Einleitung

Eine Novellierung des Maßregelrechts, wie sie vor Kurzem im Bereich von § 64 StGB (Strafgesetzbuch) durchgeführt wurde, zieht Auseinandersetzungen mit den Auswirkungen auf rechts- und erfahrungswissenschaftlicher Ebene nach sich (Schwarz und Stübner 2023; Querengässer und Baur 2024; Schüler-Springorum et al. 2024; Soyka 2024; Baur und Querengässer 2024; Stübner, Werner* et al. 2024, akzeptiert in Vorbereitung; Stübner und Schwarz 2024, eingereicht), wobei sich ein gesonderter Blick auf spezielle Klientele lohnt. Jugendliche und Heranwachsende stellen eine Gruppe dar, für die Besonderheiten, die auch bei der Anwendung von § 64 StGB relevant werden, gelten. Diese Aspekte sollen im folgenden Beitrag vor dem Hintergrund der am 01.10.2023 in Kraft getretenen Neuregelung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt aus interdisziplinärer Perspektiver beleuchtet werden.

Jugendmaßregelvollzug gemäß § 64 StGB

Sowohl bei Jugendlichen als auch bei Heranwachsenden im Alter von 18 bis unter 21 Jahren, sofern bei Letzteren zum Zeitpunkt der Tatbegehung gemäß § 105 Abs. 1 JGG eine Reifeverzögerung oder eine sog. Jugendverfehlung vorlag, kann gemäß § 7 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) unter denselben Voraussetzungen wie bei Erwachsenen angeordnet werden. In § 93a JGG wird konkretisiert, dass die Maßregel in einer Einrichtung zu vollziehen ist, „in der die für die Behandlung suchtkranker Jugendlicher erforderlichen besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen zur Verfügung stehen“ (§ 93a Abs. 1 JGG), wobei „der Vollzug aufgelockert und weitgehend in freien Formen durchgeführt“ (§ 93a Abs. 2 JGG) werden kann, um das Behandlungsziel zu erreichen. Dies impliziert, dass die forensische Unterbringung von straffälligen Jugendlichen und Heranwachsenden mit Substanzgebrauchsstörungen auch in spezialisierten (ggf. höher gesicherten) Abteilungen von Kliniken für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie vollzogen werden kann. Eigenständige jugendforensische Klinikbereiche und Jugendmaßregelvollzugseinrichtungen gibt es gegenwärtig in den Ländern Bayern (Regensburg, Parsberg), Berlin, Hessen (Marburg), Mecklenburg-Vorpommern (Rostock), Niedersachsen (Bad Zwischenahn), Nordrhein-Westfalen (Marsberg, Viersen), Rheinland-Pfalz (Klingenmünster), Sachsen (Arnsdorf) und Thüringen (Mühlhausen; Boysen et al. 2022; Weissbeck 2023). Vereinzelt handelt es sich um reine Entziehungsanstalten gemäß § 64 StGB (z. B. Zentrum für Forensische Suchttherapie am Bezirkskrankenhaus Parsberg, Bayern). Als Sanktion des Jugendstrafrechts orientiert sich eine jugendforensische Unterbringung an den Aufgaben und Zielsetzungen des Jugendgerichtsgesetzes: Wie in speziellen Einrichtungen des Jugendstrafvollzugs findet auch im Jugendmaßregelvollzug der Erziehungsgedanke (§ 2 Abs. 1 S. 2 JGG) besondere Berücksichtigung. Auch ist der Einbezug von Alters- und psychischen/körperlichen Entwicklungsphasen unerlässlich für ein Erreichen des Zieles der Maßregel. Dementsprechend werden neben der medizinischen und therapeutischen Behandlung der unterbringungsrelevanten Störungen (im Kontext von § 64 StGB: Suchterkrankungen und ggf. psychiatrische Komorbiditäten) die Förderung von Selbstständigkeit und lebenspraktischen Fertigkeiten, die Integration in soziale Kontexte, der Aufbau einer Zukunftsperspektive und der Prozess der Identitätsentwicklung fokussiert (Weissbeck und Häßler 2015). Die Ausgestaltung eines sozialen Empfangsraums in den verschiedenen relevanten Bereichen ist auch Teil der Behandlung während der Unterbringung gemäß § 64 StGB bei Erwachsenen, in welcher jedoch des Öfteren Konstellationen vorliegen, bei denen an bereits bestehende und etablierte Ressourcen wieder angeknüpft werden kann. In vielen Fällen wird unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten neben der Unterbringung eine darüber hinausgehende jugendstrafrechtliche Sanktionierung (einschließlich der Jugendstrafe) entbehrlich sein, wie dies auch in § 5 Abs. 3 JGG zum Ausdruck kommt (Eisenberg und Kölbel 2023, § 7 Rn. 25).

