Entschlüsselung von pathologisch veränderten zellulären Systemnetzwerken

Zahlreiche neurodegenerative Erkrankungen, so auch die Alzheimer-Erkrankung („Alzheimer’s disease“, AD), sind von multifaktorieller Natur. Neben exogenen, umwelt- und lebensstilbedingten Faktoren nehmen insbesondere genetische und epigenetische Faktoren Einfluss auf die Pathogenese der AD [62]. Seit über 30 Jahren trägt die Genforschung bereits systematisch dazu bei, die genetische Architektur der AD besser zu verstehen. Das Vorhaben der Wissenschaftler ist es, die der AD zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen durch die Erforschung der genetischen Ursachen zu entschlüsseln.

Formen der Alzheimer-Krankheit

In den 1990er-Jahren konnten die für die monogenen, familiären, frühmanifesten Formen der AD („early-onset“ AD [EOAD], Ersterkrankungsalter < 65 Jahre, Prävalenz 1–5 %) verantwortlichen Gene auf den Chromosomen 21q21.2 [59], 14q24.3 [61] und 1q42.13 [37] identifiziert werden. Diese kodieren jeweils für das Amyloid-Vorläuferprotein („amyloid-β precursor protein“, APP), Presenilin 1 (PSEN1) und dessen Homolog Presenilin 2 (PSEN2). Obgleich hochpenetrante Mutationen in den o. g. Genen äußerst selten sind (5–10 % der EOAD-Fälle) [5], gewährte die funktionelle Charakterisierung dieser aufschlussreiche Einblicke in die molekularen Pathomechanismen, insbesondere der β‑Amyloidogenese, und erweiterte gleichermaßen das Verständnis für die wesentlich häufiger auftretende, oft sporadische, spätmanifeste Form der AD („late-onset“ AD [LOAD], Ersterkrankungsalter > 65 Jahre, Prävalenz > 95 %).

Bedeutung der Genetik bei der LOAD

Im Gegensatz zur EOAD lassen sich bei der LOAD keine eindeutigen, dominanten Übertragungsmuster feststellen, da diese nicht auf pathogene Mutationen in APP, PSEN1 oder PSEN2 zurückzuführen ist [62]. Obgleich bei der LOAD eine familiäre Häufung zu verzeichnen ist, stellen Familien mit mehreren erkrankten Angehörigen eine Ausnahme dar. Daher sind Assoziationsstudien für die Identifizierung genetischer Risikofaktoren unabdingbar. Anfang der 1990er-Jahre gelang es, eine Assoziation zwischen dem APOE ε4-Allel auf Chromosom 19q13.32 und dem Auftreten einer AD nachzuweisen und diese in den folgenden Jahren aufgrund der hohen Prävalenz von APOE ε4 bei AD-Betroffenen konsistent zu replizieren. Bis heute gilt das Vorliegen von ein oder zwei Kopien des APOE ε4-Allels als stärkster Risikofaktor; nicht nur für die LOAD, sondern auch für die EOAD [2, 54, 63]. Das humane Apolipoprotein E (ApoE) existiert in den drei Isoformen ApoE2, ApoE3 und ApoE4, welche die Genprodukte von drei Allelen an zwei Einzelnukleotidpolymorphismen („single-nucleotide polymorphism“, SNP), rs429358 und rs7412, sind und sich hinsichtlich ihrer Aminosäuren an den Positionen 112 und 158 unterscheiden (ApoE2: C112/C158, ApoE3: C112/R158, ApoE4: R112/R158) [39]. Während die Präsenz eines APOE ε4-Allels das AD-Risiko im Vergleich zum ε3-Allel bereits um das Dreifache steigert, erhöht es sich bei ε4/ε4-Homozygotie auf das 12- bis 15-Fache [2]. Hinzukommend existiert ein Gendosiseffekt, der bei ε4/ε4-Homozygotie ein früheres Manifestationsalter der AD begünstigt [8]. Verschiedenartige Mechanismen sind für die Verknüpfung von ApoE4 und AD verantwortlich. Durch eine direkte Interaktion mit dem β‑Amyloid-Peptid (Aβ) vermag ApoE4 den Abbau von Aβ zu modulieren [27]. Glial sezerniertes ApoE4 wirkt zudem stimulierend auf die neuronale Aβ-Produktion [22]. Weiterhin beeinflusst ApoE4 den Cholesterinmetabolismus in ungünstiger Weise [11] und spielt somit eine prädisponierende Rolle für die Entwicklung von kardiovaskulären Erkrankungen, die ihrerseits wiederum das Erkrankungsrisiko für die AD erhöhen [60]. Bemerkenswerterweise konnte für Träger des APOE ε2-Allels eine reduzierte Suszeptibilität für die AD festgestellt werden, die womöglich auf neuroprotektiven Eigenschaften von ApoE2 beruht [7]. Das APOE ε3-Allel gilt als risikoneutral. Wie genau ApoE-Isoformen AD-prädisponierend oder AD-protektiv wirken, ist unvollständig erfasst und bedarf weiterer Untersuchungen [27]. Obwohl APOE ε4 den stärksten genetischen Risikofaktor für die AD darstellt, ist er nicht krankheitsverursachend und macht lediglich 27,3 % der geschätzten Heritabilität von 58–79 % aus [62]. Dementsprechend ist ein Großteil der Heritabilität ungeklärt [52].

