Lernziele

Nach der Lektüre dieses Beitrags …

  • sind Sie über die epidemiologischen Grundlagen orofazialer Spalten informiert.

  • sind Sie mit der embryonalen Entstehung orofazialer Spalten vertraut.

  • haben Sie einen Überblick über die Unterformen orofazialer Spalten gewonnen und sind in der Lage, eine orofaziale Spalte zu klassifizieren.

  • kennen Sie häufige syndromale Formen orofazialer Spalten.

  • sind Sie über den aktuellen Kenntnisstand zu den genetischen Hintergründen orofazialer Spalten informiert.

Einführung

Orofaziale Spalten umfassen Lippenspalten, Lippen-Kiefer-Spalten, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (LKGS) und reine Gaumenspalten (GS), horizontale und schräge Gesichtsspalten und andere seltene Spaltformen. Sie sind nach den Herzfehlern die häufigsten angeborenen Fehlbildungen, phänotypisch sehr variabel (Abb. 1) und genetisch heterogen. Wenn die Frage nach der Ursache, einem Syndrom oder der Wiederholungswahrscheinlichkeit für Geschwister oder Kinder Betroffener gestellt wird, wenden sich die Familien oftmals an die Humangenetik .

Abb. 1
figure 1

Formen orofazialer Spalten. a Inkomplette Lippenspalte rechts. b Lippenspalte links. c Lippen-Kiefer-Spalte rechts (keine Aussage zum Gaumen möglich). d Beidseitige Lippen-Kiefer-Spalte mit hervortretendem „Zwischenkiefersegment“. e Weichgaumenspalte. f Spalte in Hart- und Weichgaumen. g, h Horizontale Gesichtsspalten im Bereich des Mundwinkels bei Goldenhar-Sequenz. (Mit freundl. Genehmigung der Patienten bzw. ihrer Eltern)

Komorbiditäten und Behandlungskonzepte

Orofaziale Spalten können eine wesentliche Beeinträchtigung darstellen. Der Gesetzgeber hat über den Weg der Anerkennung des „Grades der Behinderung“ eine Möglichkeit zur finanziellen Hilfe geschaffen [1].

Betrifft die Spalte den Gaumen, kann Nahrung oder Flüssigkeit in die Nasenhöhle gelangen und durch die Nase austreten; der zum Saugen nötige Unterdruck kann schlechter erzeugt oder unzureichend gehalten werden. Ohne Zugang zu medizinischer Versorgung kann dies zu Unterernährung und stark eingeschränkter Lebenserwartung führen. Gaumenspalten können mit einer Beeinträchtigung der Laut‑/Stimmbildung, des Stimmklangs (Näseln) und der Sprachentwicklung sowie einer Dysfunktion der Eustachi-Röhre mit in der Folge entzündlichen Mittelohrerkrankungen und Hörminderung einhergehen.

Sind Lippe und Kiefer betroffen, bestehen oft Malokklusionen und Dysgnathien sowie eine Beeinträchtigung der Mimik und Ästhetik. Die Spaltbildung nach außen sichtbarer Strukturen wird im Vergleich zur rein intraoralen Spalte als belastender empfunden [2].

Die Therapie erfordert Expertise und eine aktive Zusammenarbeit mehrerer medizinischer Fächer und konzentriert sich in Deutschland zunehmend auf Spaltzentren. Das Kernstück der Behandlung ist der chirurgische Spaltverschluss . Kieferorthopäde, Pädaudiologie, Logopädie, Zahnheilkunde, Pädiatrie, Psychologie und Humangenetik begleiten die Patienten. Ein allgemein anerkanntes Behandlungskonzept im Sinne von Stellungnahmen, Leit- oder Richtlinien gibt es nicht. Sowohl in den Behandlungsmethoden als auch der zeitlichen Koordination der Behandlungsschritte unterscheiden sich die Strategien der einzelnen Zentren teils ganz wesentlich.

