Einleitung

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde mehrfach unabhängig über das familiäre Auftreten einer progredienten spastischen Gangstörung und einer damit assoziierten Degeneration des Kortikospinaltrakts berichtet. Diese Publikationen gelten als erste wissenschaftliche Beschreibungen der erblichen spastischen Spinalparalysen („hereditary spastic paraplegias“, HSPs; z. B. [1]). Es dauerte jedoch fast 100 Jahre bis zur Beschreibung größerer Patientenserien und ersten Versuchen einer klinischen Klassifikation. Eine Unterteilung in „reine“ Formen (Spastik mit Harninkontinenz und leichten sensorischen Beeinträchtigungen) und „komplizierte Formen“ (diverse neurologische Begleitbefunde wie z. B. Ataxie, Neuropathie, Epilepsie, Optikusatrophie oder kognitive Beeinträchtigung) ist allgemein üblich (z. B. [2]). Gerade in den letzten 20 Jahren haben neue Techniken wesentlich zum besseren Verständnis dieser Krankheitsgruppe beigetragen. Einen umfassenderen geschichtlichen Abriss der HSPs geben Faber et al. [3].

Eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahre ist die große genetische Heterogenität der HSPs. Die einzelnen genetisch definierten Formen werden in der Reihenfolge ihrer Beschreibung als SPGs („spastic paraplegia gene-loci“) durchnummeriert. Mittlerweile sind 80 SPGs gelistet; für ~50 sind die Gene bekannt (www.omim.org). Auf die Aufklärung relativ häufiger SPGs (z. B. [4, 5]) folgte die Next Generation Sequencing (NSG) basierte Entdeckung seltenerer, meist rezessiv vererbter und klinisch komplexer Formen (z. B. [6, 7]). Darüber hinaus wurden in letzter Zeit zahlreiche HSP-Gene beschrieben, für die bereits eine Beteiligung an anderen neurodegenerativen Erkrankungen beschrieben war (z. B. [8]). Zahlreiche Übersichtsartikel informieren detailliert über die genetische Vielfalt der HSPs (z. B. [9, 10]).

Neben dem bereits erwähnten genetischen Überlapp wird mehr und mehr auch ein klinischer Überlapp von HSP und anderen neurologischen Erkrankungen deutlich (z. B. [11, 12]). Derartige Beobachtungen stellen die herkömmlich starre Zuordnung bestimmter Gene zu spezifischen klinischen Erscheinungsbildern infrage. Exzellent präsentiert werden entsprechende Konzepte beispielsweise von Timmerman et al. [13] und Synofzik und Schüle [14].

In dem vorliegenden Übersichtsartikel haben wir versucht, insbesondere Themen aus der klinischen Genetik der HSPs zu beleuchten, welche aktuell im Wandel, umstritten und/oder noch größtenteils ungeklärt sind. Wir hoffen, damit neue Denkanstöße bzw. Wege zu einem besseren Verständnis dieser hochinteressanten Erkrankungsgruppe zu geben.

