Einleitung

Im Jahr 2021 wurde eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt bundesweit in 3559 Fällen angeordnet (Statistisches Bundesamt 2022). Drei Viertel aller neu angeordneten freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung erfolgten damit gem. § 64 Strafgesetzbuch (StGB). Dies unterstreicht die Bedeutung, die der forensischen Suchtbehandlung auf der „zweiten Spur“ des Strafsanktionenrechts mittlerweile zukommt.

Ende Juni 2023 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Reform des Sanktionenrechts, in der – neben anderen Vorschriften – die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB novelliert wurde. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz Anfang Juli 2023 zu. Dem vorangegangen war eine mehrjährige Diskussion auf fachlicher und politischer Ebene, wie den immer deutlicher zutage tretenden Problemen rund um forensische Suchtbehandlung im Rahmen des Maßregelrechts begegnet werden kann. Auf ministerial-administrativer Ebene wurde eigens eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die – ausdifferenziert in verschiedene UnterarbeitsgruppenFootnote 1 und besetzt durch Fachleute, die von den Ländern berufen wurden – im Januar 2022 einen Abschlussbericht vorlegte (Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Reform des § 64 StGB [BL-AG] 2021). Der darin enthaltene Reformvorschlag zu § 64 StGB diente sowohl dem Referentenentwurf vom Juli 2022 als auch dem finalen Regierungsentwurf vom Dezember 2022 (BT-Drs. 20/5913) als Blaupause. Wegen Abstimmungsbedarfs zu anderen Teilen des breit angelegten Reformpakets dauerte es dann aber nochmals ein gutes halbes Jahr, bis dieser Entwurf (in unveränderter Form) das Parlament passierte.

Die Diskussion zu Änderungen des § 64 StGB fand indes nicht nur im Rahmen der Bund-Länder-AG statt, sondern auch in Fachverbänden und der Wissenschaft. Erkennbar wurde dies an diversen eigenständigen Reformvorschlägen unterschiedlicher Provenienz (eine Übersicht zu den Reformansätzen bis Ende 2021 findet sich bei Bezzel et al. 2022):

  • Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) publizierte im April 2021 das Positionspapier einer Task-Force mit dem Titel: „Neuregelung des § 64 StGB aus psychiatrischer Sicht“ (Müller et al. 2021).

  • Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie veröffentlichte im März 2022 ein „Plädoyer für eine Transformation der Maßregeln der §§ 63 und 64 StGB“ (Feißt et al. 2022).

  • Die Arbeitsgruppe Sanktionenrecht der Friedrich-Ebert-Stiftung legte im September 2022 unter dem Titel „§ 64 StGB zu reformieren reicht nicht“ schließlich ein „Plädoyer für ein Gesamtkonzept Suchtbehandlung im Strafvollzug“ vor (Arbeitsgruppe Sanktionenrecht 2022).

Zielsetzung

Der vorliegende Artikel stellt die erfolgte Novelle des § 64 StGB sowie die oben genannten weiteren Reformansätze vor und versucht, diese vor dem Hintergrund die Herausforderungen und Probleme rund um forensische Suchtbehandlung einzuordnen. Hierzu werden zunächst diese Herausforderungen benannt und dargestellt.

Herausforderungen im Kontext des § 64 StGB

Die bis zur Novelle gültige Gesetzeslage sowie die Anordnungs- und die Behandlungspraxis im Kontext einer Unterbringung gem. § 64 StGB gehen mit mehreren Herausforderungen einher, die teilweise bereits an anderer Stelle (mehr oder weniger konkret) problematisiert wurden.

Herausforderung 1: Eingangsvoraussetzungen und großzügige Einweisungspraxis

Erkennende Gerichte sowie gutachterliche Sachverständige sehen sich im bisherigen § 64 StGB mit komplex interagierenden Eingangsvoraussetzung an Tat und Täter und einer im Hinblick auf die Auslegung der Anordnungsvoraussetzungen eher großzügigen höchstrichterlichen Rechtsprechung konfrontiert. Um die Unterbringung anordnen zu können, muss zunächst ein „Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen“ (so die Begrifflichkeit des StGB) vorliegen. Sodann muss die Straftat in einem inneren Zusammenhang zu dem zugrunde liegenden Hang des Delinquenten stehen, mithin einen „Symptomwert“ aufweisen. Zugleich muss aus diesem Hang eine erhebliche Gefahr für die Begehung weiterer rechtswidriger Taten ableitbar sein und eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht für eine rückfallpräventive Wirkung der Unterbringung erkennbar sein. Nicht nur, dass es sich um eine Vielzahl von interagierenden Voraussetzungen handelt (z. B. erfordert das Strafgesetz für eine Unterbringung gem. § 63 StGB nur zwei), v. a. die letzte Voraussetzung, die Stellung einer reliablen Behandlungsprognose, stellt für gutachterliche Sachverständige eine implizite Überforderung dar, da kaum valide Kriterien bekannt sind, auf welcher Grundlage diese zu erstellen wäre (Querengässer und Berthold 2022).

