Hintergrund

Im Jahr 1987 erschien ein Artikel von Robin Holliday in Science, der meine wissenschaftliche Laufbahn nachhaltig beeinflusst hat: „The Inheritance of Epigenetic Defects“ [1]. Aufbauend auf Überlegungen zur Rolle der DNA-Methylierung bei der Kontrolle der Genexpression in höheren Organismen sowie zur Vererbung von DNA-Methylierungsmustern postulierte Holliday, dass der Verlust von DNA-Methylierung zu erblichen Veränderungen der Genexpressionskontrolle führen könnte. Unter erblich verstand Holliday hauptsächlich die mitotisch stabile Weitergabe von DNA-Methylierungsmustern innerhalb einer Zelllinie eines Organismus, aber er spekulierte auch über eine epigenetische Vererbung durch die Keimbahn. Holliday vermutete, dass aberrante DNA-Methylierungsmuster (Epimutationen) u. a. eine Rolle bei der Tumorentstehung und beim Altern spielen könnten. In den letzten 30 Jahren habe ich mit meiner Arbeitsgruppe Epimutationen beim Menschen und ihren Ursachen nachgespürt (insbesondere bei Tumoren und Imprintingerkrankungen), nach den Ursachen ihrer Entstehung gesucht sowie diagnostische Tests zu ihrem Nachweis entwickelt.

Epigenetik

Für die Funktion eines mehrzelligen Organismus ist es essenziell, dass sich während der Entwicklung – bei gleichbleibender Genomsequenz – verschiedene Zelltypen mit spezifischen Genaktivitätsmustern herausbilden (Plastizität der Entwicklung) und diese über mehrere Zellteilungen hinaus erhalten bleiben (Kanalisierung oder Robustheit der Entwicklung). Die Bedeutung von Plastizität und Robustheit während der Entwicklung eines Organismus hat erstmals der Begründer der Epigenetik, Conrad Hal Waddington, in der Mitte des letzten Jahrhunderts erkannt [2]. Allerdings waren damals weder die Struktur der DNA noch die molekularen Grundlagen der Genregulation während der Entwicklung bekannt, die im Wesentlichen auf einer Interaktion zwischen spezifischen Genen und ihren Produkten innerhalb genregulatorischer Netzwerke beruht. In der modernen Molekularbiologie wird der Begriff „Epigenetik“ (leider) auf die Mechanismen der Chromatinmodifikation (DNA-Methylierung und Histonmodifikationen) verengt, die aber in der Tat dazu beitragen, Genaktivitätszustände robust zu machen.

DNA-Methylierung

In 1975 hatten Robin Holliday und John Pugh sowie Arthur Riggs unabhängig voneinander postuliert, dass die Aktivität von Genen durch die Methylierung von Cytosinresten am 5’-Kohlenstoffatom von CpG-Dinukleotiden (5mC) beeinflusst werden kann [3, 4]. Beide Arbeiten hoben die Bedeutung der DNA-Methylierung für die Kontrolle der Genexpression bei der Entwicklung eines Organismus hervor, aber 30 Jahre lang gab es dafür keine experimentellen Belege. Obwohl viele Kandidatengene untersucht worden waren, wurden so gut wie keine DNA-Methylierungsunterschiede zwischen verschiedenen Zelltypen gefunden. Erst mit der Entwicklung von Methoden für eine genomweite Untersuchung der DNA-Methylierung, die beim Menschen idealerweise alle 28.000.000 CpG-Dinukleotide des Genoms erfasst, wurden zelltypspezifische Unterschiede gefunden, und zwar meistens in weit vom Promoter entfernt liegenden Enhancern (siehe z. B. [5]). Veränderungen von DNA-Methylierungsmustern gehen in der Regel auf die Wirkung von Pioniertranskriptionsfaktoren zurück, die die Zelldifferenzierung einleiten. Sie beeinflussen dann die Bindung von Transkriptionsfaktoren, die die zelltypspezifische Genexpression regulieren. CpG islands, CG-reiche Regionen um Promotoren, die zuvor gezielt untersucht worden waren, wiesen selten DNA-Methylierungsunterschiede auf.