Genomweite Assoziationsstudien und Sequenziermethoden der nächsten Generation

Um Polymorphismen zu identifizieren und die fehlende Heritabilität für die LOAD zu erklären, hat sich ein populäres Studiendesign in der genetischen Epidemiologie bewährt. Der Einsatz von hypothesenfreien, genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) erlaubt einen möglichen Nachweis einer Genotyp-Phänotyp-Beziehung, der durch den punktuellen Vergleich der DNA-Sequenz an zahlreichen Loci in einer großen Anzahl erkrankter und nicht erkrankter Individuen erfolgt [31]. Die Anwendung metaanalytischer Methoden erhöht zudem die Aussagekraft von erzielten Ergebnissen und verringert gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit von falsch-positiven Befunden. Aufgrund des Kopplungsungleichgewichtes („linkage disequilibrium“, LD) zwischen benachbarten Varianten handelt es sich methodisch bedingt bei den identifizierten Varianten in den seltensten Fällen um die kausal assoziierte Variante. Daher sind im Anschluss weitere Studien notwendig, die eine Feinkartierung der im LD befindlichen Varianten aufzeigen, um so die pathogene oder die pathogenen Varianten zu identifizieren. Im Rahmen von zwei groß angelegten GWAS im Jahr 2009 wurde nicht nur der genetische Risikofaktor APOE als solcher repliziert; insbesondere konnte die Anzahl von LOAD-assoziierten Suszeptibilitätsloci um drei weitere Risikogene erweitert werden [18, 33]. Zahlreiche GWAS und Sequenzierstudien, die in den folgenden Jahren durchgeführt wurden, trugen zur Aufdeckung von weiteren, häufiger repräsentierten und selteneren Suszeptibilitätsloci bei [17, 21, 25, 26, 44, 53]. Im Jahr 2013 führte eine mehrstufige Metaanalyse im Rahmen des „International Genomics of Alzheimer’s Project“(IGAP)-Konsortiums unter Einsatz von 74.046 Proben zur Bestätigung von Ergebnissen vorangegangener GWAS und zur Detektion von elf neuen genomweit signifikanten Suszeptibilitätsloci für die LOAD [34]. Erst in jüngster Vergangenheit gelang es, drei weitere, seltene Genvarianten zu identifizieren [56]. Durch den technischen Fortschritt und den zunehmenden Einsatz von GWAS und automatisierter Sequenziermethoden der nächsten Generation („whole-exome/-genome sequencing“, WES/WGS) gelingt es Wissenschaftlern sukzessive AD-Risiko-Loci zu identifizieren. Auf Basis der identifizierten Genvarianten erfolgt unter Einbeziehung von Signalwegen und den assoziierten Proteinen die detaillierte Entschlüsselung von pathologisch veränderten zellulären Systemnetzwerken. An der LOAD beteiligte zelluläre Funktionsmodule, welche durch Gen-Ontologie- und Signalweganalysen in den Vordergrund rücken, lassen sich mit Lipoproteinpartikeln, Cholesterin-Efflux, der Regulation von endozytotischen Prozessen und vor allem mit einer Immunantwort assoziieren [24]. Bemerkenswerterweise beobachten Wissenschaftler eine Kumulation von häufigen und seltenen Genvarianten, die sich diesen Funktionsmodulen zuordnen lassen [56]. In den nächsten Abschnitten erfolgt eine detaillierte Beschreibung ausgewählter Kandidatengene, die mit immunsystembezogenen Prozessen der AD in Verbindung gebracht werden können.