Genetische Diagnostik

Wie für fast alle Erbkrankheiten bestand die genetisch-diagnostische Strategie für HSPs lange Zeit in der Einzelgen fokussierten Analyse per Sanger-Sequenzierung. Dieses Vorgehen trug entscheidend zur Definition der klinischen Erscheinungsbilder und der zugrunde liegenden Mutationsspektren bei, verhalf aber nicht allen Patienten zu einer Diagnose. Eine parallele Untersuchung mehrerer Gene wurde mit der Einführung NGS-basierter Gen-Panels möglich. Abb. 1 gibt einen groben Überblick über die dabei vorgefundenen Anteile der häufigsten HSP-Gene. Allerdings bleibt selbst bei Berücksichtigung aller aktuell bekannten HSP-Gene die diagnostische Lücke mit ~50 % erstaunlich groß [15]. Man kann erwarten, dass sich dieser Anteil durch „whole exome sequencing“ Strategien noch verkleinern lässt. In der Tat können mit diesem Ansatz immer noch neue HSP-Gene identifiziert werden (z. B. [7]). Neben der Existenz bisher unbekannter genetischer Formen sollte für die Vielzahl negativer diagnostischer Befunde aber auch di- oder polygenische Vererbung in Betracht gezogen werden. Außerdem sind nicht alle HSP-assoziierten Mutationen einfach zu detektieren. So führte die Einführung von „multiplex ligation-dependent probe amplification“ zur Aufdeckung vieler Kopienzahlanomalien („copy number mutations“, CNMs). Mit bis zu 20 % ist der Anteil von CNMs am Mutationsspektrum der SPG4 [16] und der SPG11 [17] besonders hoch. Es ist zu erwarten, dass für alle HSP-Gene, in denen „loss-of-function“ Mechanismen eine Rolle spielen, auch pathogene CNMs gefunden werden können. Zukünftige diagnostische Strategien sollten dies berücksichtigen. Die Aufdeckung weiterer, nicht klassischer Aberrationen, z. B. großer Inversionen, Mutationen in regulatorischen Elementen und tief intronischer Veränderungen, wird letztlich aber „whole genome sequencing“ Ansätze erfordern.

Abb. 1
figure 1

Ungefähre Häufigkeitsverteilung der betroffenen „hereditary spastic paraplegia“(HSP)-Gene bei verschiedenen Erbmodi. Die Diagramme berücksichtigen große Studien (z. B. [35]), beruhen aber zum Teil auch auf der Perzeption der Autoren; sie sollen damit lediglich die groben Dimensionen verdeutlichen. Eine zukünftige Meta-Analyse aller verfügbaren Literaturquellen wäre wünschenswert

Mutationsmechanismen

Autosomal-rezessive Erbgänge sind in der Regel auf den Funktionsverlust („loss-of-function“, LoF) eines Proteins zurückzuführen. In Übereinstimmung damit handelt es sich bei den zugrunde liegenden Mutationen hauptsächlich um trunkierende Varianten („nonsense“, „splice site“, Leserahmenverschiebungen) oder große Deletionen. Die rezessiven HSPs fügen sich in dieses Konzept zwanglos ein.

Bei autosomal-dominanten Erbgängen dagegen kommen mehrere, konzeptionell verschiedene Mutationsmechanismen in Betracht. Grob lassen sich diese drei Kategorien zuordnen: (i) Bei Haploinsuffizienz wird vom betroffenen LoF-Allel kein Protein oder ein funktionsuntüchtiges Protein exprimiert und die Menge vom nicht betroffenen Allel ist zu gering, einen Krankheitsphänotyp zu verhindern. (ii) Bei einem dominant-negativen Effekt inaktiviert das vom nicht mutierten Allel kodierte Protein auch das vom nicht mutierten Allel kodierte Protein; die Folge ist ein Funktionsverlust, welcher in seiner Konsequenz dem Vorliegen zweier LoF-Allele entspricht. (iii) Bei einer „gain-of-function“ Variante erlangt das vom nicht mutierten Allel kodierte Protein zusätzliche „schädliche“ Eigenschaften [18]. Das heterozygote Fehlen eines kompletten Gens entspricht ohne Frage einem LoF-Allel. Derartige Deletionen wurden als pathogen für SPG4, SPG12 und SPG31 beschrieben (www.hgmd.org), für SPG3A und SPG6 jedoch als nicht ursächlich gekennzeichnet [19, 20]. Auch das Vorkommen trunkierender LoF-Varianten in Patienten- und Kontrollkohorten erlaubt weitere Rückschlüsse. So machen diese einen großen Anteil der ursächlichen Mutationen bei SPG4 (SPAST-Gen) und SPG31 (REEP1) aus (www.hgmd.de), fehlen aber fast komplett in Varianten-Datenbanken (z. B. www.gnomad.broadinstitute.org). Für SPG6 (NIPA1), SPG8 (KIAA0196) und SPG17 (BSCL2) sind die Verhältnisse genau umgekehrt. Für das SPG3A-Gen ATL1 und das SPG10-Gen KIF5A sind keine eindeutigen Schlussfolgerungen möglich: In Patienten werden fast nur „missense“ Mutationen gefunden, dennoch fehlen trunkierende Varianten in Kontrollkohorten.