Da die Methylierung an beiden DNA-Strängen in palindromischen CpG-Dinukleotiden vorliegt, können DNA-Methylierungsmuster bei der DNA-Replikation mitrepliziert werden. Die DNA-Polymerase kann aber nur Cytosin, nicht 5‑Methylcytosin in den neu synthetisierten DNA-Strang einbauen. Hier kommt die DNA-Methyltransferase 1 (DNMT1) ins Spiel, die vom Protein UHRF1 an die Replikationsgabel gebracht wird: Wenn der Matrizenstrang an einer Stelle ein methyliertes CpG hat, entsteht nach der DNA-Replikation hier ein hemimethylierter Doppelstrang. Diese Stelle wird von der DNMT1 erkannt, die dann das CpG im Tochterstrang methyliert (Abb. 1). Da hierdurch die DNA-Methylierung über die DNA-Replikation erhalten bleibt, wird die DNMT1 auch „Erhaltungsmethylase“ genannt. De-novo-Methylierung wird von den Enzymen DNMT3A und DNMT3B katalysiert, denen allerdings auch eine Rolle bei der Erhaltung dichter Methylierungsmuster zugesprochen wird. Aktive Demethylierung erfolgt durch die TET-Enzyme, die erst vor Kurzem entdeckt wurden. TET-Enzyme sind α‑Ketoglutarat abhängige Dioxygenasen, die 5mC zu 5‑Hydroxymethylcytosin (5hmC) oxidieren, das durch base excision repair gegen C ausgetauscht werden kann.

Abb. 1
figure 1

Erhalt und Verlust der DNA-Methylierung während der DNA-Replikation

Für die basengenaue Bestimmung der DNA-Methylierung ist die Bisulfitsequenzierung seit 25 Jahren der Goldstandard [6]. Durch Behandlung einzelsträngiger DNA mit Natriumbisulfit wird Cytosin quantitativ in Uracil umgewandelt, während 5‑Methylcytosin unverändert bleibt. Bei einer anschließenden PCR wird statt Uracil Thymin ins PCR-Produkt eingebaut. Somit wird ein Methylierungsmuster in eine veränderte DNA-Sequenz überführt. Durch einen Vergleich der Amplikonsequenz mit der Referenzsequenz kann man auf die Methylierung in der Ausgangs-DNA schließen. Liegt anstelle eines Cytosins ein Thymin vor, war das Cytosin in der Ursprungs-DNA unmethyliert. Liegt wie in der Referenzsequenz ein Cytosin vor, war es methyliert. Eine basengenaue Auflösung sowie allelische Information erhält man heutzutage durch tiefe Amplikonbisulfitsequenzierung auf NGS-Maschinen.

Verlust von DNA-Methylierung in Tumorzellen

Durch Fehler der DNMT1 oder Mangel an Substrat (S-Adenosyl-Methionin) kann es passieren, dass an einer Stelle der DNA die Methylierung nicht repliziert wird. Nach mehreren Runden der DNA-Replikation geht hier dann die Methylierung verloren (passive DNA-Demethylierung; Abb. 1). DNA-Methylierung kann auch bei der Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen verloren gehen. Im großen Maßstab ist ein Verlust der DNA-Methylierung in Tumoren beobachtet worden, obwohl die genauen Ursachen nicht klar sind. Erstmalig wurde die Hypomethylierung in Tumoren von Gama-Sosa et al. (1983) sowie von Feinberg und Vogelstein (1983) beschrieben [7, 8]. Heute ist bekannt, dass sowohl kleine Regionen als auch große Segmente mit mehr als 1 Mb betroffen sein können. Der Verlust von DNA-Methylierung an Promotoren, Enhancern und anderen regulatorischen Elementen macht diese zugänglich für Transkriptionsfaktoren, sodass normalerweise stillgelegte Gene fälschlicherweise exprimiert werden können. Wenn diese Gene proliferationsfördernde Proteine kodieren, könnte die Demethylierung zum Tumorwachstum beitragen. Die Demethylierung der DNA kann auch zur Aktivierung von Retroviren führen und die Stabilität des Genoms beeinträchtigen.