Embryogenese des Mittelgesichts, Entstehung orofazialer Spalten

Das Mittelgesicht bildet sich aus ektodermalen Epithel- und mesodermalen Neuralleistenzellen. Zum Verständnis der Klassifizierung orofazialer Spalten ist das Verständnis der embryonalen Abläufe hilfreich [3, 4].

Lippe, Alveolarkamm und vorderer (primärer) Gaumen

Embryonalentwicklung

Das Philtrum, der mediane Teil der Oberlippe und des Alveolus sowie ein kleiner anteriorer Teil des Gaumens („primärer“ Gaumen), bilden sich von der 5. bis 7. Woche post conceptionem aus den paarig angelegten Processus frontonasales mediales (Abb. 2 und 3). Diese verschmelzen in der Mittellinie miteinander. Mitunter ist diese Verschmelzungslinie in der Mitte des Philtrums als feine Raphe sichtbar (Abb. 4). Nach lateral verschmelzen die Processus frontonasales mediales mit den Processus maxillares. Die Processus maxillares wiederum verschmelzen kaudal-lateral mit dem Processus mandibularis.

Abb. 2
figure 2

Embryonale Fazies (ca. 7. Woche post conceptionem). a Blau Processus frontalis; rot Processus maxillaris; violett Processus mandibularis. b Pink Verlaufslinien von häufigen Lippenspalten. c Pink Verlaufslinien zweier seltener Spaltformen: mediane Lippenspalte, horizontale Spalten im Bereich der Mundwinkel

Abb. 3
figure 3

An häufigen orofazialen Spalten beteiligte Strukturen, dargestellt am „Homunkulus“. a Blau Derivate des Processus frontalis; rot Derivate des Processus maxillaris. b Häufige Verlaufslinien von Spalten: Philtrum, Lippe, Alveolarfortsatz, primärer Gaumen und Hartgaumen stets lateral, hingegen Weichgaumen und Uvula median

Abb. 4
figure 4

Zeichen der Fusion der beiden Processus frontonasales mediales untereinander. a Pfeil Diskrete mediane Raphe im Bereich des Philtrums. (Mit freundl. Genehmigung der Patientin bzw. ihrer Eltern). b Bei vielen Tieren, z. B. hier beim Berberaffen (Macaca sylvanus), ist diese Fusionslinie deutlich besser zu erkennen

Entstehung der Spalten

Ist die Fusion der Processus frontonasales mediales mit den Processus maxillares gestört, ist die Lippe praktisch immer betroffen; die Spalte in Alveolarfortsatz und primärem Gaumen ist variabel (Abb. 5; [4, 5]). Es handelt sich stets um eine links und/oder rechts des Philtrums, also lateral verlaufende Spalte. Mikroformen derartiger Spalten sind z. B. bindegewebige Stränge am lateralen Rand des Philtrums, ein nach oben verzogenes Lippenrot, Kerben im Alveolarfortsatz oder ein gespaltener lateraler Schneidezahn [6].

Abb. 5
figure 5

Pink Verlaufslinien der häufigen, in den Wochen 5–7 post conceptionem in anterioren Strukturen entstehenden Spalten. a–c Auf die Oberlippe beschränkt. d–f Oberlippe und Alveolarfortsatz betroffen. g–i Oberlippe, Alveolarfortsatz und primärer Gaumen betroffen

Ist die Fusion der Processus frontonasales mediales miteinander, d. h. in der Mittellinie, gestört, kann es zur Bildung einer medianen Lippenspalte kommen (Abb. 2). Bei dieser Form der Lippenspalte erscheint das Mittelgesicht symmetrisch; sie zählt zu den seltenen Spaltformen und ist in aller Regel Bestandteil eines übergeordneten Syndroms (z. B. Ellis-van-Creveld-Syndrom, frontonasale Dysplasie, Holoprosenzephalie, orofaziodigitales Syndrom). Ist die Fusion der Processus maxillares mit dem Processus mandibularis gestört, kann es zu horizontalen Gesichtsspalten wie z. B. bei der Goldenhar-Sequenz kommen.