Wertvolle Einblicke in den möglichen Mutationsmechanismus ermöglichen darüber hinaus allelische Erkrankungen. Für das SPG17-Gen BSCL2 und das SPG8-Gen KIAA0196 beispielsweise sind biallelische LoF-Varianten als Ursache rezessiver Erkrankungen beschrieben, welche keinerlei phänotypischen Überlapp zur HSP aufweisen [21, 22]. Für SPG30 und SPG72 dagegen sind autosomal-dominante und autosomal-rezessive Erbgänge beschrieben und werden auf die Existenz von sowohl dominant-negativen als auch LoF-Varianten zurückgeführt (www.hgmd.org). Schlussendlich ist für einige HSPs auch die Berücksichtigung von Befunden an genetisch veränderten Mäusen von Belang. Tiere, bei denen die jeweiligen Homologe des SPG8-Gens KIAA0196 oder des SPG10-Gens KIF5A homozygot inaktiviert sind, versterben in Embryonal- oder Perinatalstadien, während heterozygote Träger phänotypisch unauffällig sind [23, 24]. Tab. 1 fasst die oben angestellten Überlegungen und die sich ergebenden Konsequenzen zusammen.

Tab. 1 Wahrscheinliche Mutationsmechanismen für ausgewählte autosomal-dominante HSP-Formen (s. auch Text)

Das Wissen um den Mutationsmechanismus ist nicht nur akademischer Natur, sondern hat weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung therapeutischer Strategien. Letztlich muss entschieden werden, ob ein exogenes Zuführen funktionellen Proteins bzw. eine Steigerung der Expression des Wildtyp-Allels oder eine gezielte Inaktivierung des mutierten Allels/Proteins zielführend ist [18]. Zukünftige HSP-Studien sollten diesen Punkt daher mit adressieren.

Klinische Heterogenität innerhalb genetisch definierter HSP-Typen

Die schon in der prägenetischen Ära beobachtete phänotypische Variabilität zwischen HSP-Patienten [2] ist zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Vielzahl assoziierter Gene zurückführbar (s. Einleitung). Allerdings sind zahlreiche der nun genetisch definierbaren Unterformen auch wieder in sich klinisch heterogen. Das betrifft vor allem Erkrankungsalter bzw. Penetranz, Progressionsgeschwindigkeit und Vorhandensein/Fehlen komplizierender Zusatzsymptome. Mögliche Erklärungen sind im Folgenden diskutiert.

Genotyp-Phänotyp-Korrelationen

Genotyp-Phänotyp-Korrelationen innerhalb einer genetisch definierten Erkrankung beschreiben Zusammenhänge zwischen der Art oder Position einer Mutation und dem resultierenden klinischen Bild. Sie aufzudecken ist letztlich ein statistisches Problem. Neben einem breiten phänotypischen Spektrum sind damit auch vergleichsweise umfangreiche Datensätze unabdingbar. Diese Voraussetzungen sind bisher nur für einige HSP-Formen erfüllt.