De-novo-Methylierung in Tumorzellen

Nach Erscheinen der Arbeit von Robin Holliday hatte ich mich gefragt, ob bei der Tumorgenese nicht auch eine DNA-Hypermethylierung eine Rolle spielen könnte. Diese Möglichkeit war von Holliday nicht explizit angesprochen worden, aber De Bustros et al. (1988) hatten in verschiedenen Tumoren Anzeichen für eine lokale DNA-Hypermethylierung gefunden, deren Bedeutung unklar war [9]. Kurz zuvor war das erste Tumorsuppressorgen (RB1) identifiziert worden. Anders als bei einem Onkogen, wo eine gain-of-function Mutation eines Allels onkogen ist, führt bei einem Tumorsuppressorgen die Inaktivierung beider Allele zur Tumorentwicklung, in diesem Fall zum Retinoblastom. Ich erwog die Möglichkeit, dass das RB1-Gen nicht nur durch eine DNA-Mutation, sondern auch durch eine Methylierung des Promoters inaktiviert werden könnte. In der Tat konnten wir 1989 erstmalig zeigen, dass eine Epimutation funktionell äquivalent zu einer DNA-Mutation sein kann [10]. Hochrangige Zeitschriften hielten den Befund allerdings für wenig relevant. Inzwischen ist es Lehrbuchwissen, dass die Methylierung von Tumorsupressorgenen ein häufiger Befund in Tumorzellen ist.

Der genaue Mechanismus der Promotermethylierung ist nicht in allen Einzelheiten aufgeklärt. Immerhin handelt es sich in der Regel um die De-novo-Methylierung von CpG islands, die normalerweise strikt unmethyliert sind. Zwei, sich gegenseitig nicht unbedingt ausschließende Szenarien sind denkbar, und für beide gibt es Hinweise (Abb. 2). Eine Möglichkeit (links im Bild) ist, dass das Gen in der Tumorvorläuferzelle (Stammzelle) schon repressive oder bivalente Histonmarkierungen trägt, also schon abgeschaltet ist oder für eine Abschaltung vorbereitet ist [1113]. Die Methylierung des Promoters stabilisiert dann lediglich diesen Zustand. Eine andere Möglichkeit (rechts im Bild) ist, dass der Schutz eines CpG islands vor einer Methylierung sporadisch verloren geht und die DNA-Methylierung von den Rändern her „einwandert“. Infolge der Methylierung wird das Gen dann abgeschaltet. Die De-novo-Methylierung könnte auf bestimmten Allelen infolge von „methylierungsfördernden“ Sequenzvarianten (vermutlich in Transkriptionsfaktorbindestellen) mit einer höheren Wahrscheinlichkeit erfolgen als auf anderen Allelen. Da in Retinoblastomen und anderen Tumoren das relevante Tumorsuppressorgen nicht immer methyliert ist (beim Retinoblastom findet sich die Methylierung eines RB1-Allels in ca. 10 % aller Tumoren), führen bestimmte Histonmarkierungen oder Sequenzvarianten nicht automatisch zu einer aberranten DNA-Methylierung. Sie können ein Gen zwar empfänglich hierfür machen, ob aber eine stabile Epimutation eintritt, scheint zu einem großen Teil vom Zufall abzuhängen. Hypo- oder Hypermethylierung an multiplen Loci ist in der Regel eine Folge von Mutationen in Genen, die für chromatinmodifizierende Enzyme wie z. B. DNA-Methyltransferasen und DNA-Demethylasen (TET Enzyme) sowie histonmodifizierende Gene kodieren, oder eine Folge von Onkoprotein aktivierter silencing pathways [14].

Abb. 2
figure 2

De-novo-Methylierung von Tumorsuppressorgenen. Gestrichelte Linie: suszeptibler Haplotyp

