Einleitung

Die COVID-19-Pandemie hat weltweit zu enormen Belastungen der Gesundheitssysteme, der Ökonomie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts geführt. Viele Aspekte und Zusammenhänge sind noch nicht hinreichend erforscht und aufgearbeitet. Auch die forensisch-psychiatrischen Aspekte sind so vielfältig, dass sie in einem einzelnen Artikel noch nicht einmal stichwortartig skizziert werden könnten. Aus diesem Grund beschränkt sich der folgende Artikel auf einige Überlegungen zum gutachtlichen Umgang mit der Long‑/Post-COVID-Symptomatik. Dabei begibt man sich bei den neurologisch-psychiatrischen Fragestellungen zwangsläufig auch auf das schwierige Feld der Einschätzung einer chronischen Fatigue-Symptomatik, und man muss sich auch mit der Thematik der myalgischen Enzephalomyelitis befassen. Gutachten auf diesem Gebiet waren schon vor der COVID-19-Pandemie häufig heftig umstritten, es handelte sich aber eher um Einzelfälle. Die pandemiebedingte Zunahme solcher Fragestellungen führt dazu, dass sich viele gutachtlich tätigen KollegInnen nun verstärkt damit auseinandersetzen müssen. Dabei ist es wichtig, dass man die konsentierten Leitlinien kennt und berücksichtigt und die Symptomatik entsprechend der gängigen Diagnosemanuale kodifiziert. GutachterInnen sollten auch die wichtigsten empirischen Studien zu ätiopathogenetischen Mechanismen kennen und im gutachtlichen Kontext kritisch bewerten können. Hierzu will die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten und auf der Basis des aktuellen evidenzbasierten Wissens einige Hinweise für die gutachtliche Praxis geben.

Long- und Post-COVID: Definition und Häufigkeiten

Die Nomenklatur bezüglich der Thematik kann verwirren, da für verschiedene Kontexte und Fragestellungen von unterschiedlichen Organisationen divergierende Definitionen und Begrifflichkeiten gewählt wurden, die sich noch dazu im Laufe der Zeit auch verändert haben. Die WHO definiert länger als 4 Wochen nach einer nachgewiesenen COVID-19-Infektion anhaltende Beschwerden als Long-COVID, und Symptome, die länger als 12 Wochen bestehen als Post-COVID (WHO 2021). In der ICD-10-GM kann der „Post-COVID-Zustand nicht näher bezeichnet“ unter der Schlüsselnummer U09.9! kodiert werden. Zu beachten ist, dass sich hinter diesen zeitlich so klar definierten Zustandsbildern klinisch völlig unterschiedliche Syndrome manifestieren können, die z. B. das kardiologische, nephrologische, pulmologische, Hals-Nasen-Ohren-ärztliche, neurologische oder psychiatrische Fachgebiet betreffen können. In einem systematischen Review zu Post-COVID (Groff et al. 2021) waren pulmonale und neuropsychiatrische Symptome am häufigsten. Folgende Symptomverteilungen wurden in dieser Studie berichtet: Lungensymptome mit Auffälligkeiten in der pulmonalen Bildgebung (62 %), verminderte Leistungsfähigkeit (44 %), generalisierte Angststörung (29,6 %), Konzentrationsstörungen (23,8 %), Fatigue und/oder Muskelschwäche (37,5 %). In einer Metaanalyse zu neuropsychiatrischen Symptome 3 Monate nach COVID-19-Erkrankung, die immerhin 22.815 Patienten umfasste, konnten folgende Häufigkeiten ermittelt werden: Fatigue 44 %, „brain fog“ 35 %, Schlafstörungen 30 %, Gedächtnisprobleme 29 %, persistierende Anosmie 11 % (Premraj et al. 2022).

