Einleitung

Angesichts des deutlichen und kontinuierlichen Anstiegs der Anzahl der gemäß § 64 des Strafgesetzbuches (StGB) in einer Entziehungsanstalt untergebrachten Personen war am 22.06.2023 ein Gesetzesentwurf zur Überarbeitung des Sanktionenrechts vom Deutschen Bundestag angenommen worden (Bundesrat 2023). Die Novellierungen von § 64 StGB sowie weiterer, damit zusammenhängender Vorschriften (§ 67 Absatz 2 Satz 3 und Absatz 5 Satz 1 StGB sowie § 463 Absatz 6 Satz 3 Strafprozessordnung [StPO]) traten am 01.10.2023 in Kraft (Bundesministerium der Justiz 2023). Die Maßregelvollzugseinrichtungen hatten zunehmende Überfüllungen beklagt (z. B. Querengässer 2020; Riedemann 2022; Berthold und Riedemann 2022b); die Anzahlen der gemäß § 64 StGB untergebrachten Personen waren bundesweit allein im Zeitraum von 2017 bis 2020 von 4462 auf 5280 angestiegen (Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Prüfung des Novellierungsbedarfs im Recht der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 des Strafgesetzbuches [BL-AG] 2022). Es wurden zudem eine Erhöhung der Unterbringungsdauern und eine Änderung der Klientel beschrieben (z. B. Bezzel et al. 2021; BL-AG 2022; Berthold und Riedemann 2022a; Berthold et al. 2023): Zunehmend fanden sich neben Substanzkonsumstörungen andere schwerwiegende psychiatrische Krankheitsbilder bei den untergebrachten Personen, wie Persönlichkeitsstörungen oder Schizophrenien, denen im Behandlungssetting zu begegnen war; auch konnte eine Zunahme der Anzahlen von Personen, die wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) verurteilt worden waren, und von solchen, bei denen ein hohes kriminelles Potenzial vorlag, verzeichnet werden. Ein weiterer Anlass für die Novellierung war in einem „sachwidrigen Anreiz“ gesehen worden: Unabhängig von einer etwaigen Therapiemotivation konnte eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB für eine straffällige Person bzw. deren Verteidigung bisher auch deshalb attraktiv erscheinen, weil gemäß § 67 Absatz 5 Satz 1 StGB eine Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt im Gegensatz zur Haft leichter erreichbar war (Gesundheitsministerkonferenz 2019, zitiert nach BL-AG 2022). Einen umfassenden Überblick über die gesamte Problemstellung und die Hintergründe der Notwendigkeit einer Überarbeitung von § 64 StGB gibt der Abschlussbericht der BL-AG (2022).

Die Vorschläge zur Novellierung von § 64 StGB zielten im Wesentlichen darauf, dass der juristische Begriff des „Hangs“ präzisiert und der kausale Zusammenhang zwischen Hang und Delinquenz hervorgehoben wird, sowie konkretere Anforderungen an die Erfolgsaussicht der Unterbringung gestellt werden (Deutscher Bundestag 2023). Eine Gegenüberstellung der medizinischen Voraussetzungen bzw. Prüfkriterien in bisheriger und novellierter Fassung, zu denen auch aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht zur Vorbereitung der richterlichen Entscheidung über die Anwendung von § 64 StGB Stellung genommen werden muss, findet sich in Tab. 1. Weitere gesetzliche Änderungen wurden dahingehend vorgenommen, dass die Möglichkeit der Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt an die gleichen Hürden gebunden ist wie im Strafvollzug (BL-AG 2022; für die Kriterien im Einzelnen: § 57 Absatz 2 StGB). Schließlich erfolgte zudem eine Modifikation von § 463 Absatz 6 Satz 3 der Strafprozessordnung (StPO), mit dem Ziel einer sofortigen Vollziehbarkeit der Verschubung einer untergebrachten Person in den Justizvollzug bei richterlichem Beschluss der Erledigung der Maßregel (§ 67d Absatz 5 Satz 1 StGB).

