen/neuromuskulären Fragestellung (28 Analysen, oberer Balken) bzw. einer Entwicklungsstörung (unterer Balken, 60 Analysen). Dargestellt ist jeweils der Anteil der Patienten mit einem Befund, der eine sichere genetische Zuordnung der Erkrankung erlaubt (dunkelblau), einem Befund von unklarer klinischer Relevanz (mittelblau) und einem unauffälligen Befund (hellblau).

Die eindeutige genetische Diagnose machte weitere diagnostische Untersuchungen überflüssig und sicherte den Erbgang und das Widerholungsrisiko, was auch für Familienangehörige von großer Bedeutung ist. Eine nähere Betrachtung der insgesamt 30 Fälle, in denen die sicher krankheitsursächliche Mutation identifiziert werden konnte, ergab für zwei Drittel dieser Patienten, dass das Ergebnis der genetischen Diagnostik auch darüber hinaus eine individuelle und oft unerwartete therapeutische Relevanz hatte (Tab. 2).

Tab. 2 Ausgewählte Patienten mit gesicherter genetischer Diagnose, die unmittelbare Konsequenzen für die individuelle Situation, Behandlung und Therapie des Patienten hatte.

Diskussion

Seltene genetische Erkrankungen sind oft sehr schwere Krankheiten, die eine aufwendige Behandlung und Betreuung erfordern. Sie belasten nicht nur die Erkrankten, sondern in hohem Maß auch ihre Familien und führen zum Teil schon im Kindes- oder Jugendalter zu einer schweren Behinderung oder gar zum Tod. Dies spiegelt sich in den diagnostischen Fragestellungen unseres Patientenkollektivs wider, die zu großen Teilen schwere Entwicklungsstörungen oder neurologische Erkrankungen mit einer Erstmanifestation im Kindesalter betrafen. Die drängenden Fragen der Eltern in dieser Situation lauten: Warum ist mein Kind krank, was hat mein Kind, welche therapeutischen Möglichkeiten gibt es, was passiert, wenn wir noch einmal ein Kind bekommen? Die Belastungssituation der Eltern, auch die Klärung eines Wiederholungsrisikos oder die genetische Diagnosestellung als Voraussetzung für eine Pränataldiagnostik, werden jedoch in der sozialmedizinischen Begutachtung durch den MDK nicht als relevantes Kriterium für eine Genehmigung der Diagnostik angesehen. Gerade bei Patienten mit ausgeprägter Behinderung in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium wurden Anträge abgelehnt, da der MDK in der Klärung der Diagnose keine erkennbare individuelle therapeutische Relevanz erkennen konnte. Für die durch das erkrankte Kind ohnehin leidtragenden Familien, auch für die Betroffenen selbst, wird das als eine zusätzliche psychische Belastung und Missachtung ihrer persönlichen Situation wahrgenommen.

Andere Aspekte haben bei der Begutachtung des MDK aber hohe Relevanz und werden häufig hinterfragt:

In vielen Gutachten des MDKs wird die klinische Evidenz der Diagnostik infrage gestellt. Es wird hinterfragt, ob die NGS-Analyse überhaupt geeignet ist, eine Diagnose zu stellen. In diesem Zusammenhang vertritt der MDK teilweise die Meinung, bei NGS-Analysen handele es sich um „Screening“ und „Schrotschussanalysen“, die somit nicht der Leistungsverpflichtung der gesetzlichen Krankenversicherung unterlägen. Bei einem Screeningverfahren werden asymptomatische Personen hinsichtlich des Vorliegens einer hohen oder niedrigen Erkrankungswahrscheinlichkeit untersucht [12]. Dies trifft auf die beantragte Diagnostik nicht zu.

