Monogene Adipositasformen haben eine geringe Prävalenz, die mit 1–5 % in der Gruppe extrem adipöser Patienten angegeben wird. Dabei stellen heterozygote Veränderungen des MC4-Rezeptors die häufigste Variante dar. Seltener finden sich homozygote Veränderungen des Leptingens, Leptinrezeptorgens oder weiterer Gene des Leptin-Melanocortin-Signalweges. Die Herausforderung in der Praxis ist die Unterscheidung zwischen diesen monogenen Formen der Adipositas und anderen Adipositasformen. Dabei stellt sich die Frage, wann weiterführende Diagnostik durchzuführen ist.

Hintergrund

Die Prävalenz von Adipositas im Kindes- und Jugendalter ist über die letzten drei Jahrzehnte deutlich gestiegen. Dabei wird mit zunehmendem Lebensalter auch ein Anstieg der Prävalenzraten beobachtet. In Deutschland leiden 2,9 % der 3‑ bis 6‑Jährigen, 6,4 % bei den 7‑ bis 10-Jährigen und 8,5 % der 14- bis 17-Jährigen an einer Adipositas [14]. Untersuchungen zeigen aber auch, dass sich die Zahl der adipösen Kinder und Jugendlichen seit einigen Jahren auf hohem Niveau stabil hält [20, 29]. Monogene Adipositasformen haben dagegen eine nur geringe Prävalenz, die je nach Untersuchung zwischen 1–5 % in der Gruppe extrem adipöser Patienten angegeben wird [5, 16, 25].

Merksatz 1: Eine Adipositas im Kindes- und Jugendalter liegt bei einem BMI > 97. Perzentile, eine extreme Adipositas bei einem BMI > 99,5 alters- und geschlechtsspezifischer Perzentile vor.

Leptin und monogene Adipositas

Das aus Adipozyten stammende Hormon Leptin spielt eine zentrale Rolle in der Regulation der Energiehomöostase und Körperfettmasse. Es vermittelt über den zentralen Leptin-Melanocortin-Signalweg Sättigung und reguliert so die Energieaufnahme. Durch die Interaktion mit seinem hypothalamisch exprimierten Rezeptor erfolgt die Aktivierung von Proopiomelanocortin (POMC) produzierenden Neuronen. Durch weitere Prozessierung des Prohormons POMC entsteht alpha-Melanozyten stimulierendes Hormon (α-MSH), welches wiederum über die Aktivierung des Melanocortin 4(MC4)-Rezeptors Sättigung bewirkt.

Merksatz 2: Mo nogene Defekte im Leptingen oder in Genen des Leptin-Melanocortin-Signalweges gehen mit einem gestörten Sättigungsempfinden einher und können bereits im frühen Kindesalter zur Manifestation einer extremen Adipositas führen.

Derzeit besteht nur für wenige Formen der monogenen Adipositas eine pharmakologische Therapieoption. Als einzige kausale Therapie steht bei Leptindefizienz subkutan zu applizierendes, rekombinant hergestelltes Metreleptin zur Verfügung. In 2016 publizierten Kühnen et al. die Behandlungsergebnisse zweier Patientinnen mit POMC-Mangel. Durch die Gabe des α‑MSH-Analogons Setmelanotide konnte bei beiden eine Reduktion des Hungergefühls und ein deutlicher Gewichtsverlust erzielt werden. Setmelanotide wird nun auch als mögliche Therapieoption für Patienten mit Leptinrezeptordefizienz und Prader-Willi-Syndrom diskutiert [13].

Je früher im Leben eine monogene Ursache der Adipositas diagnostiziert wird, desto früher können die Patienten eine adäquate Therapie erhalten und vor weiterer Stigmatisierung und der Manifestation von adipositasassoziierten Komorbiditäten bewahrt werden. Darüber hinaus kann die Diagnose eine Entlastung für die betroffenen Familien darstellen und dabei helfen, die Adipositas als chronische Erkrankung zu akzeptieren. Entsprechend wichtig ist es, Patienten mit monogener Adipositas möglichst frühzeitig aus der Masse des adipösen Patientenkollektivs zu erkennen.

Body Mass Index als Indikator für monogene Adipositas

Bisher wurden nur wenige BMI-Verläufe bei einzelnen Patienten mit monogener Adipositas publiziert [4, 11, 13, 30]. Wir hatten die einzigartige Möglichkeit erstmals frühkindliche BMI-Daten im Alter von 0 bis 5 Jahren in einer pädiatrischen Kohorte von 21 Kindern mit monogener Adipositas aufgrund von Mutationen im Leptingen, Leptinrezeptorgen und MC4-Rezeptorgen vergleichend zu analysieren. Es wurde untersucht, ob der frühkindliche BMI-Verlauf als ein Entscheidungskriterium herangezogen werden kann, um weitere Diagnostik zur Abklärung einer monogenen Adipositas zu veranlassen.