Die in der Literatur berichteten Angaben zu Häufigkeit und Art der Manifestation des Post-COVID-Syndroms sind aber sehr heterogen und hängen von den untersuchten Stichproben und den eingesetzten Untersuchungsinstrumenten ab. Als stärkste Risikofaktoren für die Ausbildung einer Post-COVID-Symptomatik konnten das weibliche Geschlecht, die Stärke der akuten COVID-Symptomatik sowie vorbestehende somatische oder psychosomatische Beschwerden ermittelt werden (Förster et al. 2022). Die Diagnose eines Long‑/Post-COVID-Syndroms kann weder durch eine einzelne Laboruntersuchung oder deren Zusammenstellung noch durch andere apparative Diagnostik objektiviert werden. Umgekehrt kann auch eine unauffällige apparative Diagnostik ein Long‑/Post-COVID-Syndrom nicht ausschließen (Koczulla et al. 2022). Für die neuropsychiatrische Begutachtung sind die Fatigue-Symptomatik und die damit möglicherweise einhergehende Leistungseinschränkung, auf die im Folgenden eingegangen wird, von besonderer Bedeutung (Dreßing und Meyer-Lindenberg 2021).

Chronisches Fatigue-Syndrom

Auch beim chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) sind unterschiedliche Definitionen und Terminologien zu beachten. Leitsymptome sind eine verstärkte Erschöpfbarkeit und Müdigkeit, die mit einer zumindest subjektiv empfundenen Einschränkung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit einhergehen (Ludwig et al. 2023a). Das CFS kann in der ICD-10 als eigenständige Diagnose unter der Restkategorie „sonstige Krankheiten des Nervensystems“ unter dem Code G 93.3 verschlüsselt werden. Von der Symptomatik ähnelt das CFS-Syndrom der Neurasthenie, für die es in der ICD-10 ebenfalls eine eigene Kodierung gibt (F48.0). Da die Diagnosen aufgrund der Beschwerdeschilderungen nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden können und beweisende Laborparameter nicht bekannt sind, wird von manchen Autoren das CFS als eigenständige Erkrankung nicht anerkannt, sondern als eine zeitgenössische Spielart der Neurasthenie bezeichnet (Rollnik 2017). Auch die differenzialdiagnostische Abgrenzung von der somatoformen Störung ist alleine aufgrund anamnestischer Angaben in der Regel nicht möglich (Griffith und Zarrouf 2008). Für die Begutachtung ist es wichtig, dass man nicht mit ideologischen Vorbehalten an eine solche Fragestellung herangeht, da man sich ansonsten leicht dem Vorwurf der Befangenheit aussetzt, zumal viele ProbandInnen, die mit einer solchen Symptomatik begutachtet werden, sehr dezidiert eine psychosomatische Erklärung ihrer Beschwerden ablehnen. Ohnehin kommt es bei der gutachtlichen Beurteilung letztlich nicht auf die gestellte Diagnose an, sondern auf die Beurteilung der Auswirkungen von auf der Befundebene feststellbaren Symptomen auf die Leistungsfähigkeit. Deshalb können psychiatrische Diagnosen zwar differenzialdiagnostisch diskutiert werden, GutachterInnen sollten aber ebenso mit den derzeit gültigen diagnostischen Kriterien des CFS vertraut sein und diese im Gutachten aufführen und diskutieren. Vom Institute of Medicine (IOM) wurden 2015 die in Tab. 1 dargestellten Kriterien zur Diagnose des CFS vorgeschlagen (Dreßing et al. 2021).

Tab. 1 Diagnostische Kriterien des CFS. (Dreßing et al. 2021)

Die gleichen diagnostischen Kriterien wurden vom National Institute for Health and Care Excellence (NICE) vorgeschlagen, wobei für die Diagnose eines CFS – entgegen den Vorschlägen des IOM – gemäß der NICE-Kriterien das Vorhandensein der Symptomatik schon über eine Dauer von 3 Monaten ausreichend ist (Turner-Stokes und Wade 2020).