Substanzkonsum, Delinquenz und behandlungsprognostische Überlegungen bei Jugendlichen und Heranwachsenden

Im Folgenden werden einige Faktoren aus der klinischen Erfahrung sowie der empirischen Datenlage zusammengetragen, welche die Voraussetzungen einer Anwendung von § 64 StGB bei Jugendlichen und Heranwachwenden näher beleuchten, wie Substanzkonsumstörungen, Wechselwirkungen zwischen dem Konsum psychoaktiver Substanzen und delinquentem Verhalten (hinsichtlich Indexdelikt und des generellen Risikoprofils) sowie Parameter, die den Erfolg einer Maßnahme nach § 64 StGB beeinflussen können.

Suchtmittelkonsum gilt – als Teil der Central Eight – generell als Risikofaktor für delinquentes Verhalten (Bonta und Andrews 2017). Unter jungen straffälligen Personen ist er besonders verbreitet (z. B. Hartenstein et al. 2016; Hinz et al. 2016). Allerdings imponieren Substanzgebrauchsstörungen bei jungen Delinquentinnen und Delinquenten – selbst im jugendforensischen Vollzug der Maßregel nach § 64 StGB – im Durchschnitt weniger schwer als bei erwachsenen, strafrechtlich untergebrachten Populationen. Die Kriterien für eine Abhängigkeit von psychotropen Substanzen nach ICD-10 bzw. DSM-5-TR sind bei jungen Patienten in der Entziehungsmaßregel nicht immer erfüllt (Weissbeck 2022). Zwischen dem Beginn des Konsums psychotroper Substanzen und der Begehung der Indextaten sind bei jugendforensisch untergebrachten Personen in der Regel kürzere Zeiträume vergangen, in einzelnen Fällen (z. B. bei Minderjährigen) mitunter nur wenige Monate. Nach klinischer Erfahrung ist diagnostisch häufig ein polytroper, experimentell ausgerichteter Konsum erkennbar, der beeinflusst erscheint durch eine alterstypisch hohe Reiz- und Erfahrungssuche und Peergroup-Effekte. Die Art der konsumierten Substanzen ist häufig von Szene- und Gruppenzugehörigkeiten abhängig. Klarere persönliche Präferenzen für bestimmte Stoffe und tiefgreifende, medizinisch und psychosozial folgenreiche Abhängigkeitsstörungen ergeben sich meist erst in späteren Stadien einer Suchtentwicklung, wie sie bei vielen Patienten des Erwachsenenmaßregelvollzugs angetroffen werden können.

Straffälligkeit bei jungen Personen ist in der Regel nicht monokausal auf den Konsum psychotroper Substanzen zurückzuführen (Mulvey et al. 2010). Es handelt sich bei Delinquenz und Substanzgebrauch eher um sich parallel entwickelnde, wechselseitig oder komplex verknüpfte Phänomene, die ihrerseits durch unterschiedliche oder dieselben Risikofaktoren bedingt sein können (z. B. sozioökonomisch belastende Familienverhältnisse, soziale Desintegration, Perspektivlosigkeit, dissozial orientierte Gleichaltrigengruppen; Scherr 2018; Oberwittler 2018). Auch Best et al. (2015, S. 14) betonen, dass „einfache Kausalmodelle […] den Entstehungsbedingungen und dem Entwicklungsverlauf antisozialer Verhaltensweisen nicht gerecht [werden]“. Alkohol- und Drogenmissbrauch sind nicht nur Risikofaktoren für Delinquenz, sondern es wurde auch beschrieben, dass der Konsum psychotroper Substanzen das Entwachsen aus einer dissozialen Entwicklung und den Ausstieg aus einer „kriminellen Karriere“ behindert (Hussong et al. 2004).