In der Folge stehen die erkennenden Gerichte unter Druck: Entweder sie folgen der höchstrichterlichen Linie und bringen auch aus gutachterlicher Sicht „uneindeutige“ Fälle nach § 64 StGB unter – oder sie riskieren eine Aufhebung des Urteils.

Herausforderung 2: steigende Zahl der Neuanordnungen und veränderte Klientel

Vor diesem Hintergrund erklärbar wird auch die Beobachtung, dass die Zahl der Neuanordnungen (NAO) gem. § 64 StGB seit Jahren steigt (Abb. 1). Seit 2007 (als die letzte größere Novelle des § 64 StGB in Kraft trat) hat sich die Zahl der bundesweit ausgesprochenen NAO gem. § 64 StGB annähernd verdoppelt (Statistisches Bundesamt 2022).

Abb. 1
figure 1

Neuanordnungen von Unterbringungen gem. § 64 StGB. (Statistisches Bundesamt 2022)

Insbesondere die Träger von Maßregelvollzugskliniken und deren Belegschaft stellt diese Entwicklung vor große Probleme. Die Schaffung neuer „Betten“ hinkt dem Bedarf seit Jahren hinterher, was einerseits an praktischen Problemen hinsichtlich Finanzierung, Bau und Ausstattung entsprechender Einrichtungen liegt (gesicherte forensische Stationen benötigen Planungsvorlauf – aufgrund der Sicherheitsanforderungen können bestehende Stationen nur selten umgewidmet oder „ertüchtigt“ werden). Andererseits sind regelhaft auch (lokal)politische Hürden zu überwinden.

Daraus resultiert ein permanenter Druck auf die Kliniken, mit zu wenigen Plätzen und knappem Personal der Einweisungszunahme Herr zu werden und zugleich auch noch der veränderten Klientel Rechnung zu tragen. In den letzten Jahren kam es zu deutlichen Veränderungen in den Populationsparametern der gem. § 64 StGB untergebrachten Personen (ausführlich: Berthold und Riedemann 2018; Querengässer und Traub 2021):

  • Schuldfähigkeit: Die Zahl der voll schuldfähigen Patienten nahm deutlich zu und erreichte zuletzt die 70 %-Marke.

  • Deliktspektrum: Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) nahmen als Hauptdelikt stetig zu, gemeingefährliche Straftaten und Sexualdelikte stetig ab; Körperverletzungsdelikte nahmen zunächst zu, dann wieder ab.

  • Diagnosen: Störungen durch multiplen Substanzgebrauch stellen mittlerweile die häufigste Hauptdiagnose dar, ausschließlich alkoholbezogene Störungen nehmen immer weiter ab.

  • Soziodemografie: Die Patienten werden älter, der Anteil an Patienten mit Migrationshintergrund insbesondere aus dem nichteuropäischen Ausland nahm deutlich zu.

Auf all diese Entwicklungen sollte möglichst durch Anpassungen in Setting, Behandlungskonzepten und -strukturen reagiert werden. Diese wichtigen und versorgungsrelevanten Anpassungsprozesse werden vielerorts durch die Überbelegung zumindest verlangsamt.

Herausforderung 3: hohe Abbruchquoten

Es erscheint nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass sowohl ein nicht immer passendes Behandlungsangebot als auch strukturelle Gründe, z. B. ein aus einer Überbelegung resultierender „Entlassdruck“, ihren Teil dazu beitragen, dass der Anteil an Patienten, deren Unterbringung gem. § 64 StGB wegen Aussichtslosigkeit erledigt wird (§ 67d Abs. 5 StGB), trotz regionaler Unterschiede seit vielen Jahren bundesweit bei rund 50 % liegt (BL-AG 2021).

Zwar stellen Therapieabbrüche bei Suchtbehandlungen jenseits des forensischen Kontexts auch keine Ausnahme dar. Allerdings wohnt ihnen im strafrechtlichen Kontext eine andere Qualität inne. So handelt es sich bei einer Erledigung gem. § 67d Abs. 5 StGB um einen potenten Risikofaktor für die spätere Legalbewährung (Querengässer et al. 2018) – vermutlich weil sie regelhaft mit einer Rückverlegung in den Haftvollzug einhergeht und somit eher kontaktförderlich hinsichtlich des Milieus delinquenter Konsumenten wirkt. Insofern sollte die Vermeidung von Therapieabbrüchen im forensischen Kontext im Interesse aller Beteiligten liegen.