Die NICE-Kriterien werden insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit der Symptomatik durchaus kritisch diskutiert. So wird in den NICE-Kriterien z. B. die bisher empfohlene Aktivierung der betroffenen Personen wegen vermeintlich fehlender Evidenz ebenso abgelehnt wie kognitive psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen. Stattdessen findet sich in den NICE-Kriterien die Empfehlung zum „Pacing“, also einem Energiemanagement, das letztlich auf Schonung hinausläuft. Diesbezüglich wird von einigen Autoren kritisch angemerkt, dass man mit dieser Tenorierung fälschlicherweise eher den Charakter einer chronischen, nichtheilbaren Erkrankung impliziere (Ludwig et al. 2023b). Kritisch wurde im Hinblick auf die neuen NICE-Kriterien sogar die provokative Frage aufgeworfen, ob es sich hierbei möglicherweise mehr um ideologische Standpunkte denn wissenschaftliche Empirie handle (Flottorp et al. 2022).

In der ICD-11 wird das Syndrom als „postvirales Fatigue-Syndrom“ (8E49) verschlüsselt, wobei darunter auch die seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte myalgische Enzephalomyelitis subsumiert wird. Auch bei der myalgischen Enzephalomyelitis (ME) findet sich eine Mischung unspezifischer Symptome wie z. B. Fatigue, Muskelschmerzen und Schwächegefühl, Schlafstörungen etc. Ein Zusammenhang mit Virusinfektionen – z. B. dem Epstein-Barr-Virus, Zytomegalievirus u.v.a.m. – oder mit immunologischen Auffälligkeiten wurde wiederholt diskutiert, und es fanden sich zu den vielfältigen Hypothesen jeweils auch einzelne Studien in kleineren Stichproben, die gewissen Auffälligkeiten zeigten (Komaroff und Lipkin 2021). Ein allgemein akzeptiertes ätiopathogenetisches Konzept ließ sich aber letztlich bisher nicht nachweisen (Ludwig et al. 2023a). Dies ist bedeutsam, da ProbandInnen zur Begutachtung auch Ergebnisse aus „Speziallaboren“ mitbringen, mit denen ihnen von ihren BehandlerInnen ein vermeintlich objektiver Nachweis des Vorhandenseins einer ME bzw. eines CFS suggeriert wird. Die Diskussion um die myalgische Enzephalomyelitis hat in letzter Zeit wieder Fahrt aufgenommen, da auch bei der Long‑/Post-COVID-Symptomatik eine Vielzahl neurobiologischer und immunologischer Auffälligkeiten beschrieben wurde. Da ProbandInnen zunehmend entsprechende Befunde von „Spezialisten“ zur Begutachtung mitbringen, ist es wichtig, dass GutachterInnen sich auch damit kompetent auseinandersetzen können. Deshalb werden im Folgenden einige Forschungsergebnisse skizziert, wobei es sich dabei letztlich zumindest beim derzeitigem Kenntnisstand um Grundlagenforschung handelt, die für die praktische Begutachtung noch keine Relevanz hat (Dreßing et al. 2021).

Neurobiologische Befunde bei Long‑/Post-COVID

Für die neuropsychiatrische Begutachtungspraxis von besonderer Bedeutung sind aus Studien gewonnene Hinweise auf kognitive Defizite nach einer COVID-19-Infektion, wie sie bereits aus vergangenen Epidemien mit humanen Coronaviridae („severe acute respiratory syndrome“ [SARS]; „Middle East respiratory syndrome“ [MERS]) bekannt sind (Rogers et al. 2020).