Bei therapieprognostischen Überlegungen ist bei Jugendlichen und Heranwachsenden zu beachten, dass neben den üblichen Parametern, die im Kontext von § 64 StGB Berücksichtigung finden sollten (siehe z. B. Fries et al. 2011; Hartl et al. 2015; Schalast 2019; Berthold und Riedemann 2021; Querengässer und Baur 2021a, 2021b; Stübner, Werner* et al. 2024, akzeptiert in Vorbereitung), v. a. auch Entwicklungs- und Reifungsaspekte eine Rolle spielen. Eine Besonderheit im jugendforensischen Kontext besteht darin, dass eine stärkere Verbindung zwischen abgebrochenen Entziehungsmaßregeln und erneutem Substanzkonsum beschrieben wurde als bei Erwachsenen (Maaß et al. 2016). Von Therapeuten des Jugendstrafvollzugs wird mitunter der Eindruck berichtet, dass bei Therapieabbrüchen aus der Maßregel die Suchterkrankung an Dynamik gewinnt. In diesem Zusammenhang wiesen einige Autoren darauf hin, mit Anregungen von Erledigungen gemäß § 67d Abs. 5 StGB bei jungen untergebrachten Personen zurückhaltend umzugehen (z. B. Weissbeck 2022). Außerdem wurde auf eine mögliche Interpretation als Stigmatisierungseffekt sowie auf die von vornherein ungünstigere prognostische Situation im Sinne eines höheren kriminellen Rückfallrisikos bei Personen aufmerksam gemacht, bei denen es zu einem Abbruch einer forensisch-therapeutischen Maßnahme gekommen ist (Endres et al. 2015). Deshalb erscheint auch vorliegend kein eindeutiger Rückschluss auf einen Kausalzusammenhang zwischen einer vorzeitigen Erledigung der Maßregel und einem anschließenden vermehrten Substanzkonsum möglich.

Positive (im Sinne von prosozial orientierte) intrapsychische Veränderungsvorgänge können sich im Jugend- und Heranwachsendenalter bei psycho- und milieutherapeutischer Intervention mitunter sehr rasch und auch unvorhergesehen ergeben. Aufgrund einer noch nicht abgeschlossenen Frontalhirnentwicklung (z. B. Konrad et al. 2013) werden Impulse jedoch häufiger ausagiert; der Planungsgrad von Handlungen ist geringer; ein Abwägen von kurz- und langfristigen Konsequenzen erfolgt seltener. Lockerungsmissbräuche, deliktnahes Verhalten und einrichtungsinterne Regelverstöße treten dementsprechend in jugendforensischen Abteilungen und Kliniken verhältnismäßig häufig auf (Milan 2023)Footnote 1, was sich entsprechend auf Rücknahmen von Restriktionen und Behandlungsdauern auswirken kann. Es können auch andere als konsumassoziierte Störungen bestehen, die das Gesamtbild zusätzlich beeinflussen. Komorbiditäten, insbesondere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (ICD-10 Kapitel V, F90–F98: hyperkinetische Störungen, Störungen des Sozialverhaltens u. a.), führen in der Regel zu verlängerten Behandlungszeiten im Jugendmaßregelvollzug (Scheu-Hachtel 2019). Zudem bedeutet die „Resozialisierung“ von jungen Forensikpatientinnen und Forensikpatienten meist eine „Erstsozialisierung“: Neben Suchttherapie und Deliktaufarbeitung kann das therapeutisch begleitete Nachholen von ungenügend durchlebten Prozessen und Entwicklungsaufgaben des Kindes- und Jugendalters viel Zeit beanspruchen. Eine mittel- oder langfristige Prognosestellung gestaltet sich vor diesen Hintergründen erschwert. Viele aus der empirischen Forschung zur Erfolgsaussicht einer Unterbringung gemäß § 64 StGB (s. oben) bekannte Prädiktoren sind nicht auf prognostische Einschätzungen im jugendforensischen Kontext übertragbar, da die ermittelten Risiko- und protektiven Faktoren ohnehin bei fast allen Fällen entweder erfüllt (z. B. Jugenddelinquenz, niedriges Alter bei erster Inhaftierung) oder nicht erfüllt sind (z. B. Vorliegen eines Schul- und Ausbildungsabschlusses). Ferner ist deviantes, einschließlich delinquentes Verhalten in Kindes‑, Jugend- und Heranwachsendenalter mehr ein erwartbares als ein ungewöhnliches Phänomen (Remschmidt und Walter 2009; Boers et al. 2014) und in der Regel transitorisch (Untersuchungen zur „age-crime curve“: Loeber und Farrington 2014), was den prädiktiven Wert entsprechender Verhaltensweisen für die Vorhersage zukünftigen Verhaltens begrenzt.