Mikroglia vermittelte Immunantwort bei der LOAD

Wichtige Erkenntnisse aus GWAS und Sequenzierstudien suggerieren, dass Mikroglia, die residenten Immunzellen des ZNS, eine entscheidende Rolle bei der Pathogenese der AD spielen. Eine beachtliche Anzahl der in genetischen Studien identifizierten Risikogene weisen immunsystembezogene Funktionen auf: CR1 („complement receptor type 1“), CLU („clusterin“) [18, 33], SPI1 („spi-1 proto-oncogene“), CD33 („cluster of differentiation 33“), MS4A6A/MS4A6E („membrane spanning 4‑domains A6A/A6E“), ABCA7 („ATP-binding cassette sub-family A member 7“), EPHA1 („ephrin receptor A1“), CD2AP („CD2-associated protein“) [21, 44], TREM2 („triggering receptor expressed on myeloid cells 2“) [17, 26], TYROBP („TYRO protein tyrosine kinase-binding protein“) [48], HLA-DRB5/DRB1 („major histocompatibility complex, class II, DRβ5/1“), INPP5D („inositol polyphosphate-5-phosphatase D“) [34], PLCG2 („phospholipase Cγ2“) und ABI3 („B3-domain-containing transcription factor ABI3“) [56]. Hinzukommend werden zahlreiche dieser Gene in höchstem Maße von Mikroglia exprimiert [68].

CR1

CR1 auf Chromosom 1q32 kodiert für den Komplementrezeptor 1, welcher die Faktoren C3b und C4b bindet und an der Regulation der Komplementaktivierung beteiligt ist [20]. CR1 zog insbesondere die Aufmerksamkeit von Alzheimer-Forschern auf sich, als Genvarianten im CR1-Locus identifiziert wurden, die mit einem erhöhten Risiko für die LOAD assoziiert sind. Der SNP rs6656401 zeigte dabei eine prominente Assoziation („odds ratio“, OR = 1,21; p = 3,7 × 10−9) [33]. Weitere SNPs im CR1-Locus, die mit dem LOAD-Risiko in Verbindung gebracht werden, sind rs1408077 (OR = 1,17; p = 8,3 × 10−6), rs6701713 (OR = 1,17; p = 8,7 × 10−6) und rs3818361 (OR = 1,17; p = 9,2 × 10−6) [18]. Es ist wichtig zu erwähnen, dass es sich bei den o. g. SNPs nicht um unabhängige Assoziationssignale handelt, da sich die identifizierten Genvarianten im LD zueinander befinden. Aus diesem Grund sind weitere genetische und funktionelle Studien notwendig, um die tatsächliche(n) krankheitsbedingende(n) Genvariante(n) zu identifizieren und mögliche Pathomechanismen zu entschlüsseln. Auf funktioneller Ebene konnte bei Trägern des Risikoallels der SNPs rs670173 und rs3818361 bereits eine höhere CR1-Expression im Hirngewebe nachgewiesen und mit dem Krankheitsstatus korreliert werden [28]. Zudem ist der SNP rs6656401 mit einer erhöhten Aβ-Plaquebelastung assoziiert [6]. Weiterhin konnte eine positive Korrelation von vier SNPs (rs646817, rs1746659, rs11803956 und rs12034383) im CR1-Locus mit einer erhöhten Menge an Aβ42 in der Cerebrospinalflüssigkeit festgestellt werden. Aufgrund des hohen LD der SNPs im CR1-Gen lässt sich nicht sagen, welcher/welche SNP(s) im LD-Block für die Erkrankung von funktioneller Bedeutung ist und zur Entstehung des untersuchten Phänotyps beiträgt. Zudem existiert eine Kopienzahlvariation im CR1-Locus, welche in einer Produktion verschiedener CR1-Isoformen resultiert. Die längere, sogenannte CR1-S Isoform, ist mit der LOAD assoziiert, welches ein weiteres Indiz für die Beteiligung von CR1 an der Krankheitsentstehung ist [4].