Spezifische Defizite im Rahmen einer ausführlichen neuropsychologischen Testung wurden im Bereich der Aufmerksamkeits- und Merkfähigkeitsstörungen sowie Störungen der exekutiven Funktionen bei Patienten mit nachgewiesener COVID-19-Infektion beschrieben (Almeria et al. 2020). In einer populationsbasierten Studie mit 84.285 Patienten aus Großbritannien wurden semantische Defizite, Störungen der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses festgestellt (Hampshire et al. 2020). Allerdings sind bisher weder die Pathophysiologie noch bildgebende Korrelate der kurz- und langfristigen kognitiven Defizite bei COVID-19-Patienten verstanden. Eine der AutorInnen dieses Artikels (A.D.) versuchte deshalb, bildmorphologische Korrelate der kognitiven Defizite im Rahmen von COVID-19 zu detektieren. In einer Gruppe aufgrund einer SARS-CoV-2-Infektion auf einer Normalstation hospitalisierter Patienten konnten einen Monat nach Beginn der Infektion kognitive Defizite in den Bereichen visuokonstruktive Leistung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis beschrieben werden, die sich auch in einem reduzierten MoCA-Test-Score abbilden ließen. Pathophysiologisch korrelierten diese Veränderungen mit einem zerebralen Hypometabolismus im 18FDG-PET in frontalen und parietalen Assoziationskortizes. Strukturelle Veränderungen in der zerebralen Magnetresonanztomographie oder ein Hypermetabolismus als Korrelat einer Entzündung ließen sich nicht darstellen (Hosp et al. 2021). In einer weiteren Studie derselben Arbeitsgruppe mit einer Stichprobe von 31 ambulanten PatientInnen, bei denen die COVID-Infektion mindestens 3 Monate zurücklag, und die subjektiv über starke kognitive Beeinträchtigungen klagten (nach aktueller Terminologie PatientInnen mit Post-COVID-Syndrom), fanden sich in einer umfassenden neuropsychologischen Testung allerdings keine signifikanten Auffälligkeiten mehr und auch keine signifikanten Veränderungen des regionalen zerebralen Glucosestoffwechsels in der FDG-PET-Untersuchung (Dreßing et al. 2022). Dies könnte dafür sprechen, dass möglicherweise subjektive Krankheitskonzepte und Mechanismen der Krankheitsverarbeitung bei Long‑/Post-COVID eine bedeutendere Rolle spielen könnten als objektiv nachweisbare neurobiologische Veränderungen. Für diese Annahme könnte auch der Befund einer französischen Kohortenstudie sprechen. Selbstberichtete Symptome über mindestens 8 Wochen (Schlafstörungen, muskuloskeletale Beschwerden, Fatigue, Konzentrationsstörungen, pulmonale, gastrointestinale und neurologische Symptome wie Parästhesien, Kopfschmerzen oder Anosmie) fanden sich signifikant häufiger bei Personen, die meinten, die Infektion durchgemacht zu haben, wobei diese Selbsteinschätzung nicht mit dem serologischen Status korrelierte (Matta et al. 2021).

Diskutiert wird allerdings auch die Hypothese eines direkten Zusammenhangs zwischen ZNS-Symptomen und der viralen Infektion, da das neurotrope Potenzial humaner Coronaviren, zu denen auch das SARS-CoV-2-Virus zählt sowohl im Tiermodell als auch bei Menschen gezeigt werden konnte (Li et al. 2015). So wird u. a. ein direkter viraler Befall über retrogrades Eindringen des Virus in Hirnnerven oder Neurone des Hirnstamms und nachfolgende transsynaptische Ausbreitung als Ursache der kognitiven Symptome diskutiert. Kortikale Symptome, wie sie in den oben genannten Studien berichtet werden, könnten dann entweder durch eine primäre Schädigung des Kortex oder durch indirekte funktionelle Schädigungen der Projektionsbahnen in neokortikalen Arealen bedingt sein. So fanden sich bei einer neuropathologischen Untersuchung in einer Gruppe von an COVID-19 verstorbenen Patienten der direkte Nachweis von SARS-CoV-2-Viren bei 53 % der 40 untersuchten Patienten und eine ausgeprägte mirkogliale Aktivierung sowie eine Aktivierung zytotoxischer T‑Lymphozyten, insbesondere im Hirnstamm und im Kleinhirn der Patienten, aber keine Auffälligkeiten im Neokortex, wobei das Vorhandensein von SARS-CoV-2-Viren im ZNS auch nicht mit der Schwere der neuropathologischen Veränderungen assoziiert war (Matschke et al. 2020).