Die Novellierung von § 64 StGB

Der im Erwachsenenmaßregelvollzug bis zuletzt feststellbare stetige Zuwachs von Anordnungen der Unterbringung gemäß § 64 StGB zeigte sich in ähnlicher Weise bei jungen Straftätern mit Substanzkonsumneigung (Weissbeck 2022), darunter auch bei weiblichen Jugendlichen und Heranwachsenden (Schwarz et al. 2023). Angesichts dieses Anstiegs, der trotz unterschiedlicher Anordnungshäufigkeiten von § 64 StGB in den einzelnen Ländern (Traub und Querengässer 2019) bundesweit seit Jahren deutlich erkennbar gewesen war, wurden von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe Vorschläge zu einer Neufassung von § 64 des Strafgesetzbuches (StGB) und weiteren, damit zusammenhängenden Vorschriften (§ 67 Absatz 2 Satz 3 und Absatz 5 Satz 1 StGB, § 463 Absatz 6 Satz 3 Strafprozessordnung [StPO]) vorgelegt (Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Prüfung des Novellierungsbedarfs im Recht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches [BL-AG] 2022). Die darauf basierende gesetzliche Neuregelung trat zum 01.10.2023 in Kraft (Art. 1 Nr. 7, 8 und Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vom 26.07.2023, BGBl. I Nr. 203). Eine Gegenüberstellung der medizinisch-psychologischen Voraussetzungen bzw. Prüfkriterien in bisheriger und novellierter Fassung von § 64 StGB, zu denen auch aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht zur Vorbereitung der richterlichen Entscheidung über die Anwendung Stellung genommen werden muss, findet sich in Tab. 1 (modifiziert nach Schwarz und Stübner 2023).

Tab. 1 Übersicht der einzelnen Prüfkriterien der medizinisch-psychologischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der vormaligen und in der novellierten Fassung. (Modifiziert nach Schwarz und Stübner 2023)

Die Änderung des Gesetzestextes zielte im Wesentlichen darauf ab, den juristischen Begriff des „Hangs“ zu präzisieren. Der Anwendungsbereich von § 64 StGB soll stärker auf Fälle begrenzt werden, in denen der Substanzkonsum des Betroffenen nach Art und Grad behandlungsbedürftig ist. Weiteres Ziel war eine Hervorhebung des kausalen Zusammenhangs zwischen Hang und Delinquenz. Ferner werden konkretere Anforderungen an die Erfolgsaussicht der Unterbringung gestellt. Eine ausführliche Kommentierung der Neufassung von § 64 StGB aus rechts- und erfahrungswissenschaftlicher Sicht findet sich bei Stübner, Werner* et al. (2024, akzeptiert) (in Vorbereitung). Ausblicke auf potenzielle Auswirkungen auf den Jugendmaßregelvollzug wurden bislang nicht veröffentlichtFootnote 2, bezüglich des Erwachsenenmaßregelvollzugs wurden kritische Diskussionsbeiträge publiziert (z. B. Querengässer et al. 2022a; Querengässer und Baur 2024). Erste empirisch basierte Überlegungen hielten einen deutlichen Rückgang der Anordnungszahlen für wahrscheinlich (Schwarz und Stübner 2023), wobei der gegenwärtige Eindruck zumindest einiger Institutionen der klinischen und juristischen Praxis eine derartige Entwicklung bisher nahelegt.