Methoden

Diese retrospektive Studie schließt 21 Patienten mit monogener Adipositas ein, die in unserer Klinik von 2003–2016 gesehen wurden.

Patientenkollektiv

Der zugrunde liegenden Mutation folgend, wurden 3 Gruppen gebildet: funktioneller Leptinmangel (LEP), Leptinrezeptordefizienz (LEPR) und MC4-Rezeptordefizienz (MC4R). Eine Übersicht der zugrunde liegenden Mutationen zeigt Tab. 1.

Tab. 1 Überblick über die individuellen Mutationen bei 21 Patienten mit monogener Adipositas aufgrund einer Mutation des Leptingens (LEP), Leptinrezeptorgens (LEPR) und Melanocortin-4-Rezeptor-Gens (MC4R)

In der Gruppe LEP mit n = 6 Patienten (2 weiblich, 4 männlich) sind 3 Patienten mit kongenitalem Leptinmangel (LEP1-3) und 3 Patienten mit biologisch inaktivem Leptin (LEP4-6) zusammengefasst. Da LEP1, LEP3 und LEP4 vor Vollendung des 5. Lebensjahres eine Hormonsubstitutionstherapie mit Metreleptin erhielten, wurden nur die Daten bis zum Therapiestart in die Analyse einbezogen. Die Gruppe LEPR schließt ebenfalls n = 6 Patienten (2 weiblich, 4 männlich, LEPR1-6) ein, die Gruppe MC4R 9 Patienten (2 weiblich, 7 männlich, MC4R1-9).

Body Mass Index und BMI-Perzentilen

Der Body Mass Index wurde errechnet aus Körpergewicht geteilt durch die Körperhöhe zum Quadrat (kg/m2). Es fanden die deutschen BMI-Perzentilen von Kromeyer-Hauschild et al. (2001) Anwendung [12]. Alle Daten zu Gewichts- und Körperhöhenentwicklung zwischen Geburt und 5. Geburtstag wurden zur Ermittlung der BMI-Werte verwendet. Dabei standen sowohl die in den gelben Vorsorgeuntersuchungsheften dokumentierten Daten von U1 bis U9 als auch Messdaten aus zusätzlichen ärztlichen Konsultationen zur Verfügung. Neben der Analyse der BMI-Verläufe wurden zu den Zeitpunkten der U7 im Alter von 2 Jahren und U9 im Alter von 5 Jahren die erreichten BMI-Werte zwischen den Gruppen verglichen.

Statistik

Die deskriptive Statistik beinhaltet Mittelwerte und Standardabweichung (standard deviation, SD). Die Daten in den eckigen Klammern stellen den gesamten Datenbereich dar. Die statistische Analyse wurde mittels GraphPad Prism Version 6.01 (GraphPad Software, La Jolla, CA, USA) durchgeführt. Die Darstellung der BMI-Verläufe erfolgte als Polynom 3. Grades. Die BMI-Verläufe wurden vor dem Hintergrund der deutschen BMI-Perzentilen für Jungen dargestellt, da der Großteil der Patienten (n = 15) männlich war.

Ergebnisse

Zum Zeitpunkt der Geburt hatten alle Patienten einen normalen BMI [11,5–14,9 kg/m2]. Patienten der Gruppen LEP und LEPR zeigten innerhalb des ersten Lebensjahres einen rasanten Anstieg des BMI, sodass bei allen Patienten im Alter von 1 Jahr bereits eine extreme Adipositas mit BMI > 99,5 Perzentile [23,4–31,2 kg/m2] bestand. Im Alter von 2 Jahren lagen alle Patienten mit ihrem BMI deutlich >25 kg/m2 [27,2–38,4 kg/m2] und im Alter von 5 Jahren deutlich >30 kg/m2 [33,4–45,9 kg/m2].

Im Gegensatz zu den Gruppen LEP und LEPR fällt in der Gruppe MC4R der BMI-Anstieg weniger stark aus. Im Alter von 2 Jahren lagen die BMI-Werte in dieser Gruppe deutlich unter 25 kg/m2 [15,5–20,5 kg/m2] und im Alter von 5 Jahren unter 30 kg/m2 [18,0–26,0 kg/m2]. Eine extreme Adipositas mit BMI-Werten >99,5 Perzentile manifestierte sich bei n = 3 zwischen dem 2. und dem 4. Geburtstag.

Tab. 2 zeigt eine Auswahl der BMI-Werte über die ersten 5 Lebensjahre.

Tab. 2 Auswahl an BMI-Werten (kg/m2), mittlere BMI-Werte(kg/m2) und Standardabweichung (SD) in der Kohorte von 21 Kindern mit monogener Adipositas aufgrund einer Mutation des Leptingens (LEP), Leptinrezeptorgens (LEPR) und Melanocortin-4-Rezeptorgens (MC4R) bei Geburt (0 J.) und im Alter von 0,5 bis 5 Jahren (0,5–5 J.)