Für eine mögliche ätiopathogenetische Bedeutung einer inflammatorischen Reaktion bei der Entstehung der kognitiven Defizite bei Long‑/Post-COVID könnten Befunde sprechen, die einen erhöhten Serumspiegel des Neurofilamentproteins der leichten Kette (NfL) fanden, wobei es sich dabei um einen Marker für axonale Schädigungen handelt (Ameres et al. 2020). Eine Korrelation zwischen der Höhe der NfL-Spiegel und dem Ausmaß kognitiver Defizite konnte bisher aber nicht gezeigt werden. Für die Fatigue-Symptomatik werden auch immunologische Mechanismen diskutiert, wie z. B. eine Erhöhung von Interleukin‑6 und -10 (Russell et al. 2019), wobei auch hier mögliche Zusammenhänge noch Gegenstand der Grundlagenforschung sind und ein umfassendes Verständnis möglicher neurobiologischer Ursachen bisher noch nicht vorliegt.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es zwar eine Reihe von Einzelbefunden zu möglichen neurobiologischen Ursachen der Long‑/Post-COVID-Symptomatik gibt, die aber nur in kleinen Stichproben festgestellt werden konnten und zumindest nach derzeitigem Kenntnisstand noch kein umfassendes Verständnis der komplexen Symptomatik erlauben. Für die neuropsychiatrische Begutachtungspraxis sind sie insoweit noch von geringer Bedeutung. GutachterInnen sollten sich aber auch mit Ergebnissen dieser Grundlagenforschung auseinandersetzen, da es zunehmend vorkommen wird, dass man sich als GutachterIn im Einzelfall auch mit solchen Befunden bei GutachtenprobandInnen auseinandersetzen muss, und man deshalb in der Lage sein sollte, sich damit sachkundig umzugehen. Es kommt hinzu, dass es ebenso vielfältige Hinweise für eine psychogene (Mit‑)Verursachung der Symptomatik gibt. So zeigte sich z. B. in Daten aus einem Geburtskohortenregister, dass CFS-PatientInnen eine erhöhte Rate an vorbestehenden psychiatrischen Diagnosen hatten (Harvey und Wadsworth 2008).

Praktisches Vorgehen bei der neuropsychiatrischen Begutachtung von Long‑/Post-COVID

Die folgenden Überlegungen zur neuropsychiatrischen Begutachtung von Long‑/Post-COVID beschränken sich auf die Beurteilung einer Fatigue-Symptomatik. Es gibt zahlreiche andere Befundkonstellationen, die ebenfalls Gegenstand einer neuropsychiatrischen Begutachtung nach einer stattgehabten COVID-19-Infektion sein können, wie z. B. eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine depressive Störung. Zu diesen Fragestellungen wird auf andere Publikationen verwiesen (Dreßing und Meyer-Lindenberg 2021, 2022).

Die folgende Darstellung bezieht sich auf die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland. Gutachter sollten mit den Leitlinien und Empfehlungen des Landes ihrer Tätigkeit, der dortigen Rechtsprechung sowie der herrschenden Lehrmeinung vertraut sein, da sich die entsprechenden Rahmenbedingungen z. B. in der Schweiz und Österreich von denen in Deutschland in manchen Aspekten unterscheiden können.

Die Herausforderungen an den psychiatrischen Gutachter bei der Beurteilung von eher unspezifischen und schwer zu quantifizierenden Symptomen sind auch von Begutachtungen bei Fibromyalgie, der „multiplen Chemikaliensensibilität“ (MCS), den somatoformen Störungen und der Neurasthenie bekannt. Alle diese Diagnosen weisen eine überlappende Symptomatik auf und sind in der Begutachtung oft umstritten.