Potenzielle Herausforderungen für die Begutachtung Jugendlicher und Heranwachsender

Vor dem Hintergrund der Novellierung von § 64 StGB könnten sich für die Begutachtung junger straffälliger Personen mit Substanzgebrauchsneigung nach der Novellierung von § 64 StGB aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht folgende Herausforderungen ergeben:

  • Durch die Schärfung des Hangkonzeptes könnten die medizinisch-psychologischen Voraussetzungen für die Anwendung dieses Prüfkriteriums bei denjenigen straffälligen jungen Personen nicht mehr als erfüllt betrachtet werden, die sich am Beginn einer Suchtentwicklung befinden, bei denen aber eine hohe Interventionsnotwendigkeit zur Prävention eines tieferen Abgleitens in eine Abhängigkeit mit entsprechenden Folgen besteht. Grundsätzlich soll § 64 StGB laut der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 20/5913) zwar für Straftäter eröffnet bleiben, „bei denen sich der Substanzmissbrauch noch nicht zu einer Abhängigkeit verfestigt hat“ (BT-Drs. 20/5913, S. 45), jedoch sind die weiteren Bedingungen (kumulative Gegebenheit von dauernden, schwerwiegenden und fortdauernden medizinischen oder psychosozialen Beeinträchtigungen infolge einer Substanzkonsumstörung) in eindeutiger Weise bei Jugendlichen und Heranwachsenden eher selten anzutreffen.

  • Dass die Anlassstraftaten junger Personen überwiegend auf eine Abhängigkeit oder zumindest einen dauerhaften Missbrauch von psychotropen Substanzen zurückzuführen sind, wie es nach der Neuregelung erforderlich ist, wäre gegenwärtig wahrscheinlich nur bei einem kleineren Teil der Jugendlichen und Heranwachsenden, die gemäß § 64 StGB untergebracht sind, erkennbar. Häufig spielen deviante Motive, Gruppendynamiken, soziale Deprivation, aber auch Reifungsaspekte eine größere Rolle bei der Tatbegehung. Allerdings lässt sich in vielen Fällen vermuten, dass die Anlassstraftaten gänzlich ohne den Einfluss eines Substanzgebrauchs womöglich nicht in der unterbringungsrelevanten Form begangen worden wären.

  • Die kriminogenen Risikofaktoren reichen bei jungen untergebrachten Personen meist weit über den bloßen Suchtmittelkonsum hinaus (Weissbeck 2022), weshalb eine Gefahr für die Begehung weiterer Delikte hauptsächlich infolge einer Substanzkonsumstörung bei vielen der aktuell untergebrachten Fälle nicht zu konstatieren wäre. Alkohol- und Drogenmissbrauch hemmt jedoch das Entwachsen aus einer devianten Entwicklung (s. oben), woraus sich mittelbar eine dauerhaft erhöhte Delinquenzgefährdung durch Substanzkonsum ableiten lässt.

  • Einschätzungen hinsichtlich einer Erfolgsaussicht waren bei der jungen Klientel aufgrund der oben geschilderten altersbedingten Besonderheiten bereits vor der Novellierung nicht leicht zu treffen; die nun explizit gesetzlich verlangten tatsächlichen Anhaltspunkte, die einen erfolgreichen Therapieabschluss erwarten lassen, sind bei vielen delinquenten Jugendlichen und Heranwachsenden mit Suchtmittelproblematik schwer auszumachen. Oftmals existieren noch keine belastbaren, erprobten persönlichen Ressourcen, auch protektive soziale Strukturen müssten im Verlauf einer Unterbringung erst geschaffen werden. Auf zentrale prognoserelevante Parameter, wie z. B. eine absehbar finanzielle Absicherung nach Entlassung, eine sinnstiftende Tätigkeit oder einen stabilen beruflichen Werdegang, kann aufgrund des jungen Alters selten zurückgegriffen werden. Die Effekte der Transition (Übergänge vom Jugend- ins Heranwachsenden- bzw. Jungerwachsenenalter) sind im Vorfeld kaum abzusehen. Eine persönliche Reife oder eine differenziert kritische Wahrnehmung der eigenen Substanzgebrauchsneigung kann bei jungen Personen insgesamt nicht erwartet werden. Letztlich sind forensische Therapien allgemein bei Jugendlichen und Heranwachsenden – neben der Behandlung einer anlassgebenden psychischen Störung – erst auf die Schaffung und Förderung all dessen konzentriert, was im Sinne von tatsächlichen Anhaltspunkten für die Anordnung einer Unterbringung gemäß § 64 StGB paradoxerweise schon im Vorhinein vorliegen müsste.