Herausforderung 4: Motiv Haftvermeidung

Die bisherige Ausgestaltung des § 67 Abs. 5 StGB lässt zu, dass der Vollzug einer Unterbringung gem. § 64 StGB – nach positivem Verlauf – bereits nach Ablauf der Hälfte der üblicherweise verhängten parallelen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Dies entspricht einer gewissen Bevorzugung von Untergebrachten gegenüber Inhaftierten, da Haftstrafen regelhaft erst nach Ablauf von zwei Dritteln zur Bewährung ausgesetzt werden. Dieser sog. Halbstrafenrabatt wurde viel diskutiert und dahingehend problematisiert, dass er bei vielen Angeklagten (und deren Rechtsbeiständen) zu einer rein extrinsischen Motivlage führe – v. a. bei jenen, denen eine lange Haftstrafe drohe (Schalast und Lindemann 2015). Der Weg zurück in die Freiheit erscheine über die Entziehungsanstalt signifikant kürzer. Es komme zu „Fehleinweisungen“ von Personen, die eigentlich gar nicht willens seien, an einer Therapie teilzunehmen bzw. deren Anforderungen unterschätzten.

Indes fehlen zu dieser These belastbare Zahlen bzw. empirische Befunde zur initialen Motivationslage der Angeklagten. Darüber hinaus existieren zur Überrepräsentation langer Haftstrafen andere ErklärungsansätzeFootnote 2, und der Halbstrafenrabatt weiß spezialpräventive Erwägungen auf seiner Seite. Er kann auch unter retributiven Gesichtspunkten als Ausgleich für das vom Untergebrachten verlangte „Sonderopfer“ einer schuldunabhängigen Maßregelanordnung begründet werden. Nichtsdestotrotz spielen motivationale Gründe im Kontext von Therapieabbrüchen nachweislich eine zunehmend wichtige Rolle (Bezzel und Schlögl 2021).

Herausforderung 5: regionale Unterschiede

Ähnlich wie bei der Anwendung des Jugendstrafrechtes bei Heranwachsendenden oder der Frage, wie viel Gramm Cannabis denn nun eine geringe Menge darstellen würden, unterscheidet sich die Inzidenz der Neuanordnungen (NAO) gem. § 64 StGB zwischen den Bundesländern erheblich (Traub und Querengässer 2019). Während in Bayern zwischen 2007 und 2016 durchschnittlich 7 NAO/100.000 der strafmündigen Bevölkerung ausgesprochen wurden, lag die Inzidenz in Brandenburg bei 1 (Querengässer und Traub 2021). Dieser Unterschied um den Faktor 7 indes lässt sich nicht über epidemiologische Unterschiede hinsichtlich des Konsums psychotroper Substanzen oder Kriminalitätsbelastung erklären, sondern ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf systematische und regional verankerte Unterschiede in der Bewertung der Unterbringungsvoraussetzungen des § 64 StGB zurückzuführen. Obwohl die Inzidenzen in allen untersuchten Bundesländern steigen, gleichen sich die Inzidenzunterschiede nicht an.

Die Novelle des § 64 StGB

Die nunmehr vom Bundestag verabschiedete Neufassung das § 64 StGB lautet wie folgt (im Vergleich zur alten Fassung werden gelöschte Passagen als durchgestrichener Text dargestellt, neu hinzugekommene in Kursivdruck):

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die überwiegend auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.; der Hang erfordert eine Substanzkonsumstörung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert.

Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.

Wie aus dieser Synopse erkennbar wird, nimmt der Gesetzgeber nur wenige inhaltliche Änderungen vor: Der juristische Hangbegriff bleibt erhalten, wird aber durch den Nachsatz psychiatrisch „definiert“. Das Konnexitätserfordernis zwischen Hang und Delinquenz wird gestärkt („überwiegend“). Die Unterbringung ist weiterhin für alle Stufen der Schuldfähigkeit vorgesehen. Die Stellung einer Behandlungsprognose ist nach wie vor vorgesehen, wird jedoch anders formuliert. Ergänzend zu diesen Änderungen direkt in § 64 StGB wird die Halbstrafenregelung erschwert, und der Vorwegvollzug wird regelhaft am Zwei-Drittel-Zeitpunkt orientiert (§ 67 Abs. 5 StGB n. F.).

(Versuch einer) Einordnung: Passt die Lösung zu den Problemen?

Dass die nun folgende Einordnung, welche Folgen die erfolgte Novelle auf die skizzierten Herausforderungen rund um § 64 StGB haben wird, mit großen Unsicherheiten behaftet ist, liegt in der Natur der Sache – handelt es sich doch um komplexe und multideterminierte Phänomene. Insofern stellen die Einschätzungen eine nach bestem Wissen und Gewissen erstellte Prognose und keine Vorhersage dar.

Herausforderung 1: Eingangsvoraussetzungen und großzügige Einweisungspraxis

In Bezug auf die erste Herausforderung, die Komplexität der Eingangsvoraussetzungen, lässt sich aus der Novelle auch bei wohlwollender Betrachtung eine Komplexitätsreduktion nicht erkennen. Im Gegenteil, durch die „Definition“ des Hangbegriffs im selben Paragraphen, die eher einer rückbezüglichen Konturierung entspricht, steht zu befürchten, dass die Komplexität sogar gesteigert wird. Hinzu kommt, dass die Chance zur Streichung der (wie dargestellt, empirisch nicht hinreichend valide zu erstellenden) Behandlungserfolgsprognose nicht genutzt wurde.Footnote 3 Inwiefern und ob sich die erfolgte Umformulierung überhaupt auswirkt, bleibt fraglich. Aus unserer Sicht handelt es sich hierbei um nicht viel mehr als pure Kosmetik. Insofern sind hinsichtlich dieser beiden Eingangsvoraussetzungen u. E. n. keine Erleichterungen für gutachterliche Sachverständige und erkennende Gerichte erkennbar.