Teilweise wird durch den MDK auch hinterfragt, ob die Untersuchung nicht besser im Rahmen von wissenschaftlichen Studien zu Forschungszwecken durchgeführt werden sollte. Hier verkennt der MDK den international etablierten Stellenwert von NGS-Analysen zu diagnostischen Zwecken [5], deren spezielle Anforderungen international [8] und mittlerweile auch national in eine S1-Leitlinie Eingang gefunden haben [13]. Eine diagnostische NGS-Analyse kann einzelne Gene, kleinere oder größere Genpanels bis hin zu einem klinischen Exom oder Exom-Trio umfassen. In diesem Zusammenhang sind die klinische Evidenz einer diagnostischen NGS-Analyse und deren Abgrenzung von Untersuchungen im Rahmen von Forschungsvorhaben zu betonen. In einem diagnostischen Ansatz wird eine genetische Veränderung nur dann als sicher krankheitsverursachend eingestuft, wenn mehrere Evidenzlinien zum Zeitpunkt der Befundung dafür sprechen. Ebenso sind Qualitätsvorgaben in der technischen Analyse einzuhalten. Die in der Mehrzahl akkreditierten Diagnostiklabore in der Niederlassung und an den Universitäten erfüllen die Qualitätsanforderungen entsprechend der S1-Leitlinie zur NGS-Diagnostik [13]. Dies alles ist essenziell, stellt die diagnostische Analyse doch den Anspruch, dass eine als ursächlich identifizierte genetische Veränderung zur Indikation spezifischer Therapien oder gar für eine pränatale Diagnostik genutzt werden kann. Wissenschaftliche Studien erfüllen dagegen oft die Qualitätsanforderungen einer Diagnostik nicht, da sie einem anderen Zweck dienen: Es sollen mögliche neue genetische Ursachen aufgeklärt werden, die dann aber erst hinsichtlich ihrer diagnostischen Relevanz validiert werden müssen. Es lässt sich daher ad hoc aus einer im Rahmen wissenschaftlicher Projekte durchgeführten Analyse nicht mehr diagnostische Relevanz für den Patienten ableiten als aus einer diagnostischen Analyse. Allerdings ist eine Einbindung und Vernetzung aller Akteure, der universitären Einrichtungen, der neu gebildeten Zentren für seltene Erkrankungen und der Fachärzte in der Niederlassung natürlich von großer Bedeutung, um weitere Fortschritte in der translationalen Forschung auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen zu erzielen. Eine Vernetzung von Diagnostik und Forschung ist auch anzustreben, damit Patienten, für die der diagnostische Ansatz keine molekulare Zuordnung der Erkrankung erlaubte, im Rahmen wissenschaftlicher Studien weiter untersucht werden können. Durch neue oder noch umfassendere Analysetechniken, wie z. B. die Sequenzierung des gesamten Genoms, können neue mögliche Krankheitsgene oder Pathomechanismen identifiziert und durch weiterführende experimentelle Untersuchungen belegt werden.

Nach der aktuellen Literatur kann mit umfassenden diagnostischen NGS-Analysen bei ca. 30 % der Patienten eine sichere Diagnose gestellt werden [7, 9]. Bei weiteren 20 % der Patienten findet man eine genetische Veränderung, die aktuell möglicherweise mit der Erkrankung assoziiert ist, wobei dies aber aufgrund der Datenlage noch nicht gesichert ist. Die diagnostische Aufklärungsquote von 30 % aus dieser Erhebung hält somit dem internationalen Vergleich stand, womit die klinische Evidenz belegt wäre.

Ein häufiges Argument für die Ablehnung einer beantragten Diagnostik durch den MDK ist die vermeintlich fehlende therapeutische Relevanz im individuellen Krankheitsfall. Die generelle therapeutische Relevanz umfassender NGS-Analysen wurde mittlerweile in zahlreichen internationalen Studien dokumentiert [3, 7, 9]. Der Nachweis einer ursächlichen genetischen Veränderung hat für den einzelnen Patienten oft noch keine unmittelbare Relevanz im positiven Sinne, d. h. im Sinne einer möglichen kausalen Therapie. Dennoch hat die Diagnose einer genetischen Erkrankung, auch wenn sie nicht (oder noch nicht) therapierbar ist, fast immer einen Nutzen für den Patienten. Oft endet damit eine lange diagnostische Odyssee, manchmal ist es – für Ärzte und Angehörige – auch hilfreich zu wissen, welche Erkrankungen ausgeschlossen sind. Unnötige und belastende weitere diagnostische Untersuchungen bleiben dem Patienten erspart. Eine therapeutische Konsequenz ist in vielen Fällen der Verzicht auf weitere diagnostische Maßnahmen. Dass die genetische Diagnosestellung für den individuellen Patienten sehr hohe Relevanz und in mindestens zwei Drittel der Fälle tatsächlich auch unmittelbare therapeutische Konsequenzen hat, belegen ebenfalls die Daten aus unserer Erhebung (Tab. 2).