Vorschläge zur Anwendung von § 64 StGB im jugendforensischen Kontext

Hinsichtlich der Anwendung der novellierten Fassung von § 64 StGB bei Jugendlichen und Heranwachsenden dürfen im Gesamtkontext daher folgende Anregungen gegeben werden (für die generell im Kontext der Maßregeln empfohlene „jugendgerechte“ Auslegung sei auch auf Meier et al. 2019, § 6 Rn. 22 verwiesen).

  • Hang: In der Novellierung wurde gemäß Ausführungen der Gesetzesbegründung gerade im Hinblick auf Jugendliche und Heranwachsende die geforderte Substanzkonsumstörung nicht nur als manifeste Abhängigkeitserkrankung definiert, sondern bereits als Störung, deren Schweregrad „unmittelbar unterhalb einer Abhängigkeit einzuordnen ist“ (BT-Drs. 20/5913, S. 44). Es erfolgte eine Orientierung an der ICD-11, wobei als Substanzkonsumstörung neben der Abhängigkeit (6C4…2) auch ein schädliches Verhaltensmuster (6C4…1) gelten kann. In der ICD-10 entspräche dies der Abhängigkeit (F1…2) sowie einer schweren Form des schädlichen Gebrauchs (F1…1). Im jugendforensischen Kontext sollte das Vorliegen einer solchen substanzbezogenen Störung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert (Tab. 1) relativ zum Alter jugendlicher und heranwachsender straffälliger Personen unter Berücksichtigung adoleszenztypischer Verhaltensweisen und Entwicklungsphasen betrachtet werden. Sowohl eine Abhängigkeit von psychotropen Substanzen als auch ein Substanzmissbrauch dürfen aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht bei jungen Personen bereits in geringerer Ausprägung als bei Erwachsenen einer medizinisch-psychologischen Voraussetzung für das Vorliegen einer Substanzkonsumstörung im juristischen Sinne entsprechen. Auch, ob eine konsumbedingte Beeinträchtigung eines Lebensbereiches dauernd sowie schwerwiegend ist und fortdauert, sollte bei junger Klientel mit angepassten Maßstäben bewertet werden: Für eine 15-jährige Person kann ein dreiwöchiger Unterrichtsausschluss infolge von wiederholtem Alkoholgebrauch mit Enthemmung im Schulgebäude durchaus als dauernde und schwerwiegende soziale Konsumfolge gewertet werden. Andererseits gilt es zu differenzieren, ob dysfunktionale Veränderungen in der Lebensgestaltung oder Einbußen bei der Leistungsfähigkeit tatsächlich in erster Linie auf den Substanzkonsum zurückgehen, oder ob sie Ausdruck pubertätsbedingter Veränderungen und passagerer Peergroup-Effekte sind, die sich parallel zur Einnahme psychotroper Substanzen herausgebildet haben.

  • Symptomatischer Zusammenhang: Die rechtswidrigen Taten von jugendlichen und heranwachsenden straffälligen Personen mit Substanzkonsumneigung lassen sich nur in wenigen Fällen überwiegend auf deren Abhängigkeits- oder Missbrauchsstörung zurückführen (s. oben). Zwar zielt der Gesetzgeber durch die Neufassung des Kriteriums symptomatischer Zusammenhang auf eine Entlastung der Kliniken von Patienten ab, deren Konsumstörung sich nur als eine Begleiterscheinung ihres delinquenten Lebenswandels ergeben hat (BT-DRs. 20/5913, S. 45), doch stellen sich Substanzkonsum, Gruppendynamiken und -zugehörigkeiten, Sozialisationsbedingungen und Tatmotive bei delinquenten Jugendlichen und Heranwachsenden erfahrungsgemäß dichter verwoben dar als bei Erwachsenen. Da diese wechselseitigen Beeinflussungen bereits in der Natur der Lebensphase junger Straftäter angelegt sind, sollte man den Begriff überwiegend als relativ zum Alter und zu den Umgebungsbedingungen zum Tatzeitpunkt sehen. Eher selten dürften z. B. das Verlangen nach Betäubungsmitteln oder die Vermeidung von Entzugserscheinungen das alleinige oder primäre Motiv für die Begehung eines Gesetzesverstoßes durch einen Jugendlichen oder Heranwachsenden sein. Möglicherweise könnte eine Bewertung dahingehend vorgenommen werden, ob der Substanzkonsum im jeweiligen Verhältnis zu den einzelnen anderen Faktoren, die für eine Straftat mitursächlich waren, eine größere – überwiegende – Rolle gespielt hat. Für eine solche erweiternde jugendspezifische Auslegung spricht, dass es dem Gesetzgeber mit der vorliegenden Reform nicht nur um eine Entlastung der Anstalten ging. Mit der Einfügung des Merkmals überwiegend sollte erreicht werden, dass die Unterbringung „wieder vorrangig“ bei denjenigen Personen angeordnet wird, „die in diesem Rahmen gut zu erreichen sind und die Angebote nutzen können“ (BT-DRs. 20/5913, S. 48), wobei dies ausdrücklich auch bei der Anwendung für Jugendliche und Heranwachsende gelten sollte. Der Gedanke einer differenzierten, kontextbezogenen Auslegung klingt durchaus in der Gesetzesbegründung an; dort wird festgestellt, dass „die Sucht oftmals nicht alleinige Ursache der Delinquenz ist, sondern die Entwicklung von dissozialem und nachfolgend delinquentem Verhalten und suchtmittelbezogenen psychischen Störungen bei den Betroffenen häufig eng verwoben und regelhaft Folge derselben biografischen Belastungs‑, Persönlichkeits- und Umweltfaktoren (z. B. Gewalt in der Herkunftsfamilie, Vernachlässigung, Trennung der Eltern, Selbstwertproblematik, psychische Erkrankungen etc.) ist“ (BT-DRs. 20/5913, S. 47).