Harter und weicher Gaumen (sekundärer Gaumen)

Entwicklung

Der sekundäre Gaumen bildet sich in der 8. bis 9. Embryonalwoche aus 2 Fortsätzen der Processus maxillares („Gaumenplatten“). Die Gaumenplatten fusionieren anterior mit dem primären Gaumen und in der Mittellinie miteinander; Mund- und Nasenhöhle sind damit voneinander getrennt. Im vorderen Abschnitt der Gaumenplatten bilden sich knöcherne Strukturen („harter Gaumen“). Von dorsal verschmilzt der Vomer nasalis in der Mittellinie mit dem harten Gaumen; hier stoßen somit 3 Strukturen aneinander. Der knöcherne Gaumen endet posterior in einem tastbaren, als Spina nasalis posterior bezeichneten Sporn. Der noch weiter posterior gelegene Teil des Gaumens ist der weiche Gaumen (Velum ), der in der Uvula endet. Es besteht aus mit Schleimhautschicht überzogenen Muskeln [3, 4].

Spaltbildung

Das Verschmelzen der beiden Gaumenplatten verläuft „reißverschlussartig“ von anterior nach posterior. Ist diese Fusion gestört, kommt es zur Gaumenspalte (GS). Betrifft diese den Hartgaumen, so sind im Sinne des Verschlussvorgangs auch Weichgaumen und Uvula gespalten. Im Bereich der Hartgaumenspalte kann der Vomer nasalis mit einer der Gaumenplatten verbunden (rechts-/linksseitige Hartgaumenspalte) oder unverbunden sein (beidseitige Hartgaumenspalte; Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Pink Verlaufslinien der häufigen, in den Wochen 8 und 9 post conceptionem in posterioren Strukturen entstehenden Spalten. a Hartgaumenspalte rechts und Velumspalte. b Hartgaumenspalte links und Velumspalte. c Hartgaumenspalte beidseits und Velumspalte. d Reine Velumspalte

Die Spaltbildung kann nur den weichen Gaumen („Velumspalte“ ) betreffen; diese ist immer median. Ist die Spaltbildung auf die Uvula beschränkt, spricht man von einer Uvula bifida . Diese Minimalform einer GS ist mit ca. 2–3 % verhältnismäßig häufig und funktionell bedeutungslos.

Schließt sich zwar die Schleimhautschicht in der Mitte des Weichgaumens, nicht aber die Muskelschicht, bildet sich die sog. submuköse GS . Anatomisches Korrelat sind eine fehlende Spina nasalis posterior und/oder knöcherne Kerbe im hinteren Bereich des Hartgaumens, eine Uvula bifida sowie eine durchscheinende „Zona pellucida“ in der Mitte des Velums [7]. Submuköse GS werden oft erst im Alter von 4 bis 5 Jahren diagnostiziert; ein Näseln und eine Hörminderung bei rezidivierenden Otitiden sind Verdachtsmomente.

Kombinierte Spaltbildung in Lippe, Alveolus, primärem und sekundärem Gaumen

Die Spalte anteriorer Strukturen (Spalte der Lippe mit oder ohne Spalte des Alveolus und des primären Gaumens) tritt oft gemeinsam mit einer Spalte der posterior gelegenen Strukturen, d. h. des sekundären Gaumens, auf. Meist ist die Spalte dann komplett durchgehend (Abb. 7; [5]). Basierend auf epidemiologischen Daten, die einen starken gemeinsamen genetischen Hintergrund erkennen lassen, werden diese „kombinierten“ Spalten gerne zusammen mit den auf die anterioren Strukturen begrenzten Spalten unter dem Oberbegriff „Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte “ zusammengefasst [8, 9]. Demgemäß ist bei Formen der LKGS die Lippe immer betroffen, die Spalte im Alveolarfortsatz, im primären und im sekundären Gaumen hingegen variabel. Im angloamerikanischen Schrifttum wird die Variabilität dieser Gruppe durch die Bezeichnung „cleft lip with or without cleft palate“ hervorgehoben, dabei bleiben Spalten des Alveolarfortsatzes allerdings unberücksichtigt.