Dabei muss sich die neuropsychiatrische Begutachtung einer Fatigue-Symptomatik mit zwei grundsätzlichen Dilemmata auseinandersetzen: Einerseits beruht die Diagnose – unabhängig davon, ob man nun die oben dargestellten Kriterien des IOM, die NICE-Kriterien oder die ICD-11-Kriterien anwendet – zunächst einmal vorwiegend auf anamnestischen Angaben. Eine Begutachtung darf sich jedoch nicht ausschließlich auf die subjektiven Selbsteinschätzungen der ProbandInnen stützen, denn dann bräuchte man keine Gutachten. Kein Proband, der mit der Diagnose eines Fatigue-Syndroms als Folge einer COVID-19-Infektion zu einem Gutachter kommt und dessen Leistungsfähigkeit eingeschätzt werden soll, wird sich selbst als leistungsfähig einschätzen, denn die geminderte Leistungsfähigkeit ist ja schon ein obligates Eingangskriterium der Diagnose. Den logische Zirkelschluss – weil eine Fatigue-Symptomatik geschildert wird, muss auch eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit vorliegen – dürfen GutachterInnen aber gerade nicht machen, sondern es muss eine Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung vorgenommen werden. Wie man dabei in der Praxis vorgehen kann, dazu sollen im Folgenden einige Überlegungen dargestellt werden. Zunächst soll aber auf das zweite gutachtliche Dilemma bei der neuropsychiatrischen Begutachtung einer Fatigue-Symptomatik eingegangen werden. Da die Ätiopathogenese der Fatigue-Symptomatik nach einer COVID-19-Infektion bisher nicht hinreichend verstanden ist, gibt es teilweise eher von Ideologie denn empirischem Wissen getriebene Auseinandersetzungen (Dumit 2006). Die sich befehdenden Lager reichen von der Position, dass es sich um eine organisch bedingte Erkrankung handelt, die in das Spektrum der myalgischen Enzephalomyelitis einzuordnen ist, bis hin zu der psychoanalytischen Auffassung, dass es sich um eine Spielart der Neurasthenie handelt (Bronstein 2011). Weiterhin zu beachten ist ein zunehmender Einfluss von Selbsthilfegruppen, die eine „Psychologisierung“ der Fatigue-Symptomatik heftig bekämpfen. GutachterInnen sollten sich nicht auf solche ideologischen Positionen einlassen, da sie sich ansonsten auch schnell dem Vorwurf der Befangenheit aussetzen. Es kommt bei der gutachtlichen Bewertung der Symptomatik letztlich auch gar nicht auf die diagnostische Einordnung an, sondern auf den gutachtlich erhobenen Befund und die daraus abzuleitende Einschätzung der Leistungsfähigkeit. In einem Gutachten zur Fatigue-Symptomatik sollten deshalb einerseits die IOM- oder NICE-Kriterien diskutiert werden und beim Vorliegen der Kriterien dann gemäß ICD-10 ein Chronic-Fatigue-Syndrom (G93.3) oder gemäß ICD-11 ein postvirales Syndrom (8E49) festgestellt werden. Differenzialdiagnostisch können dann aber ebenso die diagnostischen Kriterien der Neurasthenie und/oder der somatoformen Störung diskutiert werden, mit dem Hinweis, dass es praktisch unmöglich ist, einzig auf Basis der Anamnese eine sichere differenzialdiagnostische Einordnung zu treffen, und dass es für die gutachtliche Gesamtbeurteilung darauf letztlich auch nicht ankommt, sondern auf den erhobenen Befund einschließlich der dabei vorzunehmen Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung. Dieser Aspekt wurde oben bereits angesprochen und soll im Folgenden weiter ausgeführt werden.