Tab. 1 Übersicht der einzelnen Prüfkriterien der medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen und in der novellierten Fassung

Sowohl für die Kliniken des Maßregelvollzugs (MRV) als auch für die Justizvollzugsanstalten (JVA) ist mit Auswirkungen auf die Belegungen und den Bedarf an Beratungs- und Behandlungsangeboten zu rechnen, was u. a. auch von sozioökonomischer Relevanz sein wird. Insofern interessieren quantitative Einschätzungen dahingehend, in welchem Ausmaß sich die zu erwartenden Veränderungen bewegen werden.

Die Gesamtsituation in den Spannungsfeldern von Politik, Gesellschaft, Rechtsprechung sowie Rechts- und Erfahrungswissenschaften ist jedoch komplex. Beispielsweise ergab sich bislang der Eindruck, dass mehr Unterbringungen gemäß § 64 StGB erfolgten, als dass alle medizinischen Voraussetzungen in den Gutachten im Erkenntnisverfahren bejaht worden waren, sowie dahingehend, dass die tatsächlichen Therapieverläufe sich entgegen der prognostischen Einschätzungen entwickelten. Die Möglichkeit einer validen Einschätzung der Erfolgsaussicht gilt als schwierig und wurde mitunter sogar grundsätzlich in Zweifel gezogen (Berthold und Riedemann 2021; Querengässer und Berthold 2022). Wiederholt waren Untersuchungen zu etwaigen Prädiktoren für eine Erfolgsaussicht entweder im Sinne des Therapieabschlusses oder der Legalbewährung durchgeführt worden (z. B. Gericke und Kallert 2007; Fries et al. 2011; Schalast et al. 2011; Hartl et al. 2015; Übersicht bei Querengässer und Baur 27,28,a, b). Bei Betrachtung der ermittelten Parameter fällt jedoch auf, dass diese bereits aus der Forschung zur Kriminalprognose als allgemeine Risikofaktoren bekannt sind (z. B. niedriges Lebensalter bei erster Straffälligkeit und/oder Indexdelikt, umfangreiche Vordelinquenz, Fehlen von Schul- und Ausbildungsabschlüssen, psychiatrische Komorbidität; Stübner, Werner* et al. in Vorbereitung). Erfolgsaussicht im Sinne einer abgeschlossenen Behandlung ist zudem nicht identisch mit derjenigen einer langfristigen Legalbewährung nach der Entlassung (Querengässer et al. 2015, 2017). Auch unter Inhaftierten im Justizvollzug sind Suchterkrankungen weit verbreitet (Hartenstein et al. 2016; Boksán et al. 2023; Lehmann und Walborn 2023). Mitunter ergab sich bislang der Eindruck, dass Personen mit ähnlichen Grunddaten hinsichtlich Alter, forensischer und medizinischer Anamnese sowie Indexdelikt sowohl im Justizvollzug als auch in einer forensischen Entziehungsanstalt untergebracht werden konnten, und sich diesbezüglich keine hohe Trennschärfe erkennen ließ.

Durch die Novellierung von § 64 StGB sollte zum einen der zuletzt stetig ansteigende Zustrom in den Maßregelvollzug abgebremst werden. Zum anderen war eine Erhöhung der Diskriminierungsfähigkeit für die Unterbringungen in Justiz- bzw. Maßregelvollzug zu erhoffen. Eine empirisch fundierte Annäherung an etwaige quantitative und qualitative Änderungen wäre für beide Systeme von Bedeutung.