In Bezug auf die großzügige höchstrichterliche Auslegung der Voraussetzungen sollten es die erfolgten Konkretisierungen der Voraussetzungen hinsichtlich des Vorliegens eines Hangs sowie des Konnexitätserfordernisses den Obergerichten tatsächlich eher erschweren, bei dieser Linie zu bleiben. Dennoch obliegt dem BGH schlussendlich die Hoheit, Auslegungen zu prägen, sodass diese Einschätzung großen Vorbehalten unterliegen muss.

Herausforderung 2: steigende Zahl der Neuanordnungen und veränderte Klientel

Etwas zuversichtlicher erscheint die Einschätzung zur zukünftigen Entwicklung der NAO. Ein tatsächlicher Rückgang oder zumindest eine Stabilisierung wird aufgrund der Konkretisierung der Eingangsvoraussetzungen, der Erschwerung einer Halbstrafenentlassung und der höheren Hürden für großzügige Auslegungen so wahrscheinlich wie lange nicht mehr. Die Bundesregierung selbst geht von einem Belegungsrückgang um 5 % aus (BT-Drs. 20/5913; S. 58). Schwarz und Stübner (2023) schätzen in einer aktuellen und empirisch fundierten Studie das Potenzial für einen Rückgang gar auf bis zu ein Drittel. Die Entwicklung der NAO im Nachgang zur letzten Novelle aus 2007 mahnt jedoch zu einer gewissen Zurückhaltung, diese Effekte nicht zu überschätzen.

Bezüglich der erfolgten Veränderungen der Klientel lassen die klarere Konturierung des Hanges und der Konnexität erwarten, dass diagnostische und deliktische Verschiebungen der letzten Jahre verlangsamt oder gar umgekehrt werden könnten. Vereinfacht dargestellt, nahm v. a. die Kombination aus BtM-Delinquenten mit eher leichten Substanzkonsumstörungen zu, deren innere Verbindung eher in einer Koinzidenz beider Phänomene denn in einer (wie auch immer gearteten) Kausalität lag. Bei derartigen Ausgangslagen dürften die erkennenden Gerichte zukünftig seltener eine Unterbringung gem. § 64 StGB anordnen.

Andere Veränderungen der Klientel indes (höhere Migrantenanteile, andere Drogen) folgen eher gesamtgesellschaftlichen Prozessen, und Auswirkungen der Novelle hierauf und sind entsprechend nicht zu erwarten. Stattdessen könnte es zu einem aus der Perspektive der Patientenversorgung positiven indirekten Effekt kommen, falls sich der Anstieg der NAO verlangsamen würde. Dies gäbe den MRV-Kliniken etwas Luft, um ihre Behandlungskonzepte an die veränderte Klientel anzupassen.

Herausforderung 3: hohe Abbruchquoten

Eine seriöse Aussage, inwiefern sich die Novelle auf die Abbruchquoten auswirken wird, ist aus unserer Sicht kaum möglich, da zwei gegenläufige Effekte denkbar sind. Einen positiven Effekt auf die Abbruchquoten könnten der möglicherweise sinkende Aufnahmedruck und die zu erwartende Veränderungen in der Primärmotivation (s. unten) darstellen. Ein negativer Effekt könnte sich daraus ergeben, dass mutmaßlich weniger der aus statistischer Sicht „unkritisch behandelbaren“ Patienten untergebracht werden: Delinquenten mit hohen Haftstrafen und Vergehen gegen das BtMG als Eingangsdelikt weisen seltener die Entlassform einer Erledigung wegen Aussichtslosigkeit auf. Sinkt deren Anteil, weil sie seltener eingewiesen werden, könnte dies eine in toto höhere Abbruchquote zur Folge haben. Dass nicht abzusehen ist, welcher der Effekte in welcher Stärke auftritt, und wie diese ggf. miteinander interagieren, macht eine Vorhersage an dieser Stelle so gut wie unmöglich.

Herausforderung 4: Motiv Haftvermeidung

Soweit man der bisherigen Halbstrafenregelung einen dysfunktionalen Effekt zuschreibt, wird deren Einschränkung sehr wahrscheinlich dazu führen, dass auf individueller Ebene das Haftvermeidungsmotiv nicht mehr denselben Effekt auf die Motivationslage haben wird, wie bisher. Da aber nicht klar ist, ob Haftvermeidung bei einer nennenswerten Anzahl an Angeklagten jemals das Primärmotiv darstellte, um eine Unterbringung gem. § 64 StGB anzustreben, bleibt weiterhin unklar, ob die „Beliebtheit“ des § 64 StGB durch die Abschaffung der Halbstrafenregelung in der Breite sinken wird.