Die Formen SPG6, SPG10, SPG11 und SPG17 sind ohne Zweifel klinisch sehr variabel. Allerdings existieren bis dato keinerlei Hinweise darauf, dass sich diese Vielfalt an bestimmten Mutationen oder Mutationsarten festmachen lässt. Dasselbe gilt für die mit Abstand häufigste Form SPG4. Obwohl hier gelegentlich immer noch postuliert wird, dass „missense“ Mutationen in SPAST andere Auswirkungen als trunkierende Mutationen hätten [25], konnte eine damit implizit vorhergesagte Genotyp-Phänotyp-Korrelation nicht nachgewiesen werden [26]. Allerdings existieren gewisse große SPAST-Deletionen, die mit einem besonders frühen Erkrankungsalter assoziiert sind und auch das benachbarte Gen DPY30 inaktivieren. Die Involvierung von SPAST und DPY30 in identische zelluläre Prozesse bietet eine attraktive Erklärung für diese klinisch-genetische Ausgangsbeobachtung [27]. Auch für weitere Formen scheinen echte Genotyp-Phänotyp-Korrelationen zu existieren. So wurde vorgeschlagen, dass die Stärke einer Neuropathiekomponente bei SPG3A von der Position der mutierten Aminosäure in der Sekundär- oder Tertiärstruktur des Atlastin1 Proteins abhängt [11]. Bei SPG7 scheinen zerebelläre Symptome häufiger mit trunkierenden als mit „missense“ Mutationen assoziiert zu sein [28]. Vielleicht am eindeutigsten ist die aktuelle Datenlage bei SPG31. Einige Mutationen im zugehörigen REEP1-Gen verursachen eine reine Neuropathie oder Mischphänotypen [29, 30]. Interessanterweise handelt es sich dabei fast ausschließlich um Veränderungen im C‑Terminus. Eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation wäre damit direkt an die Primärstruktur des Proteins geknüpft [31].

Genetische Modifier

Genetische Modifier werden oft pauschal als Erklärung für klinische Heterogenität zwischen Trägern ein und derselben Mutation angeboten. Sie in seltenen monogenen Erkrankungen tatsächlich nachzuweisen, ist aber eine große konzeptionelle und methodische Herausforderung.

Das wohl prominenteste Beispiel eines Modifiers bei HSP ist der p.S44L Polymorphismus im SPG4-Gen SPAST. Sein Vorhandensein in trans zu einer herkömmlichen SPAST-Mutation resultiert in einem sehr frühen Krankheitsbeginn und einem vergleichsweise schweren Phänotyp [32]. Eine ähnliche Rolle wurde für die Variante p.G563A im SPG13-Gen HSP60 vorgeschlagen [33]. Die Variante p.R324H im SPG5-Gen CYP7B1 wurde überzufällig häufig in HSP-Patienten mit komplexen Phänotypen beschrieben [34]. Welche genetische(n) Form(en) hier möglicherweise modifiziert werden, blieb allerdings unklar. Obwohl die aktuelle Datenlage zu genetischen Modifiern damit insgesamt spärlich ist, kann davon ausgegangen werden, dass diese einen erheblichen Anteil an der klinischen Heterogenität innerhalb bestimmter Formen von HSP haben. Zukünftige genomweite Assoziationsstudien oder Exom/Genom-Sequenzierungen an umfangreichen und entsprechend stratifizierten Patientenkollektiven sollten auf diesem Feld Fortschritte erbringen.