CD33

Bei CD33 handelt es sich um einen Immunrezeptor, der zur Immunglobulin-Superfamilie zählt und dessen Gen auf Chromosom 19q13.3 lokalisiert ist [49]. Es konnte ein Risikoallel des SNP rs3865444, welcher genomweit mit der LOAD-Suszeptibilität assoziiert ist, identifiziert werden [21, 44]. Das C‑Allel des SNP rs3865444 zeigt dabei die stärkste Risiko-Assoziation mit der LOAD, wohingegen das A‑Allel protektiv zu sein scheint [44]. In funktionellen Untersuchungen konnte demonstriert werden, dass Träger des Risikoallels eine höhere CD33-Zelloberflächenexpression aufweisen. Darüber hinaus wurden eine verringerte Internalisierung von Aβ42, eine erhöhte Aβ-Plaquebelastung und eine Zunahme an aktivierten Mikroglia beschrieben [3]. Interessanterweise wurde eine erhöhte Expression von CD33 im Gehirn mit einer verstärkten Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit und dem klinischen Bild der AD in Zusammenhang gebracht [28]. Auf funktioneller Ebene wurde gezeigt, dass der SNP rs3865444 die Exon 2-Spleißeffizienz von CD33 moduliert [40]. In der vom IGAP-Konsortium im Jahr 2013 durchgeführten Metaanalyse lag der SNP rs3865444 knapp unter der genomweit signifikanten Grenze. Aus diesem Grund sind weitere Studien notwendig, um eine tatsächliche Assoziation von CD33 mit der LOAD zu bestätigen [34].

TREM2

Weitere Hinweise für eine Beteiligung von Mikroglia an der Pathogenese der AD rühren von der Entdeckung einer seltenen Genvariante in TREM2 her. Der SNP rs75932628 (p.R47H) erhöht das LOAD-Risiko um das Drei- bis Vierfache und kommt somit dem Assoziationsmaß des APOE ε4-Allels nah [2, 17, 26]. Eine zusätzliche Genvariante in TREM2, rs143332484 (p.R62H), wurde ebenfalls mit der LOAD in Verbindung gebracht sowie eine Reihe von weiteren SNPs, darunter rs142232675 (p.D87N) und rs2234253 (p.T96K) [17, 23, 56]. Da die o. g. kodierenden TREM2-Genvarianten äußerst selten sind, ist eine Bestimmung des LD erschwert. Dies liegt u. a. daran, dass eine allelische Assoziation zwischen den selteneren Genvarianten untereinander sowie zwischen diesen selteneren Genvarianten und aus bekannten häufigeren Varianten bestehenden LD-Blöcken innerhalb des TREM2-Locus noch nicht im Detail bekannt ist. Dass TREM2 jedoch ein Risikogen für die AD ist, wird durch funktionelle Untersuchungen untermauert [66]. Bei TREM2 handelt es sich um ein Immunrezeptor kodierendes Gen auf Chromosom 6p21.1 [30]. Im Vergleich zu Nichtträgern von TREM2 p.R47H zeigen AD-Patienten mit dieser Mutation früher einsetzende Symptome der Erkrankung [17], einen ausgeprägteren Hirnvolumenverlust [51] sowie Verluste an grauer Hirnsubstanz in betroffenen Regionen [38]. Molekulare Studien zeigen einen partiellen Funktionsverlust, was sich in einer vielseitig beeinträchtigten Mikrogliaaktivität äußert [66]. TREM2 konnte mit dem Lipidmetabolismus und insbesondere mit ApoE und ApoJ verknüpft werden, mit denen es direkt interagiert. Untersuchungen haben gezeigt, dass die in der extrazellulären Domäne lokalisierte p.R47H-Mutation eine beeinträchtigte Ligandenbindungskapazität bedingt und somit auch zu einer Veränderung der Lipidhomöostase führen könnte [67]. Neben der AD ist eine weitere Erkrankung mit genomischen Mutationen in TREM2 und TYROBP assoziiert, die Nasu-Hakola-Krankheit, welche in Finnland und Japan endemisch ist. Es handelt sich um eine ausgesprochen seltene, autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die sich in einer fortschreitenden Demenz sowie einer polyzystischen Osteodysplasie äußert – Phänotypen, die sich beide mit dysfunktionalen TREM2/TYROBP-exprimierenden Zelltypen, Mikroglia und Osteoklasten, in Verbindung bringen lassen [47]. Die Tatsache, dass TREM2 mit verschiedenen Demenzformen assoziiert ist, weist auf eine Beteiligung des Rezeptors an gemeinsamen neurodegenerativen Mechanismen und Signalwegen hin.