Abb. 7
figure 7

Pink Verlaufslinien von „kombinierten“ Spalten in anterioren und posterioren Strukturen. a–e Häufige Formen durchgehender Spalten; der Hartgaumen kann einseitig oder beidseitig gespalten sein. f–h Kombinierte Spalte bei intaktem Hartgaumen, kommt insgesamt selten vor

Einteilung in Unterformen und deren Prävalenz

Basierend auf der Embryogenese und epidemiologischen Daten werden orofaziale Spalten „grob“ in die verschiedenen Formen der 1) LKGS, 2) GS und in 3) seltene orofaziale Spaltformen eingeteilt. Die Prävalenz der LKGS unter Lebendgeborenen beträgt in Europa etwa 1:700, die der GS etwa 1:1200 [2]. Zu den seltenen Spaltformen zählen schräge, horizontale und mediane Gesichtsspalten.

Orofaziale Spalten können im Rahmen einer Vielzahl komplexer Fehlbildungssyndrome auftreten; insgesamt sind „nichtsyndromale“ Spaltbildungen aber häufiger. Naturgemäß sind die Grenzen zwischen „syndromal“ und „nichtsyndromal“ fließend. Es wird geschätzt, dass etwa 30 % der Patienten mit LKGS und bis zu 50 % der Patienten mit GS ein übergeordnetes Syndrom haben [3]. Basierend auf den oben genannten Prävalenzen und diesen Schätzungen ist die Prävalenz der nichtsyndromalen LKGS in der europäischen Bevölkerung etwa 1:1000, die der nichtsyndromalen GS etwa 1:2400 [6]. Die seltenen Spaltformen sind typischerweise syndromal.

Nichtsyndromale orofaziale Spalten

Nichtsyndromale LKGS und GS unterscheiden sich in der Geschlechtspräferenz (Verhältnis Jungen zu Mädchen etwa 1,7:1 bei der nichtsyndromalen LKGS und etwa 1:2 bei der GS). Nur sehr selten finden sich sowohl nichtsyndromale LKGS als auch GS in einer Familie. Diese und weitere epidemiologische Beobachtungen wie z. B. die Wiederholungsrisiken (s. unten) sowie die bisherigen molekulargenetischen Daten legen nahe, dass hinsichtlich der genetischen Ätiologie zwischen nichtsyndromalen LKGS und nichtsyndromalen GS wenig Gemeinsamkeit besteht [9].

Etwa 90 % der nichtsyndromalen Lippenspalten und etwa 70 % der durchgehenden Spalten von Lippe, Kiefer und Gaumen zeigen sich in einseitiger Ausprägung ; dabei ist die linke Seite deutlich häufiger betroffen. Der Grund hierfür ist nicht endgültig geklärt; eine schlechtere Durchblutung der linken Gesichtshälfte in der Embryonalphase wird als Ursache postuliert [2, 5].

Genetische Hintergründe der nichtsyndromalen Lippen-Kiefer-Gaumen- und Gaumenspalten

Die verschiedenen Formen der nichtsyndromalen LKGS sind multifaktoriell und genetisch komplex bedingt. Diese Erkenntnis beruhte zunächst auf umfangreichen epidemiologischen Arbeiten, u. a. aus über mehrere Generationen geführten Fehlbildungsregistern in Dänemark und Norwegen [8, 9, 10]. Die Heritabilität wird mit über 90 % angegeben [11].

Die genetisch komplexe Ätiologie wird zunehmend durch molekulargenetische Daten gestützt. Seit knapp 30 Jahren wird versucht, mithilfe genetischer Studien die Ursachen nichtsyndromaler LKGS zu identifizieren. Im Jahr 2008 konnte ein Kandidatengenansatz die erste überzeugende kausale Variante im Interferon-regulatory-factor - 6(IRF6)-Gen identifizieren. Ein definitiv ursächlicher Locus auf 9q21 wurde mithilfe einer Metaanalyse von Kopplungsdaten identifiziert [6]. Die mit Abstand meisten als sicher ursächlich anzusehenden Loci wurden jedoch im Zuge genomweiter Assoziationsstudien und Folgestudien identifiziert, darunter ein Hauptlocus für nichtsyndromale LKGS auf 8q24 [12, 13, 14, 15].