Herausforderung 5: regionale Unterschiede

Die geschilderten regionalen Unterschiede in der Inzidenz entstehen mutmaßlich durch unterschiedliche Auslegungen der Konnexität zwischen Hang und Delinquenzneigung einerseits sowie der Behandlungserfolgsprognose andererseits. Gerade durch die Unmöglichkeit, eine valide Behandlungsprognose zu stellen, ergibt sich eine „Schwammigkeit“ in den Auslegungsmöglichkeiten. Insofern stellt gerade die Anzahl an vermeintlich klaren Voraussetzungen paradoxerweise eine Hintertüre dar, um „rechtskulturell“ bedingte Unterschiede zu verstetigen. Mutmaßlich werden die in der neuen Fassung des § 64 StGB leicht gestiegenen Anforderungen an die Konnexität und die „kosmetischen“ Änderungen bei der Behandlungserfolgsprognose keinen Unterschied machen. Diese Hintertüre dürfte also weitgehend offenbleiben.

Zwischenfazit

Positiv zu werten ist die Stärkung des Konnexitätserfordernisses zwischen Konsumproblematik und Delinquenz, da der Gesetzgeber hierdurch den rechtsdogmatisch unzweifelhaft spezialpräventiven Charakter der Maßregel als Reaktion auf suchtmittelbedingte Delinquenzgefahr, der zuletzt durch die Rechtsprechung eher aufgeweicht worden war, gestärkt hat.

Unterm Strich wirkt die erfolgte Novelle dennoch zaghaft. Denn diese Stärkung fällt neben anderen Änderungen, die eher hinter den Erwartungen (und Erfordernissen) zurückblieben, kaum ins Gewicht. So wäre bei einer Neuformulierung des Hangbegriffes und bei der Behandlungserfolgsprognose mit dem nötigen politischen Willen sicherlich mehr möglich gewesen – von der versäumten Chance, den fast schon archaisch anmutenden Begriff der „Entziehungsanstalt“ durch einen zeitgemäßeren zu ersetzen, ganz zu schweigen. Das altbekannte Sprichwort von dem kreißenden Berg, der schlussendlich eine Maus gebar, trifft u. E. n. auf diese Novelle zu.

Es war diese Einschätzung, die uns bereits nach Bekanntwerden des Abschlussberichts der Bund-Länder-AG veranlasste, eine alternative „Skizze eines neuen § 64 StGB“ zu erstellen (Querengässer et al. 2022a), auf die wir an dieser Stelle verweisen möchten. Sie stellte den Versuch dar, durch Ersetzung des Hangbegriffes und durch Streichung der Behandlungserfolgsprognose eine größere Zahl der angesprochenen spezifischen Herausforderungen rund um § 64 StGB aufzugreifen. Der Gesetzgeber hat sich erwartungsgemäß für die vorsichtigere Reform entschieden, und die Zukunft wird zeigen, ob die damit verfolgten Ziele erreicht werden. In jedem Falle besteht die Notwendigkeit einer umfassenden Evaluation der Neuregelung, die sich nicht auf eine Erhebung der Anordnungs- und Unterbringungszahlen beschränkt.

Andere Reformansätze und deren Einordnung

Gilt insofern die Gegenthese, dass andere – zumeist radikalere Vorschläge – die bessere Alternative gewesen wären? Aus unserer Sicht nicht unbedingt. Dies wird bei der folgenden Analyse der entsprechenden Vorschläge deutlich.

DGPPN-Vorschlag zu § 64 StGB

Den von der DGPPN vorgelegten Entwurf zeichnet aus, dass dem Straftäter ein proaktiver Part zugesprochen wird (Müller et al. 2021). Für die Anordnung forensischer Suchbehandlung sei grundsätzlich die Einwilligung des Betroffenen erforderlich, bzw. dieser solle die Unterbringung selbst beantragen. Aufnahme in eine „Forensische Klinik für Abhängigkeitserkrankungen“ (dieser Begriff solle die „Entziehungsanstalt“ ersetzen) finden demnach nur selbstbestimmungsfähige und behandlungsmotivierte Straftäter. Der Entwurf sieht weitere Neuerungen vor: Der Hangbegriff wird gestrichen, und anstelle des Hanges müsse eine nach der gültigen Internationalen Klassifikation definierte Abhängigkeitserkrankung i. S. einer mindestens mittelgradigen Substanzkonsumstörung bzw. psychischen oder Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen vorliegen. Die Frage der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt bleibt irrelevant. Bereits im Strafvollzug bzw. in anderen vorangehenden Freiheitsentziehungen oder Bewährungszeiten solle der Betroffene durch Teilnahme an Suchtberatungsangeboten für mind. sechs Monate seine Motivation unter Beweis stellen.