PLCG2

Im Jahr 2017 hat das IGAP-Konsortium eine seltene Variante in dem Gen PLCG2 (rs72824905, p.P522R, OR = 0,68; p = 5,38 × 10−10) identifiziert, die sich protektiv auf die LOAD auszuwirken scheint und das Erkrankungsrisiko mindert [56]. PLCG2 kodiert für das Enzym PLCγ2, welches das Membranphospholipid PIP2 (Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat) zu den intrazellulären Mediatoren IP3 (Inositol-1,4,5-trisphosphat) und DAG (Diacylglycerol) hydrolysiert [36]. Während der IP3-DAG-Ca2+-Signalweg in diversen Zelltypen aktiv ist, beschränkt sich die Expression von PLCG2 im Gehirngewebe hauptsächlich auf mikrogliale Zellen [68]. Dass PLCγ2 p.P522R einen protektiven Effekt auf die LOAD ausübt und als Enzym ein klassisches Ziel für eine therapeutische Modulation bietet, könnte von besonderer Bedeutung sein. Eine mögliche Rolle von PLCγ2 bei immunvermittelten Prozessen an der AD wird durch die Beschreibung von kleinen heterozygoten Deletionen im kodierenden Bereich und „missense“ Mutationen unterstrichen, die für autosomal-dominant vererbte immundysregulatorische Defekte wie PLAID („PLCγ2-associated antibody deficiency and immune dysregulation“) und APLAID („autoinflammation and PLAID“) verantwortlich sind [14, 46, 69]. Die Mechanismen, wie PLAID/APLAID-assoziierte Mutationen zur jeweiligen Erkrankung führen, sind hochkomplex und äußern sich in einem Funktionsgewinn wie auch Funktionsverlust von PLCγ2 in zellulären Signalwegen. Häufig kommt es durch die Mutationen zu einer Beeinträchtigung der cSH2 („carboxy terminal Src-homology 2“) autoinhibitorischen Domäne, was zu einer kompromittierten Aktivität des Enzyms führen kann [43, 65]. Darüber hinaus wurden PLCG2-Mutationen mit der Ibrutinib-resistenten chronischen lymphatischen Leukämie in Verbindung gebracht [64]. Wie sich die AD-assoziierte p.P522R-Mutation, die außerhalb der SH2-Domänen lokalisiert ist, auf PLCγ2 und PLCγ2-vermittelte Prozesse auswirkt, ist zurzeit Gegenstand intensiver Forschung.

ABI3

Die Genvariante p.S209F (rs616338, OR = 1,43; p = 4,56 × 10−10) in ABI3 wurde vor Kurzem als Risikofaktor für die LOAD identifiziert [56]. Wie auch die Genprodukte von PLCG2 und TREM2 nimmt ABI3 (über Interferon-gesteuerte Signaltransduktion) eine immunsystembezogene Funktion wahr [12]. Zusammen mit INPP5D, das bereits mit dem LOAD-Risiko in Zusammenhang gebracht wurde [34], wird ABI3 co-exprimiert. Weiterhin spielt es eine wichtige Rolle bei der Organisation des Aktinzytoskeletts über den WAVE2-Komplex („Wiskott-Aldrich syndrome protein family verprolin-homologous protein 2“) [55]. Dieser Komplex reguliert unter anderem Signalwege, die zur Aktivierung von T‑Zellen führen [45].