Genomisches Imprinting und DNA-Methylierung

Wohl am eindrucksvollsten zeigt sich die Bedeutung der DNA-Methylierung für die Kontrolle der Genexpression bei der X‑Inaktivierung und dem genomischen Imprinting (Prägung). In beiden Fällen liegen das methylierte, inaktive Allel und das unmethylierte, aktive Allel in derselben Zelle vor. Während die Inaktivierung eines X‑Chromosoms in Zellen des frühen weiblichen Embryos und meistens zufällig erfolgt, erfolgt die genomische Prägung und damit die Inaktivierung eines Gens in den väterlichen bzw. mütterlichen Keimzellen und wird ererbt. Ein Beispiel dafür ist die chromosomale Region 15q11q13 (Abb. 3 und 4, linke Tafel). Durch Mikrosezierung und Mikroklonierung gebänderter Metaphasenchromosomen hatten wir frühzeitig molekulare Sonden für die Analyse dieser Region gewonnen [15, 16]. Meine Arbeitsgruppe war wesentlich daran beteiligt zu zeigen, dass ein Cluster von väterlich exprimierten Genen auf dem väterlichen Chromosom unmethyliert ist, während es auf dem mütterlichen Chromosom methyliert ist [17, 18]. Ein Verlust der väterlich aktiven Gene führt zu Prader-Willi-Syndrom (PWS), ein Verlust des mütterlich exprimierten UBE3A-Gens zu Angelman-Syndrom (AS). Wir hatten schon früh darauf hingewiesen, dass die Untersuchung des DNA-Methylierungsmusters in Blutzellen eine simple diagnostische Möglichkeit für PWS und AS darstellt. Damals waren als Ursachen für diese beiden Erkrankungen nur Deletionen und uniparentale Disomien bekannt, die nicht immer sicher nachzuweisen waren. Heute ist der DNA-Methylierungstest der Eingangstest für PWS und AS, und beide Erkrankungen werden dadurch sehr viel früher nachgewiesen als noch vor 20 Jahren.

Abb. 3
figure 3

DNA-Methylierung in 15q11q13. Schwarze Pfeile: Gentranskription

Abb. 4
figure 4

Genomisches Imprinting und Imprintingfehler. Blau: väterliches Chromosom 15, rosa: mütterliches Chromosom 15, dunkelrotes Quadrat: mütterliche Methylierung [21]. Mit freundl. Genehmigung von John Wiley and Sons

Imprintingfehler

Mit dem Methylierungstest haben wir überraschenderweise auch eine PWS- oder AS-Diagnose bei Patienten gestellt, die keine Deletion oder uniparentale Disomie hatten [19]. Diese Patienten haben fälschlicherweise auf dem väterlichen Chromosom 15 eine Methylierung (PWS) bzw. ihnen fehlt die Methylierung auf dem mütterlichen Chromosom 15 (AS). Hier liegt also eine Epimutation vor. Bei Patienten mit PWS konnten wir zeigen, dass die aberrante Methylierung immer von der väterlichen Großmutter stammt [20]. Dies deutet auf einen Fehler bei der Imprintentfernung in der Spermiogenese des Vaters und damit eine epigenetische Vererbung durch die Keimbahn hin (Imprint-Löschungsfehler; Abb. 4). Imprintingfehler können auch entstehen, wenn eine Region in der Keimbahn nicht geprägt wird (Imprint-Etablierungsfehler; Abb. 4) oder das Imprint nach der Befruchtung verloren geht (Imprint-Erhaltungsfehler; Abb. 4; [21]). Im letztgenannten Fall entsteht ein somatisches Mosaik, d. h. der Patient hat normale Zellen sowie Zellen mit einem Imprintingfehler. Dementsprechend kann der Phänotyp untypisch sein [22, 23].

Was ist die Ursache von Imprintingfehlern? Die meisten Imprintingfehler treten sporadisch auf und haben kein erhöhtes Wiederholungsrisiko. Wir nennen das primäre Imprintingfehler [24]. Das schließt nicht aus, dass bestimmte DNA-Sequenzvarianten das Risiko für das Auftreten eines Imprintingfehlers erhöhen können. So haben wir z. B. einen bestimmten Haplotyp im Imprintingzentrum auf Chromosom 15 gefunden, der das Risiko für einen Imprintetablierungsfehler und damit das Auftreten von Angelman-Syndrom leicht zu erhöhen scheint [25]. Interessanterweise beinhaltet dieser Haplotyp das Deletionsallel eines TATG Indel-Polymorphismus, der in der Bindestelle für SOX-Transkriptionsfaktoren liegt. Dies deutet darauf hin, dass Transkription für die Etablierung von Methylierungsimprints notwendig ist (siehe übernächsten Abschnitt und Abb. 5). Es gibt auch Hinweise, dass äußere Faktoren wie z. B. assistierte Reproduktion das Risiko für primäre Imprintingfehler erhöhen könnten [26].