  • Gefahr: Das Kriterium der Gefahr wurde als einzige der medizinisch-psychologischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB nicht novelliert. Eine Änderung ist trotz unverändertem Wortlaut dennoch implizit gegeben: Nach der Betrachtung des Hangs steht zunächst der symptomatische Zusammenhang im Fokus, demnach die etwaige Konnexität mit dem zur Last gelegten Delikt. Bei der Betrachtung der Gefahr wird die Betrachtung dieser potenziellen Beziehung auf die Gesamtdelinquenz erweitert. Die Forderung eines höheren Grades des symptomatischen Zusammenhangs mit dem Indexdelikt zieht auch eine Konzentration auf den suchtmittelbedingten Anteil des Gesamtrisikos nach sich: Die Eingrenzung dieses Ausmaßes gerät mehr in den Fokus, selbst wenn eine genaue Quantifizierung der Anteile nicht möglich ist (Schwarz und Stübner 2023; Stübner, Werner* et al. 2024, akzeptiert in Vorbereitung). Wird der Begriff überwiegend daher, wie vorgeschlagen, relativ zur Lebens- und Entwicklungsphase eines Jugendlichen oder Heranwachsenden gesehen, so hätte dies auch auf die Einschätzung der Gefahr eine entsprechende Auswirkung: Auch wenn das Risiko für zukünftige Straftaten durch (mehrere) andere Faktoren als wahrscheinlich mitbedingt eingeschätzt wird, so sollte geprüft werden, ob die sich noch in der Entwicklung befindende oder bereits manifeste Substanzkonsumstörung einen bedeutenderen Einfluss in Relation zu den anderen Faktoren auf die Erwartbarkeit neuerlicher Delikte ausübt. Beachtet werden sollte zudem der Befund, dass Substanzmissbrauch im Jugendalter das Entwachsen aus antisozialem Verhalten behindert, woraus sich bei Jugendlichen und Heranwachsenden mit Substanzgebrauchsneigung zusätzlich eine indirekte zukünftige Delinquenzgefährdung ableiten lässt.