Interaktion von immunsystembezogenen Proteinen bei der LOAD

Wichtige Erkenntnisse aus der Genforschung weisen auf die Beteiligung von Mikroglia vermittelten Prozessen bei der Pathogenese der AD hin. Gene, welche die Suszeptibilität für die AD modifizieren, lassen sich insbesondere der angeborenen Immunantwort zuordnen [19]. Ein von Sims und Kollegen konstruiertes, aus 56 Genen bestehendes Interaktionsnetzwerk, beinhaltet eine Vielzahl von mikroglialen, immunassoziierten Genen, darunter TREM2, PLCG2, ABI3, SPI1, INPPD5 und TYROBP [56]. Als myeloider Schlüsseltranskriptionsfaktor übernimmt das Genprodukt von SPI1, PU.1, eine zentrale Rolle bei der homöostatischen Funktion von Mikroglia [58]. Die Tyrosinkinase Syk, welche indirekt mit dem TREM2/DAP12-Komplex assoziiert ist, vermittelt unter anderem die Phosphorylierung von PLCγ2 [32] und moduliert die Produktion von Aβ und die Tau-Hyperphosphorylierung [48]. Über den INPP5D-CD2AP-Komplex wird die Degradation von Syk reguliert [1]. Darüber hinaus wird der blutdrucksenkende Ca2+-Antagonist, Nilvadipin, welcher inhibierend auf Syk wirkt, in einer klinischen Phase-III-AD-Studie begutachtet; das Ergebnis bleibt abzuwarten ([35], Clinical Trial Identifier: NCT02017340). Neben SPI1 und SYK sind auch TREM2, TYROBP und PLCG2 zentrale, miteinander verbundene Knotenpunkte in einem mikroglialen, immunassoziierten Gennetzwerk [41, 50, 56]. Durch die Beteiligung von ABI3 an der Regulation des Aktinzytoskeletts [55] wäre es denkbar, dass sich eine Fehlfunktion von ABI3 auf TREM2-vermittelte, chemotaktische und phagozytotische Prozesse auswirken könnte [29, 42]. Die Identifikation dieser LOAD-assoziierten Gene und funktionelle Untersuchungen erbringen eindeutige Hinweise dafür, dass eine mikrogliale Dysfunktion eine ursächliche Rolle bei der LOAD spielen könnte. Zukünftige Studien werden aufklären, ob Mutationen in diesen verschiedenen Genen zur Beeinträchtigung von gemeinsamen Signalwegen führen und wie die Genprodukte zur therapeutischen Modulation der LOAD genutzt werden könnten.