Insgesamt sind mittlerweile 40 ursächliche Loci bekannt; nahezu alle liegen außerhalb der kodierenden Sequenz. An 4 dieser Loci sind bereits Pathomechanismen aufgeklärt worden. Für mit LKGS assoziierte Varianten an diesen 4 Loci wurde eine Beeinträchtigung der Aktivität von Enhancern bzw. der Bindung von Transkriptionsfaktoren gezeigt, d. h., es werden jeweils regulatorische Mechanismen beeinflusst. Die genannten 40 Loci erklären allerdings nur etwa ein Drittel der Heritabilität und sind weder zur Diagnostik noch zur Prädiktion geeignet [14]. Die Einschätzung einer LKGS als „nichtsyndromal“ ist klinisch-anamnestisch vorzunehmen.

Auch die nichtsyndromale GS hat eine multifaktorielle Ätiologie mit genetisch komplexem Hintergrund. Verglichen mit der LKGS wurden zur nichtsyndromalen GS bislang deutlich weniger molekulargenetische Arbeiten publiziert, und die untersuchten Kollektive sind wesentlich kleiner. Kürzlich konnte eine Missense-Mutation im Grainy-head-like - 3(GRHL3)-Gen als ursächlicher Risikofaktor gesichert werden [16, 17]. Auch bei der GS sind aber Anamnese und klinisches Bild ausschlaggebend für die Einordnung als nichtsyndromal oder syndromal.

Wiederholungswahrscheinlichkeiten bei nichtsyndromaler orofazialer Spalte

Angaben zu Wiederholungswahrscheinlichkeiten für nichtsyndromale Spalten, die seitens der Ratsuchenden in der humangenetischen Beratung erfragt werden, liegen meist im einstelligen Prozentbereich und können z. B. den bereits erwähnten epidemiologischen Studien aus Dänemark, Norwegen und England entnommen werden [8, 9, 10]. Für Mitteleuropäer existieren keine spezifischen Risikoziffern.

Für erstgradig Verwandte eines Patienten mit nichtsyndromaler LKGS besteht ein Risiko von 3–5 % für eine nichtsyndromale LKGS, hingegen ist das Risiko für eine nichtsyndromale GS nur minimal gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht. Ähnliches gilt umgekehrt für Angehörige eines Patienten mit nichtsyndromaler GS. Mit zunehmender verwandtschaftlicher Distanz nehmen die Risiken für die Angehörigen rasch ab. Je mehr Familienmitglieder betroffen sind, desto höher sind die Risiken. Wenn ein Elternteil und bereits ein Kind eine LKGS haben, beträgt das LKGS-Risiko für ein weiteres Kind z. B. ca. 10 %.

Einige familiäre Konstellationen mit mehreren Betroffenen sind nicht in der Literatur abgebildet. In diesen Fällen kann lediglich eine grobe Abschätzung auf der Basis der Familienanamnese getroffen werden.

Umweltfaktoren

Trotz umfangreicher Studien sind exogene Risiko- oder protektive Faktoren bei nichtsyndromalen Gesichtsspalten bislang weitgehend ungeklärt.

Das aktive Rauchen in der Frühschwangerschaft ist als Risikofaktor für nichtsyndromale LKGS und GS anerkannt. Kinder von Raucherinnen haben ein etwa 1,3-mal höheres Risiko für eine nichtsyndromale LKGS und ein etwa 1,2-fach erhöhtes Risiko für eine nichtsyndromale GS [18]. Auch das Passivrauchen erscheint als Risikofaktor [19].