Mit der vorliegenden Arbeit sollte daher der Versuch einer Einschätzung unternommen werden, bei welchem Anteil von Personen, die im Querschnitt vor der Novellierung in einer Entziehungsanstalt untergebracht waren, die medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung bejaht würden. Als Hintergrundinformation sollte abgeschätzt werden, in welchem Ausmaß es bisher etwaig zu einer Diskrepanz zwischen schriftlicher gutachterlicher Einschätzung und tatsächlicher Anordnung von § 64 StGB gekommen war. Zu diesem Zweck wurde erfasst, zu welchen Anteilen die medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung in den schriftlichen Gutachten im Erkenntnisverfahren bejaht worden waren. Anhand der Art der Beendigung der Unterbringung (Abschluss oder vorzeitige Erledigung der Maßregel) sollte ferner die mit Novellierung angestrebte höhere Diskriminierungsfähigkeit im Vergleich zur bisherigen Fassung von § 64 StGB überprüft werden.

Methoden

Es wurde eine retrospektive Auswertung der Akten von männlichen Patienten vorgenommen, die gemäß § 64 StGB in der Klinik für Forensische Psychiatrie am Bezirksklinikum Ansbach (Bayern) untergebracht gewesen waren, und deren Unterbringung zwischen dem 01.07.2021 und dem 30.06.2022 beendet worden war. Das Untersuchungskonzept war vorab dem Amt für Maßregelvollzug am Zentrum Bayern Familie und Soziales vorgelegt und von diesem gebilligt worden. Ferner stellten die lokale Ethikkommission der Fakultät für Psychologie und die Datenschutzbeauftragten der FernUniversität in Hagen Unbedenklichkeitsbescheinigungen gegenüber der Untersuchung aus (Aktenzeichen: EA_552_2022).

Die gesamte Stichprobe umfasste n = 70 Patienten (Vollerfassung). Erhoben wurden Basisdaten (Alter, Schul- und Ausbildungsabschluss vor der Unterbringung, MigrationshintergrundFootnote 1), juristische Daten (Zahl der Voreintragungen in das Bundeszentralregister [BZR]Footnote 2, Höhe der Begleitstrafe in Monaten, Anwendung von § 20/§ 21 StGB im Einweisungsurteil, Indexdelinquenz [gravierendstes Delikt]Footnote 3, Status als „Untergebrachter mit besonderem Sicherungsbedürfnis“ [UbS]Footnote 4) sowie medizinische Daten (Haupt- und insgesamt bis zu drei Behandlungsdiagnosen nach ICD-10Footnote 5).

Ferner wurden die jeweiligen schriftlichen Gutachten (GA), die im Erkenntnisverfahren erstellt worden waren, hinsichtlich Bejahungen der vier einzelnen medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung (Tab. 1) analysiert. Es lagen 68 schriftliche GA vor, welche von 19 verschiedenen Sachverständigen (SV) erstellt worden waren (9 SV hatten jeweils ein GA verfasst, 2 SV je 2, 3 bzw. 4 GA, und je ein SV 12, 13 bzw. 16 GA)Footnote 6. Es wurden explizite Bejahungen gezählt; war in den GA keine Festlegung bezüglich des Vorliegens eines bestimmen Kriteriums erfolgt, so wurde nicht von einer Bejahung ausgegangen. Es wurden diese schriftlichen gutachterlichen Äußerungen herangezogen, da nicht in allen Urteilen die entscheidenden mündlichen Einlassungen (Mündlichkeitsgrundsatz, § 33 Abs. 1 StPO) der SV eingehend dargelegt worden waren.

Des Weiteren wurde eine eigene Einschätzung vorgenommen, ob bei denselben Fällen die medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung zu bejahen wären (Tab. 1). Dies war für n = 69 Patienten möglich; ein Patient hatte sich im Erhebungszeitraum lediglich wenige Tage in der Maßregelvollzugseinrichtung befunden, sodass keine ausreichende Informationsbasis vorlag. Die Einschätzungen erfolgten im Vieraugenprinzip durch die Bereichsleitung der EntziehungsanstaltFootnote 7 und die MaßregelvollzugsleitungFootnote 8 unter Anwendung der verschiedenen Richtlinien zur forensischen Gutachtenslehre (u. a. Boetticher et al. 2007, 2019; Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. [AWMF] 2019; Kröber et al. 2019; Stübner, Werner* et al. in Vorbereitung) sowie unter Berücksichtigung der einschlägigen Original- und Übersichtsarbeiten aus der Forschung zu Behandlungsprognose und Therapieerfolg bei Unterbringungen gemäß § 64 StGB (z. B. Gericke und Kallert 2007; Fries et al. 2011; Schalast et al. 2011; Hartl et al. 2015; Schalast 2019; Berthold und Riedemann 2021; Querengässer und Baur 27,28,a, b).