Zusammenfassend zeigen die Daten vergleichbare, nahezu identische frühkindliche BMI-Verläufe bei Patienten mit Leptindefizienz und Leptinrezeptordefizienz. Die BMI-Werte im Alter von 2 Jahren lagen mit >25 kg/m2 und im Alter von 5 Jahren mit >30 kg/m2 bei diesen Patienten deutlich höher als bei Patienten mit funktionell relevanter heterozygoter MC4-Rezeptormutation.

Diskussion

Homozygote Mutationen des Leptingens führen zu einer Leptindefizienz. Dieser funktionelle Leptinmangel kann entweder durch fehlende Hormonproduktion, fehlende Hormonsekretion oder biologische Inaktivität des Hormons aufgrund fehlender Rezeptorbindung bedingt sein [8, 19, 27, 28]. Darüber hinaus führen homozygote oder compound heterozygote Mutation des Leptinrezeptorgens zu Störungen in der Rezeptorexpression oder Signaltransduktion. Gemeinsamer Phänotyp beider Entitäten ist die frühmanifeste, extreme Adipositas, wie sie alle hier untersuchten Patienten der Gruppen LEP und LEPR zeigten. Zusätzlich sind Hyperphagie, nahrungssuchendes Verhalten, endokrine Störungen wie hypogonadotroper Hypogonadismus (klinisch als verzögerter Pubertätseintritt imponierend) und ein herabgesetzter Sympathikotonus für Patienten mit Leptindefizienz und Leptinrezeptordefizienz beschrieben [9, 11, 26,27,28].

Im Gegensatz dazu zeigen Patienten mit MC4-Rezeptordefizienz einen deutlich variableren Phänotyp im Hinblick auf das Alter bei Adipositasmanifestation und Schweregrad der Adipositas [5, 16, 25]. Ursächlich dafür ist, dass sich die zugrunde liegenden Mutationen des MC4-Rezeptorgens unterschiedlich stark auf die Rezeptorfunktion auswirken und von völligem Funktionsverlust bis zu einer individuell erhaltenen Restfunktion reichen können. Dabei haben Träger einer homozygoten Mutation mit komplettem Funktionsverlust des Rezeptors den stärksten Phänotyp einschließlich einer frühen Adipositasmanifestation [4]. Die häufiger vorkommenden Träger einer funktionell relevanten heterozygoten Mutation des MC4-Rezeptors mit variabler Rezeptorrestfunktion zeigen einen milderen Phänotyp. Insbesondere die frühkindliche Manifestation einer extremen Adipositas ist dabei kein klassisches klinisches Merkmal, wie die BMI-Verläufe der Gruppe MC4R zeigen.

Die Manifestation einer extremen Adipositas in den ersten Lebensjahren ist selten. Die vorliegenden Daten zeigen, dass frühkindliche BMI-Werte als Entscheidungskriterium für die Einleitung einer Diagnostik monogener Adipositas herangezogen werden können. Basierend auf den hier gezeigten BMI-Verläufen empfehlen wir die Bestimmung von Leptin im Serum und Messung des bioaktiven Leptins bei Kindern, deren BMI im Alter von 2 Jahren 25 kg/m2 bzw. im Alter von 5 Jahren 30 kg/m2 überschreitet und ggf. eine weiterführende molekular-genetische Diagnostik.

Eine Einschränkung der vorliegenden Studie besteht darin, dass die Gewichtsentwicklung von in Europa aufwachsenden Kindern zugrunde gelegt wurde. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gewichtsentwicklung in anderen Populationen und unter anderen Lebensbedingungen nicht vergleichbar verläuft. BMI-Werte unter den o. g. Grenzen in den ersten Lebensjahren machen eine Störung auf Basis eine Mutation des Leptin- oder Leptinrezeptorgens dennoch höchst unwahrscheinlich, schließen eine monogene Ursache jedoch auch nicht aus, wie es die Daten der Patienten mit heterozygoter Mutation des MC4-Rezeptors zeigen. Die Unterscheidung zwischen monogener Adipositas aufgrund einer heterozygoten Mutation des MC4-Rezeptors und anderen Formen der Adipositas bleibt eine Herausforderung.

Fazit für die Praxis

  • A) Indikation zur Abklärung von Leptindefizienz mit Bestimmung von Leptin im Serum und Messung des bioaktiven Leptins:

    1. 1.

      Manifestation einer extremen Adipositas im frühen Kindesalter: BMI > 25 kg/m2 im Alter von 2 Jahren (U7); BMI > 30 kg/m2 im Alter von 5 Jahren (U9)

    2. 2.

      Hyperphagie und nahrungssuchendes Verhalten

    3. 3.

      1 + 2 und Hypogonadismus/verzögerte Pubertät bei Jugendlichen

  • B) Indikation zur Sequenzierung des Leptingens bei Erfüllung der Kriterien unter A) sowie erniedrigter oder nicht nachweisbarer Leptinspiegel

  • C) Indikation zur Sequenzierung des Leptinrezeptors bei Erfüllung der Kriterien für A) und nach Ausschluss einer Leptingenmutation (B).