Ein Folsäuremangel könnte, ähnlich wie bei Spina bifida, ein Risiko für die Bildung einer Gesichtsspalte darstellen. Entsprechend wurde eine Risikosenkung durch eine Folsäuresupplementierung vor und in der Frühschwangerschaft oder die Anreicherung von Lebensmitteln mit Folsäure postuliert. Die Ergebnisse der hierzu durchgeführten Untersuchungen sind uneinheitlich, immerhin zeigen Metaanalysen protektive Effekte für die nichtsyndromalen Formen von LKGS, nicht aber GS [20, 21]. Ob bei Planung oder in einer Schwangerschaft aufgrund eines erhöhten Risikos für eine orofaziale Spalte die Folsäureeinnahme zu empfehlen ist, ist allerdings eine gewissermaßen akademische Fragestellung, da dies in Deutschland seitens der Fachgesellschaften ohnehin empfohlen wird, um Neuralrohrdefekten vorzubeugen. Ob eine deutlich höhere Folsäuredosis, wie sie z. B. Frauen empfohlen wird, die schon ein Kind mit Neuralrohrdefekt haben, das Risiko für eine orofaziale Spalte stärker verringert, wurde in den bisherigen Studien kaum untersucht und ist ungeklärt.

Nicht endgültig geklärt ist auch der Effekt von Alkohol, Multivitaminpräparaten, spezifischen Vitaminen wie z. B. Vitamin B6 und Vitamin A, Spurenelementen wie z. B. Zink und Medikamenten wie Kortikosteroiden, Antiepileptika und Folsäureantagonisten [3].

Syndromale Formen orofazialer Spalten, Van-der-Woude-Syndrom

Formen der LKGS und GS wurden im Zuge von über 600 Syndromen beschrieben. Bei vielen Syndromen können sowohl LKGS als auch GS auftreten, oft aber nicht gleich häufig. Mitunter ist nur eine der beiden Spaltformen als charakteristisch beschrieben, teils wird in der Literatur aber auch nicht zwischen LKGS und GS differenziert (Tab. 1). Vorsicht ist beim Begriff „cleft lip and palate“ geboten; dieser fasst Formen der LKGS und GS zusammen und ist sehr unspezifisch.

Tab. 1 Häufigere Syndrome (>1:100.000), im Zuge derer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (LKGS) und/oder Gaumenspalten (GS) auftreten können

Chromosomal bedingte Syndrome werden im Zuge einer Array-Diagnostik oder Chromosomenanalyse identifiziert. Die Diagnosestellung eines monogenen Syndroms basiert nach wie vor auf der Anamnese und Untersuchung des Patienten. Die klinische Symptomatik und korrekte Einordnung der Spalte führen zur Verdachtsdiagnose, die dann mittels Labordiagnostik weiter abgeklärt werden kann.

Unter Patienten mit syndromaler LKGS ist das autosomal-dominante Van-der-Woude-Syndrom am häufigsten. Für alle dabei möglichen Symptome besteht eine inkomplette Penetranz ; es ist mitunter schwer von der nichtsyndromalen orofazialen Spalte abzugrenzen. Die Diagnose wird nach Erfahrung der Autoren seitens der anderen behandelnden Fachrichtungen oft nicht gestellt, da sie für die Therapie nicht von Belang ist. Sie ist angesichts der damit einhergehenden verhältnismäßig hohen Risiken für orofaziale Spalten aus humangenetischer Sicht aber sehr relevant.

Beim Van-der-Woude-Syndrom können sowohl Formen der LKGS als auch der GS auftreten. Das charakteristische Merkmal sind als „lip pits“ bezeichnete kleine Grübchen/Dellen der Unterlippe. Diese sind meist paramedian am sichtbaren Unterlippenrot lokalisiert, oft bilateral, können aber auch knapp unterhalb der Unterlippe oder im der Mundhöhle zugewandten Teil der Unterlippe vorkommen. Meist liegen die Lip pits als rundliche Vertiefungen vor, können aber auch als quer- oder schrägverlaufende Sulci imponieren; teils erscheint das Unterlippenrot aufgeworfen (Abb. 8). Lip pits stellen ein in erster Linie kosmetisches Problem dar und werden oft im Zuge der Spaltoperationen entfernt. Häufig werden sie nicht wahrgenommen oder geraten nach der Entfernung in Vergessenheit. Es sollten daher möglichst alle Betroffenen und Angehörigen nach Lip pits befragt oder daraufhin untersucht werden. Fotos aus der Zeit vor der ersten Operation können hilfreich sein. Es ist zu beachten, dass beim Van-der-Woude-Syndrom-Patienten Lip pits auch ohne LKGS oder GS auftreten können.