Ungeklärte (genetische?) Phänomene

Prädominanz männlicher HSP-Patienten

Ein Überschuss männlicher gegenüber weiblichen HSP-Patienten wurde mehrfach in der prägenetischen Ära beschrieben (z. B. [2]). Auch eine aktuelle Studie bestätigt diese Beobachtung und schlägt die Existenz noch unbekannter X‑chromosomaler Faktoren vor [35]. Allerdings gilt das Phänomen auch bei eindeutig autosomaler Vererbung. Es wurde daher pauschal postuliert, dass Männer im Durchschnitt früher erkranken und deswegen klinisch häufiger vorstellig werden [2]. Im Jahre 2011 befasste sich eine Studie zum ersten Mal mit der männlichen Prädominanz innerhalb einer bestimmten genetischen Form: Für SPG4 fanden die Autoren in einer Meta-Analyse aller bis dahin veröffentlichten Fälle ein Mann:Frau-Verhältnis von 418:325 bzw. 1,29 [36]. Unter Einbeziehung aller seither veröffentlichten Studien zu SPG4 können wir diese Beobachtung hier voll bestätigen (Mann:Frau-Verhältnis von 399:305 bzw. 1,31; Liste zugrunde liegender Studien und Einzelzahlen bei den Autoren erhältlich). Wir testeten auf Basis des Gesamtdatensatzes daraufhin die Hypothese eines niedrigeren Erkrankungsalters bei Männern, was sich in der Tat mit hoher Signifikanz bestätigte (Abb. 2a). Allerdings bleibt das daraus berechnete Verhältnis erkrankter Männer vs. erkrankte Frauen zu jedem Alter unter dem beobachteten Gesamtwert von ~1,3 (Abb. 2a). Ob hier die Erkrankungsschwere oder weitere Faktoren eine Rolle spielen und ob tatsächlich die immer wieder diskutierte Neuroprotektion durch Östrogene [36] eine Rolle spielt, müssen zukünftige Studien zeigen.

Abb. 2
figure 2

Erkrankungsalter bei SPG4. a Geschlechtsspezifische Kaplan-Meier-Analysen (kleiner werdende Werte auf der y‑Achse entsprechen einem oder mehreren Individuen mit Erstmanifestation im entsprechenden Lebensjahr; zensierte Individuen sind Mutationsträger, die zum betrachteten Zeitpunkt (noch) asymptomatisch sind); Männer erkranken im Schnitt signifikant früher. b Altersabhängiges Mann:Frau-Verhältnis, berechnet auf Grundlage der in a präsentierten Daten. Das beschriebene Verhältnis von 1,3:1 kann mit unterschiedlichen Erkrankungsaltern nicht vollständig erklärt werden

Antizipation

Genetische Antizipation bezeichnet das schon lange beobachtete Phänomen eines früheren Erkrankungsalters und/oder eines schwereren Erkrankungsverlaufs in jüngeren Generationen. Mit dem Nachweis von instabilen Trinukleotid-Expansionen bei hauptsächlich neurologischen Erberkrankungen wurde eine mögliche mechanistische Basis dafür gefunden [37]. Bis in die späten 1990er-Jahre hinein wurden auch für die HSPs zahlreiche Stammbäume beschrieben, in denen scheinbar Antizipation vorlag (z. B. [38]). Seit der Erkenntnis, dass die häufigste autosomal-dominante HSP nicht mit Trinukleotid-Expansionen in Zusammenhang steht [4], sind Erwähnungen von Antizipation bei HSP-Familien aus der Literatur aber weitgehend verschwunden. Unser Datensatz, welcher Abb. 2b zugrunde liegt, enthält Angaben zu 156 Eltern-Kind-Paaren für SPG4. Eltern und Kinder erkranken demnach im Schnitt mit 38,1 Jahren (±16,0) bzw. 22,7 Jahren (±15,8). Dieser Unterschied, im Schnitt immerhin 15,4 Jahre, ist hoch signifikant (p = 3 * 10−15, zweiseitiger T‑Test). Allerdings sind Studien zur Antizipation für eine Reihe konzeptioneller und methodologischer Fehler anfällig (z. B. [39]). Ausgehend von dem erstaunlichen Ausmaß einer zumindest scheinbaren Antizipation in unserer vereinfachten Analyse, erscheint eine tiefer gehende Beschäftigung mit diesem aktuell vernachlässigten Thema bei HSP dennoch angebracht.