Alle erhobenen Daten wurden für die Gruppe der Patienten, bei denen ein Abschluss der Therapie erfolgt war (n = 32; 46 % der Gesamtstichprobe), und für diejenige, bei der es zu einer Erledigung der Therapie gekommen war (n = 38; 54 % der Gesamtstichprobe), vergleichend betrachtet. Dabei wurden zur erstgenannten Gruppe nur diejenigen Patienten gezählt, deren Unterbringung mit einer bedingten Entlassung gemäß § 67 d Abs. 2 StGB (n = 31) oder dem Erreichen der Höchstfrist bei fehlender Begleitstrafe gemäß § 67 d Abs. 4 StGB (n = 1) beendet worden war. Zur letztgenannten Gruppe wurden sowohl alle Patienten gezählt, deren Unterbringung aufgrund mangelnder Erfolgsaussicht gemäß § 67d Abs. 5 StGB vorzeitig erledigt worden war (n = 31)Footnote 9 als auch Patienten, bei denen eine Unterbrechung der Maßregel zum Zweck des Zwischenvollzugs einer verfahrensfremden Freiheitsstrafe (n = 2) oder eine Änderung der Reihenfolge der Vollstreckung gemäß § 67 Abs. 1 und 3 StGB (n = 5) erfolgt war (Vorgehen orientiert an Schalast et al. 2011).

Die Daten wurden der elektronischen Krankenakte (ORBIS; Dedalus Healthcare Systems Group 2022) sowie dem elektronischen Forensischen Informationssystem (FIS; Freistaat Bayern 2022)Footnote 10 entnommen und mit IBM SPSS Statistics, Version 25 (IBM Corporation 2017), ausgewertet.

Es erfolgte eine deskriptive Auswertung der oben genannten Basisdaten sowie der juristischen und medizinischen Parameter. Des Weiteren wurde die Gruppe der Patienten, bei der es zu einem Abschluss der Behandlung gekommen war, mit derjenigen, bei der eine vorzeitige Erledigung der Therapie erfolgt war, explorativ verglichen, hinsichtlich Gruppenunterschieden bei den Variablen Alter, Anzahl der Voreintragungen in das BZR, Höhe der Begleitstrafe und Komorbiditäten (Vorliegen irgendeiner anderen psychiatrischen Störung als Substanzkonsumstörung; Voruntersuchung).

Anhand der Analyse der schriftlichen GA sollte zunächst deskriptiv der Frage nachgegangen werden, ob es mehr Anordnungen von § 64 StGB gegeben hatte, als die medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung bejaht worden waren. Mittels eigener Einschätzung derselben Fälle zur Frage des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung sollte überprüft werden, ob Letztere tatsächlich in weniger Fällen bejaht würden (Hypothese 1).

Es sollte geprüft werden, ob bezüglich einer Bejahung der gesamten bzw. jeder einzelnen der vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung ein Zusammenhang mit der Art der Beendigung der Therapie (Abschluss oder Erledigung) besteht, um Rückschlüsse auf die Diskriminierungsfähigkeit in Bezug auf das Therapie-Outcome ziehen zu können. Es wurde angenommen, dass kein Zusammenhang zwischen der Bejahung aller sowie auch der einzelnen medizinischen Voraussetzungen und der Art der Beendigung der Therapie ermittelt werden kann (Hypothesen 2 und 3).