Abb. 8
figure 8

Unterlippen von Patienten mit Van-der-Woude-Syndrom. a Pfeile kleine Lip pits. b Z. n. Operation bei beidseitiger Spalte. c Lip pit rechtsseitig, Pfeil linksseitig ausgeprägter Sulcus. (Mit freundl. Genehmigung von N. Daratsianos, Poliklinik für Kieferorthopädie, Universitätsklinikum Bonn). d Großes singuläres Grübchen mit zentraler Erhabenheit. e Pfeile Diese Lip pits konnte man nur sehen, wenn die Patientin die Lippe bewusst vorwölbte. Über die Jahre hat sie gelernt, die früher sichtbaren Lip pits zu „verstecken“. f Narben bei Z. n. Entfernung von Lip pits, meist sind diese aber nicht so deutlich zu erkennen. (Alle Abbildungen mit freundl. Genehmigung der Patienten bzw. ihrer Eltern)

Ein Van-der-Woude-Syndrom ist grundsätzlich zu erwägen bei Lip pits und/oder mehreren von einer LKGS und/oder GS Betroffenen in einer Familie, insbesondere in mehreren aufeinanderfolgenden Generationen. Macht es die Fragestellung erforderlich, kann der Diagnose molekulargenetisch nachgegangen werden. Bei ca. 70 % der Patienten findet sich eine Mutation im IRF6-Gen, deutlich seltener (ca. 5 % der Patienten) im GRHL3-Gen [22].

Oft wird die Frage gestellt, ob bei nichtsyndromal erscheinender Spalte ein Van-der-Woude-Syndrom mithilfe der Mutationssuche in IRF6 und GRHL3 abgeklärt werden soll. In dieser Situation sind neben der Anamnese und Familienanamnese die in der Literatur beschriebenen unterschiedlichen Penetranzen und das unterschiedliche phänotypische Spektrum von IRF6- und GRHL3-Mutationen zu berücksichtigen (Tab. 23). In Familien, in denen mehrere Betroffene eine LKGS haben, aber bei keinem Familienmitglied Lip pits bestehen, wurden bislang keine sicher pathogenen Mutationen berichtet. Hingegen sind Familien mit trunkierenden GRHL3-Mutationen beschrieben, in denen (meist mehrere) Betroffene reine GS haben, aber bei keinem Familienmitglied Lip pits bestehen [17]. Eine scheinbar nichtsyndromale GS bei 2 oder mehr eng miteinander Verwandten sollte somit immer auch an ein GRHL3-basiertes Van-der-Woude-Syndrom denken lassen. Für eine solche Familie bedeutet die Diagnose „Van-der-Woude-Syndrom“, dass neben dem erhöhten Risiko für eine GS auch ein erhöhtes Risiko für eine LKGS besteht. Dies kann für die Familienplanung relevant sein. Umgekehrt erscheint die Diagnostik bei einem einzelnen Patienten mit LKGS ohne Lip pits als wenig zielführend. Nach Literaturlage ist es in dieser Konstellation sehr unwahrscheinlich, eine pathogene IRF6- oder GRHL3-Mutation zu identifizieren [17, 23, 24].