Wie bereits an anderer Stelle ausführlicher dargestellt (Querengässer et al. 2022b), sehen wir diesen Vorschlag aus verschiedenen Gründen kritisch. Positiv zu sehen sind die angemahnte Begriffsänderung und die deutlichere Konturierung der geforderten Konnexität zwischen Sucht und Delinquenzneigung. Gegen den erfolgten Paradigmenwechsel, dass die Zustimmung des Straftäters notwendig sei, lassen sich jedoch verschiedene Argumente ins Feld führen.

Aus therapeutischer Sicht erscheint es fraglich, bei Menschen mit Suchterkrankungen eine stabile Therapiemotivation als Voraussetzung zu fordern, weil eine ambivalente Motivationslage eines der Kernsymptome von Sucht darstellt – und Motivation in unserem Verständnis per se ein zeitvariables und vielschichtiges Konstrukt ist, das durch eine solche Forderung stark verkürzt würde. Aus ethischer Sicht kann zumindest die Frage gestellt werden, ob es nicht auch aus individualethischen Erwägungen das „kleinere Übel“ darstellt, gerade jenen Menschen sehr aktiv Unterstützung anzubieten, die absehbar in einem andauernden Kreislauf aus Delinquenz und Inhaftierung festzustecken drohen. Schließlich stellt sich aus normativer Sicht die Frage, wieso ein im Großen und Ganzen wirksames spezialpräventives Instrument „ohne Not“ aus der Hand gegeben und ein (weiteres) Ungleichgewicht im Sanktionengefüge geschaffen werden muss. Auf praktischer Ebene hätte eine Umsetzung des DGPPN-Vorschlages eine deutliche Verschiebung der Behandlungsbedarfe in den Justizvollzug zur Folge. Inwiefern dieser in der Lage ist, entsprechende Angebote zu stellen und auszubauen, bleibt unbeantwortet (s. dazu auch unten).

Das Positionspapier der DGSP

Noch radikaler mutet das Positionspapier der DGSP an (Feißt et al. 2022). Es schlägt vor, die §§ 63, 64 und 20, 21 StGB komplett zu streichen. Die Gesundheitsversorgung der sich im Freiheitsentzug befindenden Personen solle von den Ärzten und Diensten am Ort wahrgenommen werden. Entsprechend würden auch im Freiheitsentzug befindliche Personen in die Sozialversicherungen aufgenommen. Einrichtungen des Maßregelvollzugs sollten zu solchen des Strafvollzugs werden, was auch bedeutet, dass bisherige Beschäftigte des MRV in den Justizvollzugsdienst wechseln – oder zu Mitarbeitenden in den Gesundheits- und Sozialdiensten am Ort des Vollzugs würden. Zugrunde liegt die Haltung, dass künftig allein der hoheitlich tätige Staat für die Sicherung der Verurteilten und den Schutz der Allgemeinheit zuständig sein solle und die Psychiatrie von hoheitlichen Aufgaben und Schutzpflichten entbunden werde.

Zwar würde die Umsetzung des Vorschlags die Komplexität des Sanktionensystems in der Tat radikal vereinfachen, doch ginge sie mit vielen Implikationen einher, die auf verschiedenen Ebenen weitreichende Folgen haben würden. Der Vorschlag sieht (analog zum DGPPN-Entwurf) ebenfalls den Paradigmenwechsel vor, dass die Zustimmung des Straftäters zu jeder Form der Behandlung (bzw. dazu, dass ihm überhaupt ein Behandlungsangebot gemacht werden dürfe) notwendig wird. Im Vergleich zum DGPPN-Vorschlag geht er aber noch einen Schritt weiter und läutet, etwas zugespitzt formuliert, das Ende der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie als eigenverantwortliches Behandlungsfach ein. Dies und zahlreiche eher praktische Anschlussfragen, etwa hinsichtlich der „Anpassung“ des allg. Gesundheitssystems, stellen aus unserer Sicht die größte Hürde dar, dass die geforderte komplette Abschaffung der §§ 20, 21, 63, 64 StGB mehrheitsfähig wird.