Nicht zuletzt aufgrund dieses patientenorientierten Nutzens hat sich der Stellenwert der genetischen Diagnostik in den letzten Jahren dahingehend gewandelt, dass die genetische Abklärung oft am Anfang des diagnostischen Prozesses steht. Dies konterkariert die Anforderungen der MDK-Begutachtung, in der i. d. R. umfängliche nicht genetische Voruntersuchungen des Patienten vorausgesetzt bzw. gefordert werden. So sollte eine nicht durchgeführte Muskelbiopsie eben kein Ablehnungsgrund für eine NGS-Diagnostik sein. Hier stehen wir vor einem Paradigmenwechsel: Genetische Diagnostik wird nicht nur durchgeführt, um eine klinische Verdachtsdiagnose zu bestätigen, sondern auch um differentialdiagnostisch möglichst gut aufgestellt zu sein und schnell zu einer Diagnose zu kommen, die gerade bei komplexen seltenen Erkrankungen klinisch nicht zu stellen ist. Die bei über 30 % liegende Diagnoserate einer umfassenden NGS-Analyse bei Kindern mit einer schweren Entwicklungsverzögerung steht außer Konkurrenz. Bei anderen diagnostischen Verfahren, wie z. B. einem cMRT, liegt sie im niedrigen einstelligen Prozentbereich.

Schließlich wurden viele Anträge auch aufgrund formaler Mängel nicht befürwortet. Eine umfassende NGS-Analyse gemäß GOP 11514 darf nur für seltene Erkrankungen (seltener als 1:2000) durchgeführt werden, für die vermutete Diagnose ist in der wissenschaftlichen Begründung zum Antrag ein ICD-10-Kode anzugeben. Praktisch ergeben sich aus dieser formalen Anforderung zweierlei Probleme: Zum einen stehen für die allermeisten seltenen Erkrankungen bislang keine spezifischen Kodierungen zur Verfügung. Hierfür wurde das nicht abgeschlossene Projekt „Kodierung von Seltenen Erkrankungen“ als eine Initiative im Rahmen des Nationalen Aktionsplans für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (Maßnahmenvorschlag 19) des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) ins Leben gerufen. Weiterhin stellt sich die Frage, welcher ICD-10-Kode bei einer Erkrankung anzugeben ist, die nicht bekannt ist. Die beantragte Diagnostik hat vor dem Hintergrund der großen Heterogenität möglicher genetischer Differentialdiagnosen ja gerade das Ziel, diese Erkrankung zu definieren. Bei Auswahl eines übergeordneten ICD-10-Kodes, z. B. für eine Epilepsie oder eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, führte dies häufig zu einer Ablehnung mit der Begründung, dass damit keine seltene Erkrankung vorläge und somit die Leistung nach 11514 nicht beantragbar sei.

Zahlreiche Initiativen auf nationaler wie auf europäischer Ebene sollen bewirken, dass sich die Versorgungssituation von Menschen mit seltenen Erkrankungen verbessert. Dennoch hat zuletzt der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Empfehlung die unzureichende Versorgungslage der Patienten kritisiert [2]. Ein zentrales Anliegen ist insbesondere eine beschleunigte Diagnosestellung, die am Anfang der Versorgung und nicht – wie leider oft noch – am Ende einer langen Odyssee stehen sollte. In diesem Sinne war die im Jahr 2016 umgesetzte Änderung des EBM, die bei V. a. eine seltene Erkrankung den Einsatz neuer Sequenziertechnologien ermöglichte, ein wichtiger Schritt hin zu einem patientenorientierten Einsatz der molekulargenetischen Diagnostik, die heute in vielen Fällen am Anfang und nicht mehr am Ende des diagnostischen Algorithmus stehen sollte.

Unsere Erfahrungen jedoch lassen daran zweifeln, dass diese vom Gesetzgeber initiierte Verbesserung in ihrer jetzigen Form der Umsetzung tatsächlich beim Patienten ankommt.

Hierfür sprechen nicht zuletzt die absoluten Zahlen: Auf ein Kalenderjahr hochgerechnet, wurden in Bayern 180 Anträge gestellt und 54 NGS-Analysen durchgeführt, dies dürfte nicht annährend der Versorgungsnotwendigkeit entsprechen, geht man doch davon aus, dass etwa vier Millionen Menschen in Deutschland an einer seltenen Erkrankung leiden, die in vielen Fällen genetisch bedingt ist [2, 4].

Es wäre wünschenswert, wenn es unser Gesundheitssystem ermöglichen würde, durch eine Änderung der aktuellen Reglementierungen letztlich der Aufforderung des BMG, Menschen mit einer seltenen Erkrankung zu einer Diagnose zu verhelfen, zu folgen. Der Wertungswiderspruch hinsichtlich der Diagnostik einer seltenen Erkrankung im Vergleich zu häufigen Erkrankungen ist den Patienten bzw. den Eltern der betroffenen Kinder nicht zu vermitteln.