Wesentliche Basis einer neuropsychiatrischen Begutachtung – völlig unabhängig von den zu beurteilenden Beschwerden – sind immer eine ausführliche Exploration, einschließlich einer Verhaltensbeobachtung, und ein darauf basierender psychopathologischer Befund. Sofern eine Fatigue-Symptomatik zu beurteilen ist, sollte man dafür immer mehrere Stunden einplanen, da sich dabei die Möglichkeit ergibt, das Leistungsvermögen von ProbandInnen direkt zu beobachten. Dabei kommt es darauf an, dass sich GutachterInnen vom tatsächlichen Ausmaß subjektiv geklagter Beschwerden selbst auch überzeugen können. Gegebenenfalls sind dafür auch mehrere Untersuchungstermine anzusetzen oder u. U. auch eine stationäre Beobachtung. Zu kurze Untersuchungszeiten können hier zu erheblichen Fehleinschätzungen führen. Subjektiv geklagte Einschränkungen der Konzentration und des Durchhaltevermögens sollten sich bereits im Rahmen einer solchen klinischen Befunderhebung zeigen. Zusätzlich kann bei dieser Fragestellung auch eine neuropsychologische Testung vorgenommen werden, die es ermöglicht, subjektiv vorgetragene kognitive Beeinträchtigungen festzustellen oder auszuschließen. Da bei der neuropsychologischen Testung kognitiver Fähigkeiten auch Motivation und Anstrengungsbereitschaft der ProbandInnen notwendig sind – die entweder wegen mangelnder Willensanspannung oder auch krankheitsbedingt beeinträchtigt sein können – empfiehlt es sich, in die Gesamtbeurteilung auch sog. Beschwerdenvalidierungstests (BVT) einzubeziehen. Sofern das Ergebnis in einem Beschwerdenvalidierungstest unterhalb der erwarteten Norm liegt, kann aber nur festgestellt werden, dass das Anstrengungsverhalten nicht den Erwartungen entspricht. Die Zuordnung eines auffälligen Befundes zur Rubrik „Simulation“ und auch „Aggravation“ ist dann in einem zweiten Schritt vom Gutachter im klinischen Gesamtkontext zu bewerten.

Ganz wesentlich ist bei der neuropsychiatrischen Begutachtung zu beachten, dass kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einer Diagnose und der beruflichen Leistungsfähigkeit besteht. Ein Zusammenhang besteht nur zwischen auf der Befundebene nachgewiesenen Symptomen und dem beruflichen Leistungsvermögen. Aspekte, die in eine Gesamtbeurteilung eingehen sollten, sind u. a. die subjektive Einschätzung des/der ProbandIn, deren Lebensalter, das Vorhandensein akzentuierter Persönlichkeitszüge, eine möglicherweise vorhandene psychiatrische Komorbidität, der mögliche Verlust der sozialen Integration im Laufe der Erkrankung, Aspekte des primären und sekundären Krankheitsgewinns, Ausmaß eines chronifizierenden Krankheitsverlaufs, möglicherweise vorliegende unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequenter und lege artis durchgeführter Therapiemaßnahmen sowie eine mögliche iatrogene Verstärkung (Dreßing et al. 2021). Für die Gesamteinschätzung der Leistungsfähigkeit können die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO (DIMDI und WHO-Kooperationszentrum für das System internationaler Klassifikationen 2005) und das daraus abgeleitete Mini-ICF (Linden und Baron 2005) herangezogen werden. Dabei werden Einschätzungen zu unterschiedlichen Funktionsdomänen abgegeben, die es möglich machen, die gutachtliche Einschätzung auch transparent nachzuvollziehen. Zu beachten ist, dass man mit dem Mini-ICF jeweils nur einen Querschnittsbefund abbilden kann. Wenn man auf Informationen aus der Anamnese und auf Fremdbefunde zurückgreift, ist aber auch eine Darstellung des längsschnittlichen Verlaufs möglich. Die einzelnen Funktionsdomänen des ICF sind in Tab. 2 dargestellt.

Tab. 2 ICF-Funktionsdomänen

Gegebenenfalls sind im Einzelfall auch aufwendigere Untersuchungen angezeigt, wie z. B. bildgebende Untersuchungen des Gehirns, Polysomnographie, Blut- und Liquoruntersuchungen. Hier wird die weitere Grundlagenforschung möglicherweise aufzeigen, ob und ggf. welche Untersuchungsmethoden auch in der gutachtlichen Praxis eingesetzt werden sollten. Sofern eine fächerübergreifende Diagnostik notwendig wird, ist ein interdisziplinäres Vorgehen sinnvoll.