Tab. 2 Van-der-Woude-Syndrom: Risiken für Mutationsträger
Tab. 3 A-priori-Risiken für Kinder bei Van-der-Woude-Syndrom und nichtsyndromaler Spalte. (Peyrard-Janvid et al. [22])

Pränataldiagnostik

Viele Eltern möchten pränatal über die Spalte und deren Ausdehnung informiert sein; nur die Sonographie hat eine entsprechende Aussagekraft. Die meisten LKGS werden von erfahrenen Untersuchern im Ultraschall in der 20., mitunter auch schon in der 13. Schwangerschaftswoche diagnostiziert. Die reine GS hingegen wird selten erkannt, obwohl sonographische Zeichen publiziert wurden [25]. Findet sich keine weitere Fehlbildung, sind Schwangerschaftsabbrüche selten (ca. 5 %, [3]). Häufig wird jedoch eine invasive Pränataldiagnostik auf chromosomale Aberrationen angeboten. Diese (meist Trisomie 13, oft Trisomie 18) wurden fast immer nur dann nachgewiesen, wenn im Ultraschall noch weitere Auffälligkeiten bestanden [26].

Pränatale Array-Diagnostik, Gen-Panels sowie Diagnostik an fetaler DNA aus mütterlichem Blut („non-invasive prenatal testing“, NIPT) eröffnen neue Möglichkeiten der Abklärung bei auffälligem Ultraschall. Mit NIPT kann in Deutschland neben Trisomie 13 und 18 neuerdings auch das DiGeorge-Syndrom untersucht werden. Es ist zu erwarten, dass sich das Angebot zügig auf weitere häufige Mikrodeletionssyndrome ausdehnen wird, in deren Zuge orofaziale Spalten auftreten. In weiterer Zukunft könnten auch gezielte Einzelgenanalysen möglich werden.

Soziale Hilfen

Anträge auf Anerkennung des „Grades der Behinderung“ sind bei regional unterschiedlichen zuständigen Ämtern (Landratsamt oder Amt für Familie und Soziales des Heimatorts) einzureichen. Für einen möglichen Mehraufwand an Pflege kann bei der Krankenkasse Pflegegeld beantragt werden. In der bundesweit aktiven Selbsthilfevereinigung für Lippen-Gaumen-Fehlbildungen e. V. Wolfgang-Rosenthal-Gesellschaft haben sich Eltern und Betroffene zusammengeschlossen, die v. a. die psychosoziale Unterstützung pflegen (www.lkg-selbsthilfe.de).

Fazit für die Praxis

  • Orofaziale Spalten werden nach absteigender Häufigkeit in Formen der LKGS, der GS und seltenen orofazialen Spaltformen eingeteilt.

  • Etwa 30 % der Patienten mit LKGS und bis zu 50 % der Patienten mit GS haben ein übergeordnetes Syndrom.

  • Nichtsyndromale Spalten sind multifaktoriell; ihre genetische Ätiologie ist bislang nur bruchstückhaft aufgeklärt. Die bislang bekannten genetischen Faktoren sind nicht für diagnostische Zwecke oder zur Risikoprädiktion geeignet.

  • Die Einschätzung „syndromal“ oder „nichtsyndromal“ ist anhand der klinischen Symptomatik zu treffen.

  • Bei nichtsyndromaler Spalte können die Wiederholungsrisiken für Angehörige epidemiologischen Arbeiten entnommen werden.

  • Auf Chromosomenaberrationen beruhende Spaltformen werden mithilfe der Screeningdiagnostik (Array, Chromosomenanalyse) abgeklärt.

  • Die meisten übergeordneten Syndrome sind monogen. Die klinische Symptomatik und korrekte Einordnung der Spalte führen zur Verdachtsdiagnose.

  • Rauchen in der Schwangerschaft birgt ein erhöhtes Risiko für orofaziale Spalten.

  • Andere Umweltfaktoren sind nicht endgültig gesichert, die Hinweise auf einen protektiven Effekt der Folsäure verdichten sich aber.

  • Die pränatale Diagnosestellung erfolgt sonographisch und erfordert viel Erfahrung.

  • Spaltsyndrome mit zahlenmäßigen chromosomalen Aberrationen äußern sich pränatal fast immer durch weitere Fehlbildungen.

  • Panel-Diagnostik und NIPT werden in der Pränataldiagnostik bei Feten mit orofazialer Spalte zunehmend an Bedeutung gewinnen.