Plädoyer der Arbeitsgruppe Sanktionenrecht der Friedrich-Ebert-Stiftung

Dass sowohl der Vorschlag der DGPPN als auch jener der DGSP zu einer deutlichen Zunahme von Suchtbehandlungen führen würde, die im Haftsetting angeboten werden müssten, veranlasste die Friedrich-Ebert-Stiftung zu ihrem „Plädoyer für ein Gesamtkonzept Suchtbehandlung im Strafvollzug“ mit dem programmatischen Titel „§ 64 StGB zu reformieren reicht nicht“ (Arbeitsgruppe Sanktionenrecht 2022). Das Plädoyer macht sich dafür stark, die, wie es dort heißt, „künstliche binäre Grenze zwischen den beiden fixen Kategorien“ MRV und Strafvollzug aufzuweichen. Mittelfristig solle § 64 StGB komplett überflüssig gemacht werden. Dies solle durch einen Ausbau der Suchtbehandlung im Haftsetting geschehen. „Die quantitative Entlastung der Entziehungsanstalten muss zur Folge haben, im Strafvollzug einen größeren Wert auf Suchtbehandlung zu legen und mehr Behandlungsplätze auch innerhalb des Strafvollzugs bereitzuhalten“ (AG Sanktionenrecht 2022, S. 4). Bestehende MRV-Kliniken sollten dem Justizvollzug zugeordnet werden und Inhaftierte mit einer Suchtproblematik dann in diese Behandlungseinrichtungen überwiesen werden können. Die konkrete Ausgestaltung solle im Rahmen der landesspezifischen Vollzugsgesetze erfolgen – und damit analog zur Vorgehensweise der sozialtherapeutischen Anstalten (SothA).

Grundsätzlich positiv erscheint an diesem Vorschlag, dass nicht nur die zentrale Rolle der Suchtbehandlung im Haftkontext erkannt wurde, sondern auch die Notwendigkeit, diese auszubauen. Auch der mutmaßlich besseren Durchlässigkeit zwischen Behandlung und „bloßer“ Strafhaft kann etwas abgewonnen werden. Doch würde diese auch mit großen Nachteilen einhergehen, die sich bereits jetzt im Kontext der SothA-Behandlungen zeigen: Es sind nicht mehr erkennende Gerichte, die eine Behandlungsnotwendigkeit feststellen, sondern nachgeschaltete Institutionen. Die Folge, dass zukünftig Landesgesetze die Voraussetzungen für eine Suchtbehandlung im Strafvollzug regeln würden, lässt nicht erwarten, dass die ohnehin bestehenden regionalen Unterschiede verringert würden. Zuletzt sei erwähnt, dass der Entwurf zwar eine „Verbesserung der Ressourcen und des Zugangs zur Suchttherapie im Strafvollzug“ anmahnt. Zugleich schweigt er sich darüber aus, woher die wohl zusätzlich benötigten Finanzmittel stammen könnten. Selbst wenn es langfristig zu einer Abschaffung bzw. Umwidmung der bisherigen MRV-Kliniken gem. § 64 StGB kommt, stehen die mutmaßlich frei werdenden Ressourcen kurz- und mittelfristig noch nicht zur Verfügung.

Diskussion

Interessanterweise sprechen sich alle alternativen Reformvorschläge für eine Abschaffung (bzw. im Fall der DGPPN für eine drastische Reduktion des „Zuständigkeitsbereichs“) des § 64 StGB aus. Dies steht im deutlichen Widerspruch zur tatsächlich erfolgten Novelle, die eher der Haltung entsprungen zu sein scheint, das bestehende Regelungsgefüge möglichst behutsam zu ertüchtigen. In der Tat erkennen wir bei den Alternativentwürfen allesamt eine gewisse Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten – um ein weiteres Sprichwort zu bemühen. Zwar würden sämtliche Probleme des § 64 StGB gelöst, wenn es diesen nicht mehr gäbe. Zahlreiche neue Probleme würden dadurch jedoch geschaffen und Erhaltenswertes gleich mitentsorgt.

Der Vorstoß, forensische Suchtbehandlung von der Zustimmung des Betroffenen abhängig zu machen, beruft sich u. a. auf zwei der Kernprinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention, nämlich Autonomie und Selbstbestimmung. Trotz unserer geschilderten kritischen Haltung erkennen wir die Bedeutung der Argumente der Befürworter einer Zustimmungslösung an: In allen anderen Bereichen der Medizin stelle die Einwilligung grundsätzlich einwilligungsfähiger Patienten die Grundlage der Behandlung dar. Die bisherige Praxis widerspreche somit ethischen und menschenrechtlichen Grundlagen ärztlichen Handelns deutlich. Die Diskussion um Selbstbestimmung im forensischen Behandlungskontext kann an dieser Stelle nicht erschöpfend dargestellt werden. Wir sind aber zuversichtlich, dass sie andernorts weitergeführt werden wird. Aus unserer Sicht sollten dabei die folgenden Fragen nicht außer Acht gelassen werden: Ist die Erwartung an eine verurteilte Person, sich Behandlungsangebote der sprechenden Medizin machen zu lassen, ethisch und rechtlich gleichzusetzen mit dem Zwang zu einer medikamentösen Behandlung? Wird in der aktuellen Debatte die Möglichkeit, einen Antrag auf Erledigung der Unterbringung zu stellen, die jedem Untergebrachten gem. § 64 StGB jederzeit offen steht, ausreichend gewürdigt? Lässt sich aus der UN-Behindertenrechtskommission nicht ebenso ableiten, dass es eine Benachteiligung von Straftätern, die wegen ihrer Substanzkonsumstörung delinquent geworden sind, darstellen würde, wenn sie keine spezifische Behandlung erführen? Mit anderen Worten: Wenn die in der UN-Behindertenrechtskommission genannten Prinzipien der Autonomie und Selbstbestimmung im Einzelfall im Widerspruch zu ihrem Hauptziel, der Inklusion in die Gesellschaft, stehen, wie ist dieses Dilemma sub specie des Maßregelrechts und einer legitimen Kriminalprävention aufzulösen?

