In Tübingen wurde am 21. Januar 2010 deutschlandweit das erste Behandlungs- und Forschungszentrum für Patienten mit seltenen Erkrankungen (SE) etabliert. „Als ‚selten‘ gilt eine Erkrankung dann, wenn im Durchschnitt weniger als 1 von 2000 Personen daran erkrankt ist. Mehr als 8000 Erkrankungen, so wird gegenwärtig geschätzt, gelten als selten. In Deutschland leben ca. 3 Millionen Patienten mit seltenen Erkrankungen. Bis zu 80% der Erkrankungen gelten als genetisch (mit)bedingt und deuten klar auf die besondere Verantwortung der Humangenetik bei der Betreuung dieser Patienten. Andererseits handelt es sich bei der überwiegenden Mehrheit der SE um komplexe Erkrankungen, die oftmals mehrere Organsysteme betreffen. Dies erfordert eine starke interdisziplinäre Betreuung von Spezialisten mehrerer Fachdisziplinen. Diese Kompetenz in ihrer ganzheitlichen Betrachtung kann in der Regel nur von Universitätsklinika geleistet werden [1].“

Seither wurden an Universitätskliniken und privatwirtschaftlichen Einrichtungen bis heute insgesamt 30 weitere Zentren (ZSE) gegründet, die sich der Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen widmen. Ihre Profile sind sehr unterschiedlich: zum Teil existieren sie „nur“ virtuell, als Zusammenschluss bereits bestehender Einrichtungen, zum Teil haben sie eigene Organisationseinheiten mit ärztlichen Koordinatoren/innen und Lotsen/Lotsinnen geschaffen, die die Anfragen sichten und an die geeigneten Spezialsprechstunden weiterleiten. Wie die nachfolgende Tabelle zeigt, sind die Schwerpunkte der jeweiligen Zentren in Abhängigkeit der verfügbaren Strukturen sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Wie und wo beteiligen sich Humangenetiker?

Die Antworten darauf fielen sehr unterschiedlich aus. Laut unserer Nachforschungen (Stand: Januar 2017) gibt es auch heute Zentren ohne humangenetische Beteiligung (diese sind in der Tabelle mit „–“ in der Spalte „Humangenetik“ gekennzeichnet). In der Mehrzahl sind die Humangenetiker allerdings in die ZSE aktiv eingebunden („(+)“) oder in leitender Funktion tätig („+“).

Aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik ist es wünschenswert und notwendig, dass die Humangenetik in allen ZSE vertreten ist, mit diesen kooperiert oder aktiv eingebunden ist. Beispielhaft berichteten wir über die Entstehung und das Profil der Zentren in Tübingen [1], in Heidelberg [2] und Hannover [3].

Im Rahmen des NAMSE-Prozesses (Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen) wurden in der Zwischenzeit Anforderungskataloge für Typ A Zentren (Referenzzentren für SE) und Typ B Zentren (Fachzentren für SE)Footnote 1 entwickelt, um die Basis für ein nationales Anerkennungsverfahren für Zentren für Seltene Erkrankungen zu schaffen. Derzeit werden die Möglichkeiten eines Zertifizierungs- oder Anerkennungsverfahrens auf der Grundlage dieser Kataloge geprüft. Wie über die NAMSE-Website [4] zu erfahren ist, werden gegenwärtig noch keine Anerkennungsverfahren durch das NAMSE durchgeführt. Auf der gleichnamigen Website können jedoch jetzt schon die Anforderungskataloge abgerufen werden, die einen Aufschluss darüber geben, wie die jeweiligen Zentren strukturell und inhaltlich aufgestellt sein sollten:

  • Zentrumsstruktur

  • Diagnostik und Behandlung

  • Lehre / Informations- und Wissensmanagement

  • Krankheits- und patientenorientierte Forschung

  • Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit

„Speziell im pluralistisch strukturierten und von weit gefächerten Zuständigkeiten geprägten Gesundheitswesen Deutschlands können nachhaltige Verbesserungen in Prävention, Befund und Therapie Seltener Erkrankungen nur dann erreicht werden, wenn es gelingt, Initiativen zu bündeln und ein gemeinsames, koordiniertes und zielorientiertes Handeln aller Akteure zu erreichen, das sich konsequent am Versorgungsbedarf der Patientinnen und Patienten ausrichtet“Footnote 2 [5].

Tab. 1 Zentren für seltene Erkrankungen (ZSE), sortiert nach dem Ort des Zentrums (Stand: Jan. 2017)