Klinische Anwendungsaspekte

Ein weiteres Ziel der Genforschung ist es, Ansätze zu entwickeln, um Befunde routinemäßig in die klinische Praxis einzubringen. Die Charakterisierung von hochpenetranten Mutationen in APP, PSEN1 und PSEN2 erbrachte wertvolle Erkenntnisse, die Anwendung in Diagnose und Arzneimittelentwicklung finden. Mittels spezifischer Gentests können potenziell von EOAD betroffene Familienmitglieder auf die Vererbung von Genmutationen untersucht werden. Weil die AD nicht heilbar ist und zurzeit keine besonders wirksame Therapie zur Linderung der Alzheimer-Symptome bzw. zur Veränderung des Krankheitsverlaufs existiert, nimmt in diesem Zusammenhang ein multidisziplinäres Team aus Klinikern, Genetikern und Psychologen eine entscheidende Rolle bei der Mitteilung eines positiven Befundes ein [16]. Mutationen in den o. g. Genen sind allerdings äußerst selten und finden sich nur in 5–10 % der Fälle [5]. Dies lässt einen großen Teil der Fälle ungeklärt und impliziert auch, dass weitere, noch unidentifizierte Gene der EOAD zugrunde liegen könnten. In diesem Zusammenhang spielen die rasanten Entwicklungen von neuen Technologien (Sequenziermethoden der nächsten Generation) in der Genforschung eine wichtige Rolle für die Aufdeckung von zusätzlichen Genen und pathogenen Mutationen. Diese neuen Erkenntnisse erweitern kontinuierlich die Möglichkeiten der Molekulardiagnostik und erhöhen somit die Wahrscheinlichkeit einer molekularen Aufklärung von bisher ungelösten Fällen. Die Anwendung von Befunden aus GWAS in der klinischen Praxis wird allerdings durch zwei Gründe erschwert: Die identifizierten Signale stellen womöglich nicht die ursächlichen Varianten dar und üben nur eine niedrige bis moderate Wirkung auf das Krankheitsrisiko aus [10]. Sogar das APOE ε4-Allel, welches die höchste OR aufweist, ist allein für eine Krankheitsmanifestation nicht ausreichend. Allerdings beträgt das in einer Studie von Genin und Kollegen errechnete Lebenszeitrisiko (LZR) an AD zu erkranken für weibliche Individuen im Alter von 85 Jahren mit dem APOE ε4/ε4-Genotyp 60 %. Bei männlichen Trägern ist das LZR etwas geringer und beläuft sich auf 51 %. Im Vergleich dazu ist das LZR für heterozygote APOE ε3/ε4-Trägerinnen und Träger deutlich herabgesenkt (30 % bzw. 23 %). Ungeachtet des APOE-Genotyps beläuft sich das LZR in dieser Studie auf 11 % (männl. Individuen) und 14 % (weibl. Individuen) [15]. Folglich stellt sich die Frage, ob im Rahmen humangenetischer Beratung und Diagnostik der APOE-Genotyp bestimmt werden sollte. Diesbezüglich hat die Forschung zeigen können, dass eine präventive Intervention durch Veränderungen in der Lebensweise den genetisch bedingten Effekten des APOE ε4 entgegenwirkt [13]. Mit dem Vorhaben, die in GWAS identifizierten Signale effektiver nutzen zu können, wird vermehrt auf die Bildung eines genetischen Risk-Scores („genetic risk score“, GRS) hingearbeitet, welcher auf kumulativen Effekten aus individuellen Suszeptibilitätsvarianten basiert. Obwohl die Signale aus GWAS und die Ergebnisse von GRS-Tests für eine Prädiktion oder klinische Diagnose der AD nicht eindeutig sind, liegt ihr großer Nutzen darin, frühzeitig Individuen zu identifizieren, die ein gesteigertes AD-Risiko haben. Eingeschlossen in therapeutische oder Biomarker-Studien, könnten diese AD-Risikopersonen zu eindeutigeren Ergebnissen beitragen [57]. Weiterhin ist in naher Zukunft eine medikamentöse Heilung oder Verzögerung des Krankheitsverlaufs der AD nicht zu erwarten; daher kann bei frühzeitiger Identifizierung von AD-Risikopersonen ein verstärkter Fokus auf der Krankheitsprävention liegen [9].

Fazit für die Praxis

  • Obgleich die durch die Genforschung gewonnenen Erkenntnisse noch keine umfassende klinische Anwendung gefunden haben, unterstreichen sie ihren Nutzen für die Erstellung eines genetischen „risk score“, der eine frühzeitige Identifikation von Individuen mit erhöhtem AD-Risiko ermöglicht. Diesbezüglich hat die Forschung gezeigt, dass präventive Maßnahmen genetischen Risikofaktoren, wie beispielsweise dem APOE ε4-Allel, entgegenwirken können.

  • Wichtige Erkenntnisse aus GWAS und Signalweganalysen suggerieren, dass Mikroglia eine entscheidende Rolle bei der Pathogenese der AD spielen. Vor allem die Identifikation von PLCγ2 p.P522R eröffnet eine vielversprechende Möglichkeit für eine therapeutische Modulation der AD.