Zu forensischer Suchtbehandlung existieren nur wenig Wirksamkeitsforschung und geringe empirische Evidenz (Völlm und Cerci 2021). Doch das, was an empirischen Befunden vorliegt, passt aus unserer Sicht nicht so recht zu den Reformvorschlägen. Die aktuelle Form einer Behandlung gem. § 64 StGB mag zwar mit vielen Problemen einhergehen und von einem wie auch immer gearteten Ideal entfernt sein. Sie stellt im Großen und Ganzen jedoch ein effektives Mittel der Gefahrenabwehr dar. Zumindest lassen sich etwa die Ergebnisse der sog. Essener Evaluationsstudie (Schalast 2019) trotz methodischer Einschränkungen und Divergenzen in der Interpretation der Befunde als Wirksamkeitsbelege für Behandlungen gem. § 64 StGB deuten. Auch auf der Grundlage internationaler Befunde hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Organisationsform einer therapeutischen Gemeinschaft die effektivste Behandlungsform von Suchtproblemen im forensischen Kontext darstellt (Doyle et al. 2019; Magor-Blatch et al. 2014; Perry et al. 2019). Inwiefern es Haftanstalten gelingt, die Behandlung als therapeutische Gemeinschaft zu organisieren, ist aus unserer Sicht fraglich. Vor dem Hintergrund der – im Vergleich zu einer Klinik – anderen institutionellen Identität kann sogar angezweifelt werden, ob dies im Rahmen einer der JVA „zugeordneten“ Behandlungsabteilung oder einer „angegliederten“ Suchtstation unter justizvollzuglicher Gesamtleitung gelingt.

Neben diesen Erwägungen hinsichtlich des Könnens sollte auch die Ebene des Wollens nicht außen vorgelassen werden. Die fehlende Einbeziehung des Justizvollzugs bei der Ausarbeitung der Regelungsvorschläge ist den sämtlichen Entwürfen anzumerken und in der Sache problematisch. Dasselbe gilt zwar auch für das Gesetzgebungsverfahren im Vorfeld der nunmehr verabschiedeten Neuregelung, doch würde jeder einzelne der drei alternativen Entwürfe mutmaßlich zu einer deutlich stärkeren Verschiebung der Behandlungsbedarfe in den Justizvollzug führen. Umso wichtiger wäre dessen Beteiligung. Denn ein rechtlich stimmiges, kriminalpräventiv schlagkräftiges und grundrechtsschonendes Konzept kann nur gelingen, wenn in tiefgreifende Systemänderungen alle Beteiligten frühzeitig und umfassend einbezogen werden.

Fazit und Ausblick

Ob durch die erfolgte Novelle des § 64 StGB die Probleme der forensischen Suchtbehandlung (alle) gelöst werden, erscheint aufgrund ihrer zaghaften Ausgestaltung zweifelhaft. Zugleich besteht bei den anderen, „radikaleren“ Reformansätzen die Gefahr, nicht nur die Probleme forensischer Suchtbehandlung gem. § 64 StGB zu lösen, sondern auch deren Stärken zu unterminieren und neue Probleme zu schaffen.

Anstelle eines Lavierens zwischen „Schönheitskorrekturen“ an einzelnen Vorschriften auf der einen und tiefgreifenden Paradigmenwechseln auf der anderen Seite wäre es aus unserer Sicht an der Zeit für eine grundsätzliche und in sich stimmige Neuaufstellung des Sanktionenrechts in seiner ganzen Breite. Wir denken, dass eine entsprechende Diskussionsagenda mindestens die folgenden Punkte umfassen sollte: die Revision des Konzepts der Schuld(un)fähigkeit zum Tatzeitpunkt als alleiniges Kriterium der Weichenstellung, die Schaffung differenzierterer Sanktionsmöglichkeiten auf Ebene des Strafrechts (darunter ambulanter oder teilstationärer Behandlungsmöglichkeiten), die Koppelung aller Behandlungsmaßregeln an zeitliche Höchstfristen und an die Voraussetzung der Behandelbarkeit sowie die Schaffung bedarfsgerechterer und leichterer Übergangsmöglichkeiten zwischen Haft und Maßregelvollzug.

Eine solche Neuordnung sollte gemeinsam mit allen beteiligten Professionen und Interessengruppen erfolgenFootnote 4, von den faktisch bestehenden Besserungspotenzialen des Einzelnen und den Sicherungsbedürfnissen der Allgemeinheit ausgehen, empirische Befunde der Wirksamkeitsforschung einbeziehen und diese in eine rechtlich stimmige Regelungsarchitektur überführen.