Gutachtliche Fragestellungen in diesem Kontext müssen sich u. U. auch mit prognostischen Überlegungen auseinandersetzen, wenn zum gegenwärtigem Zeitpunkt eine krankheitsbedingte Leistungseinschränkung festgestellt wird. Zwar gibt es Berichte über eine länger als ein Jahr anhaltende Post-COVID-Symptomatik, längerfristige Verlaufsuntersuchungen in großen Stichproben mit belastbaren Ergebnissen liegen aber noch nicht vor. Gutachtliche Feststellungen zu einer möglicherweise aufgrund eines Fatigue-Syndroms als Manifestation einer Post-COVID-Symptomatik eingeschränkten Leistungsfähigkeit sollten deshalb zeitlich befristet erfolgen, und eine Nachbegutachtung nach etwa einem Jahr sollte empfohlen werden. Auf die Notwendigkeit intensiver rehabilitativer Bemühungen sollte hingewiesen werden. Zunehmende Tendenzen, die Chronizität der Symptomatik zu betonen, sehen die Autoren dieses Artikels deshalb in Übereinstimmung mit anderen Autoren (z. B. Ludwig et al. 2023b) mit einer gewissen Skepsis. Da Heilungsverläufe nach einer COVID-19-Infektion durchaus sehr langwierig sein können und die Leistungssteigerung langsam erfolgen kann, erscheint es zumindest nach derzeitiger Kenntnislage sinnvoll, eine gutachtliche Leistungseinschätzung erst etwa 12 Monate nach stattgehabter Infektion vorzunehmen.

Es kann auch durchaus vorkommen, dass trotz intensiver gutachtlicher Bemühungen eine eindeutige Einschätzung nicht möglich ist. Darauf sollten GutachterInnen dann explizit hinweisen. In solchen Fällen ist es sinnvoll, sowohl die Argumente, die für eine ausgeprägte Fatigue-Symptomatik sprechen, anzuführen als auch dagegen sprechende Argumente. Gutachtlich kann man dann u. U. zu einem „non liquet“ gelangen. Es ist keineswegs Ausdruck eines mangelhaften Gutachtens, wenn man ggf. auf solche Unklarheiten hinweist. Wie diese Situation dann zu bewerten ist, obliegt der rechtlich normativen Würdigung, und GutachterInnen sollten sich nicht gedrängt fühlen, Fragen zu beantworten, für die trotz umfassender Untersuchung keine ausreichende Beurteilungsgrundlage besteht. Der Tenor im Gutachten sollte in solchen Fällen vorsichtig formuliert werden und es muss auf die methodischen Beschränkungen hingewiesen werden. Gegebenenfalls kann man dem Gericht auch Zeugenbefragungen zur Absicherung der Beeinträchtigung im Alltag vorschlagen.

Gelegentlich kann bei Begutachtungen in diesem Kontext auch die Frage der Qualifikation des/der GutachterIn aufgeworfen werden, insbesondere, wenn das Gutachtenergebnis nicht im Sinne des/der ProbandIn ausfällt. Möglicherweise wird nachgefragt, ob der/die GutachterIn denn ein „Spezialist“ für Fatigue sei. Auf solche Anfragen sollte „sine ira et studio“ darauf verwiesen werden, dass es zumindest keine „Spezialgutachter“ für Fatigue gibt. Eine ausreichende Fachkunde sowie gutachtliche Weiterbildung etwa in Form des DGPPN-Zertifikates „Forensische Psychiatrie“ oder des DGNB-Zertifikates „neurowissenschaftliche Begutachtung“ sind gute Grundlagen für die Bearbeitung solcher Gutachtenaufträge, wenn die üblichen Standards der neurowissenschaftlichen Begutachtung berücksichtigt werden.