  • Erfolgsaussicht: Grundsätzlich können bei jungen Personen die gleichen Kriterien für die Einschätzung des Vorliegens der medizinisch-psychologischen Voraussetzungen für die Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung wie für Erwachsene (Indikatorenlisten: Stübner, Werner* et al. 2024, akzeptiert in Vorbereitung) – mit den vorstehend genannten Anpassungen – herangezogen werden. Gerade im Hinblick auf die Einschätzung von tatsächlichen Anhaltspunkten für eine Erfolgsaussicht sei jedoch eine insgesamt großzügige Handhabung dieses Kriteriums angeregt. Häufig sind noch keine belastbaren, erprobten Ressourcen (einschließlich protektiver sozialer Strukturen), an die angeknüpft werden könnte, verfügbar. Alle Entwicklungen sind hochdynamisch, von vielen, auch äußeren Faktoren abhängig und in die Zukunft kaum weiterzuzeichnen. Demgegenüber ist davon auszugehen, dass sich eine Substanzkonsumstörung bei Jugendlichen und Heranwachsenden noch nicht so stark ausgeprägt darstellt, als dass sich schwerste Folgeschäden ergeben hätten, und allein deshalb eine Therapie im Rahmen einer forensischen Entziehungsbehandlung als kaum ausreichend erscheinen würde. Gerade in frühen Stadien einer Abhängigkeitsgenese können durch medizinisch-therapeutische Interventionen in verhältnismäßig kurzer Zeit Entwicklungen in eine günstige Richtung beeinflusst werden. Darüber hinaus darf aufgrund des jungen Alters in vielen Fällen eine höhere Lern‑, Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeit erwartet werden. Derartigen Überlegungen sollte ggf. Vorrang gegeben werden vor einer Suche nach robusten, objektiven Parametern, die bei dem Großteil der jungen Klientel nur schwer auffindbar sein dürften.

  • Zur Beurteilung der beiden Kriterien des Hangs (Ausmaß einer Substanzkonsumstörung und deren medizinische oder soziale Folgen) sowie der Erfolgsaussicht (therapieprognostische Überlegungen) könnte sich eine Orientierung am Multiaxialen Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (Remschmidt et al. 2017) als hilfreich erweisen. Die 6 Achsen des Klassifikationsschemas (Achse 1: klinisch-psychiatrisches Syndrom, Achse 2: umschriebene Entwicklungsstörung, Achse 3: Intelligenzniveau, Achse 4: körperliche Symptomatik, Achse 5: aktuelle abnorme psychosoziale Umstände, Achse 6: globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus) erlauben eine umfassende Beschreibung vieler Umstände, die für eine Einschätzung des Vorliegens der medizinisch-psychologischen Voraussetzungen von § 64 StGB in der novellierten Fassung als relevant angesehen werden können. Mittels Achse 6 (globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus) können Einschränkungen der psychologischen, sozialen, schulischen bzw. beruflichen Funktionen infolge eines klinisch-psychiatrischen Syndroms (hier: Substanzgebrauchsstörung) differenziert über die Ziffern Z55–Z65 der ICD-10 kodiert und mithin Aussagen über die Schwere und Dauerhaftigkeit der Einschränkungen getroffen werden.

  • Sowohl Einrichtungen des Jugendmaßregelvollzugs als auch des Jugendstrafvollzugs streben gemäß dem Erziehungs- und Resozialisierungsgedanken des JGG eine umfassende Berücksichtigung der jugendspezifischen Bedürfnisse an. Dementsprechend hält auch der Jugendstrafvollzug spezielle sucht- und kriminaltherapeutische Maßnahmen sowie schulische und Ausbildungsangebote vor. Insofern ist – unabhängig von den Eingangsvoraussetzungen von § 64 StGB – eine Abgrenzung der im Hinblick auf Eignung und Ergebnis zu präferierenden Maßnahmen im individuellen Fall möglicherweise nicht leicht zu ersehen. Gegebenenfalls könnten v. a. Personen mit einer bereits verfestigten Suchtstruktur oder einer psychiatrischen Komorbidität ohne ausgeprägte kriminelle Neigungen eher vom Jugendmaßregelvollzug profitieren.

Fazit

Insgesamt wird bei der Einschätzung des Vorliegens der medizinisch-psychologischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung eine Balance zwischen der Berücksichtigung der geschärften Eingangskriterien und einer an die Bedürfnisse jugendlicher Straffälliger mit Substanzgebrauchsneigung angepassten, ggf. wenig rigiden Vorgehensweise bei der Begutachtung und Rechtsprechung gefunden werden müssen. Die Abhängigkeits- und die Delinquenzentwicklung stellen sich im jugendforensischen Bereich komplex verwoben dar und sind vor dem Hintergrund von Alters- und Entwicklungsdynamiken zu sehen. Die hier vorgeschlagene jugendspezifische Auslegung entspräche dem Willen des Gesetzgebers, in geeigneten Fällen auch Jugendliche und Heranwachsende weiterhin in den Anwendungsbereich von § 64 StGB einzubeziehen.