Abb. 5
figure 5

Transkriptionsabhängige Imprintetablierung in der mütterlichen Keimbahn. Deletionen, die mit einem Imprintetablierungsfehler assoziiert sind und zu AS führen (rote Linien), definieren einen Teil des zweigeteilten Imprintingzentrums (AS-SRO). Eine im AS-SRO startende Transkription (roter Pfeil) überstreicht in Oocyten den zweiten Teil des Imprintingzentrums (PWS-SRO; Promoter/Exon 1-Bereich des SNRPN-Gens) und induziert dort vermutlich das mütterliche Keimbahnimprint

In wenigen Fällen sind Imprintingfehler die Folge einer DNA-Mutation in cis oder in trans; das nennen wir sekundäre Imprintingfehler. Zu den Mutationen in cis gehören Deletionen von Imprintingzentren oder -kontrollregionen [27]. Sie verhindern z. B., dass eine Region in der mütterlichen Keimbahn geprägt, d. h. methyliert wird. Diese Mutationen können neu aufgetreten oder von einem nicht betroffenen Elternteil ererbt worden ein. Im letztgenannten Fall trägt das Elternteil die Mutation auf dem Chromosom mit der anderen elterlichen Herkunft, wo die Kontrollregion nicht gebraucht wird und eine Mutation deshalb keinen Schaden anrichtet.

Die Identifizierung von Imprintingzentren oder -kontrollregionen hat auch einen Blick auf den Mechanismus der Imprintetablierung erlaubt. Wir hatten z. B. schon früh Hinweise für eine Transkription durch das Chromosom 15 Imprintingzentrum gefunden, was auf die Rolle dieses Prozesses für die Etablierung von Methylierungsimprints hindeutete [28]. Inzwischen wurde diese Hypothese erhärtet [29]. Evidenz für eine transkriptionsabhängige Imprintetablierung wurde auch in anderen geprägten Regionen gefunden. Es scheint aber keine spezifische Imprintingmaschinerie in den Keimzellen zu geben, sondern es werden, vermutlich transkriptionsabhängig, sehr viele Regionen methyliert (~1000). Von diesen bleiben aber nach der Befruchtung nur die bekannten geprägten Regionen methyliert (~100) [30]. Die Imprintspezifizierung beruht also auf Beiträgen der Keimzellen und des frühen Embryos.

Sekundäre Imprintingfehler können auch durch Mutationen in trans verursacht werden, wenn nämlich eine Mutation einen Faktor betrifft, der für die Etablierung oder Aufrechterhaltung von Imprints essenziell ist. In der Regel sind dann mehrere Loci betroffen, sodass wir von Multilocus-Imprintingdefekten (MLID) sprechen. Bislang wurden mehrere trans-wirkende Gene identifiziert: NLRP2, NLRP5, NLRP7, ZFP57, KHDC3L (siehe z. B. [31]). Während bekannt ist, dass ZFP57 für die postzygote Aufrechterhaltung von Imprints wichtig ist, ist die Rolle der anderen Faktoren wenig verstanden.

Epigenetik und Umwelt

Unter verschiedenen Umweltbedingungen kann ein bestimmter Genotyp ein Spektrum verschiedener Phänotypen hervorbringen. Dieses Spektrum wird durch die Reaktionsnorm des Genotyps bestimmt [32]. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Honigbiene, bei denen sich genetisch identische Larven durch die Fütterung mit oder ohne Gelée royale zu Königinnen oder unfruchtbaren Arbeitsbienen entwickeln. Hierbei handelt es sich um einen klassischen Diphenismus (ein Genotyp – zwei Phänotypen). Die beiden Kasten der Biene unterscheiden sich im Muster der DNA-Methylierung [33]. Diese Unterschiede sind das Resultat der von Gelée royale aktivierten Signalkaskade und deren Zielgene. Vergleichbar hiermit ist der Einfluss der mütterlichen Ernährung und des mütterlichen Stresspegels auf den menschlichen Embryo und Fetus. Es gibt große epidemiologische Studien und auch einige DNA-Untersuchungen, die belegen, dass die intrauterinen Nährstoff- und Stresshormonkonzentrationen den Metabolismus und die Stressachse des sich entwickelnden Menschen bis in hohe Alter prägen können (siehe z. B. [34]). Dieser als fetal programming bezeichnete Prozess sollte nicht mit einer epigenetischen Keimbahnvererbung verwechselt werden. Es handelt sich dabei zwar auch um eine Form von transgenerationaler Vererbung, aber sie geht nicht durch die Keimbahn der Mutter; beim fetal programming wirkt die Umwelt über das intrauterine Milieu auf den sich entwickelnden Organismus ein. Metastabile Epiallele, die während der Entwicklung den einen oder anderen Zustand annehmen können, scheinen hierfür besonders empfänglich sein.