Ausblick

Das klinische, vor allem aber das genetische Verständnis der HSPs ist in den zurückliegenden Jahren deutlich gewachsen. Für die Entwicklung therapeutischer Strategien ist aber letztlich auch ein umfassendes Verständnis der jeweils relevanten Pathomechanismen nötig. Auch auf diesem Feld sind große Fortschritte erkennbar. Besonders vielversprechende Werkzeuge sind dabei In-vivo-Modelle. Bis dato wurden Knockout Mauslinien für etwa zehn HSP-Gene vorgestellt. Für deren phänotypische Validierung als HSP-Modell stehen zahlreiche Paradigmen zur Verfügung (Abb. 3a). Histologisch kann eine oft sehr prominente Degeneration absteigender Axone im Rückenmark nachgewiesen werden (Abb. 3b). Darüber hinaus konnten Erkenntnisse gewonnen werden, die an Autopsiematerial oder mittels In-vitro-Ansätzen bisher nicht möglich waren. Beispielhaft seien hier genannt: das Auftreten abnormaler axonaler Mitochondrien bei SPG7 [40], die Reduktion der Komplexität des neuronalen endoplasmatischen Retikulums bei SPG31 [41] und die Anreicherung lysosomalen Materials in neuronalen Somata bei den nahe verwandten Formen SPG11 und SPG15 ([42, 43]; Abb. 3c). Aufgrund dieser und ähnlicher Befunde wird angenommen, dass die genetische Vielfalt der HSPs auf die Störung einiger weniger zellulärer Funktionsfelder zurückgeführt werden kann. Zahlreiche Übersichtsartikel der vergangenen Jahre begründen und beleuchten derart vereinheitlichende Konzepte (z. B. [44, 45]). Die funktionelle HSP-Forschung kann damit zu Recht als wegweisend für die Entwicklung kausaltherapeutischer Strategien gelten. Besonders betont und gefördert werden entsprechende Ansätze daher auch von patientenorientierten Initiativen (Tab. 2). Es bleibt zu wünschen, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft erfolgreich sein werden.

Abb. 3
figure 3

Erkenntnisse an einem Knockout Mausmodell für SPG15. a Tier von hinten beim Laufen entlang eines schmalen Bretts. Eine progrediente Gangstörung kann durch die Verkleinerung des Winkels, welchen der Fuß mit der Lauffläche einschließt, quantifiziert werden. b Semidünnschnitt absteigender Axone im lumbalen Rückenmark adulter Knockout Tiere. Einige Axone weisen Schwellungen voller organellartiger Strukturen auf (Pfeile). Größenmaßstab: 5 µm. c Purkinje-Zellen (Umriss gestrichelt) sind bei vielen Formen wie auch SPG15 ebenfalls in die degenerativen Prozesse einbezogen und weisen eine Akkumulation von autofluoreszierendem Material auf. Größenmaßstab: 10 µm. d, e Ultrastrukturanalysen zeigen, dass es sich hierbei um elektronendichte Lipofuszin ähnliche Ablagerungen (Pfeile) lysosomaler Herkunft handelt (Purkinje-Zelle und Kern in d zur besseren Visualisierung nachträglich eingefärbt). Größenmaßstab in d: 10 µm, in e: 500 nm

Tab. 2 HSP-spezifische außerklinische/außerakademische Initiativen im deutschsprachigen Raum

Fazit für die Praxis

  • Die genetische Abklärung einer klinischen HSP-Diagnose sollte die hohe genetische Variabilität, den phänotypischen Überlapp mit verwandten Erkrankungsgruppen und die Existenz von Kopienzahlmutationen berücksichtigen.

  • Eine genetische Beratung wird durch die oft noch unverstandene klinische Variabilität erschwert.

  • Die Beschäftigung mit Phänomenen wie Genotyp-Phänotyp-Korrelationen, genetischen Modifiern, Geschlechtsspezifitäten und möglicher Antizipation mag weitere Einblicke in die klinische Genetik der HSPs erlauben.

  • Aus therapeutischer Sicht ist, besonders für die autosomal-dominanten Formen, ein Verständnis der jeweils relevanten Mutationsmechanismen notwendig.

  • In-vitro- und In-vivo-HSP-Modelle sind ideale Werkzeuge für die zukünftige Entwicklung und Austestung konkreter kausaltherapeutischer Ansätze.