In den letzten zehn Jahren haben sich auch zahlreiche Arbeiten mit dem Einfluss der Umwelt (Ernährung, körperliche Aktivität, Stress etc.) auf DNA-Methylierungsmuster des erwachsenen Menschen beschäftigt. Ein häufiger Fehler ist, Gewebe (z. B. Blut und Fettgewebe) statt reiner Zellpopulationen zu untersuchen. Es wird nicht berücksichtigt, dass die Zellzusammensetzung des Gewebes zwischen den zu vergleichenden Proben oft unterschiedlich ist. Zum Beispiel enthält das Fettgewebe von adipösen Menschen sehr viel mehr Makrophagen (bis zu 40 %) als das von schlanken Personen. Wenn Methylierungsunterschiede zwischen diesen Gewebsproben gefunden werden, spiegeln diese hauptsächlich den unterschiedlichen Anteil von Makrophagen wider, deren Methylom sich von dem der Fettzellen unterscheidet ([5] und eigene unpublizierte Daten). Auch die Zusammensetzung des Blutes kann variieren.

Epigenetische Vererbung durch die Keimbahn

Eines der heißesten Themen der Epigenetik ist die epigenetische Vererbung durch die Keimbahn. Bei Pflanzen ist diese Form der Vererbung gut dokumentiert [35]. Wie sieht es aber bei Mensch und Tier aus? Wie oben bei den PWS-Imprintingfehlern ausgeführt, kommt es hin und wieder vor, dass ein mütterliches Methylierungsmuster in den primordialen Keimzellen eines Mannes nicht ausgelöscht wird, sondern an die Nachkommen weitergegeben wird. In der Tat mehren sich Hinweise darauf, dass nicht immer alle Methylierungsmuster in den primordialen Keimzellen gelöscht werden [36]. Ob aber umweltinduzierte epigenetische Veränderungen wirklich durch die Keimbahn weitergegeben werden und auch die epigenetische Reprogrammierung während der frühen Embryogenese überleben, ist umstritten. Es gibt einige wenige (nicht replizierte) Studien, die dies möglich erscheinen lassen. Ich bin skeptisch, ob das im Sinne eines evolutionär vorteilhaften adaptiven Prozesses in größerem Umfang geschieht. Beim Menschen ist ein Nachweis sehr schwierig zu erbringen, denn wir vererben an unsere Nachkommen unser Genom, unsere Umwelt und unsere Kultur. Alle drei Bereiche wirken sich in jeder Generation neu auf das Epigenom aus. Wenn wir also identische epigenetische Muster bei einem Elternteil und dessen Nachkommen finden, kann es sein, dass diese Muster nicht mit den Keimzellen vererbt wurden, sondern dass das vererbte Genom, die vererbte Umwelt und die vererbte Kultur das gleiche Muster während der Entwicklung der Nachkommen wieder neu erzeugt haben. In den wenigen berichteten Fällen einer „familiären Epimutation“ handelte es sich in Wirklichkeit um die Segregation einer zunächst unerkannten DNA-Mutation, die postzygot die De-novo-Methylierung eines in der Nähe liegenden Promoters verursacht hatte [37].

Schlussbemerkung

In den letzten Jahren ist die Epigenetik im Mainstream der Forschung angekommen. Während dieses Gebiet der Biologie vor 30 Jahren noch stark vernachlässigt wurde, schießen viele Forscher und Laien inzwischen über das Ziel hinaus. Dabei werden manchmal grundlegende genetische Prinzipien außer Acht gelassen und das Konzept der Blackbox, das unsere Ignoranz bei bestimmten Mechanismen ausdrückt, durch „Epigenetik“ ersetzt, ohne dass dadurch etwas besser erklärt würde. Gerade die extremen Vertreter des „Umwelt-Lagers“ in der Anlage-Umwelt-Debatte suchen sich oft in der Epigenetik ihre (schein)wissenschaftliche Bestätigung. Obwohl oder gerade weil ich mich als Epigenetiker verstehe, möchte ich die grundlegende Bedeutung der DNA-Sequenz und der Transkription für die Entwicklung des Phänotyps betonen. Wir brauchen aber die Epigenetik, um die volle Breite des Entwicklungsspektrums eines Genotyps zu verstehen.