Analog sollte geprüft werden, ob bezüglich einer Bejahung der gesamten bzw. jeder einzelnen der vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung ein Zusammenhang mit der Art der Beendigung der Therapie (Abschluss oder Erledigung) besteht, was Rückschlüsse auf die Diskriminierungsfähigkeit der Prüfkriterien in ihrer neuen Version in Bezug auf das Therapie-Outcome erlauben dürfte. Da die Novellierung von § 64 StGB in der Absicht einer Präzisierung erfolgt war, wurde angenommen, dass ein Zusammenhang zwischen der Einschätzung und der Art der Beendigung der Unterbringung besteht. Bei einer Bejahung wären eher Abschlüsse der Therapie zu erwarten, und bei einer Verneinung eher vorzeitige Erledigungen (einseitige/gerichtete Testung; Hypothesen 4 und 5).

Ergebnisse

Voruntersuchung

In Tab. 2 findet sich eine deskriptive Analyse der Basisdaten sowie der juristischen und medizinischen Daten der vorliegenden Gesamtstichprobe und eine Aufschlüsselung der Daten nach den Teilstichproben Abschluss und Erledigung.

Tab. 2 Basis-, juristische und medizinische Daten der Gesamtstichprobe (n = 70) mit Aufschlüsselung der Daten nach den Teilstichproben Abschluss (n = 32) und vorzeitige Erledigung (n = 38) der Maßregel

Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Teilstichproben für die Variablen Alter (Mann-Whitney-U-Test: U = 505,000, Z = −1,216, p = 0,224; eine Normalverteilung in Bezug auf das Alter lag nur vor in der Gruppe Erledigung, Shapiro-Wilk-Tests: WAbschluss = 0,876, p = 0,002; WErledigung = 0,950, p = 0,092), Voreintragungen in das BZR (Mann-Whitney-U-Test: U = 278,500, Z = −1,491, p = 0,136; eine Normalverteilung in Bezug auf Voreintragungen in das BZR lag vor nur in der Gruppe Abschluss, Shapiro-Wilk-Tests: WAbschluss = 0,928, p = 0,061; WErledigung = 0,923, p = 0,048) sowie Höhe der Begleitstrafe (unabhängiger t‑Test: t [68] = −1,647, p = 0,104; eine Normalverteilung in Bezug auf die Begleitstrafe war in beiden Gruppen gegeben, Shapiro-Wilk-Tests: WAbschluss = 0,972, p = 0,548; WErledigung = 0,974, p = 0,512). Ein Vergleich der Gruppen hinsichtlich des Vorliegens von psychiatrischen Komorbiditäten mittels Chi-Quadrat-Test erbrachte, dass ein Zusammenhang mit dem Therapie-Outcome gegeben war, χ2 (1, n = 70) = 6,461, p = 0,011, φ = 0,304: Patienten der Gruppe Erledigung wiesen neben der Substanzkonsumstörung bedeutsam häufiger gravierende psychische Störungen auf als Patienten der Gruppe Abschluss.

Hypothese 1

Alle vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung wurden in 31 der 68 schriftlichen GA bejaht (46 %), in einem Fall keine einzige. Bei der eigenen Einschätzung wurden in 24 der 68 Fälle (35 %) alle vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung bejaht, in 19 Fällen (28 %) keine einzige (Abb. 1). Die Veränderung in der Anzahl der Bejahungen aller vier medizinischer Voraussetzungen zwischen bisheriger und novellierter Fassung war gemäß McNemar-Test (verbundene Stichproben) dabei nicht signifikant, χ2 (1, n = 68) = 0,973, p = 0,324.

Abb. 1
figure 1

Anzahl bejahter medizinischer Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung (n = 68 schriftliche Eingangsgutachten) und der novellierten Fassung (eigene Einschätzungen an der Querschnittsvollerfassung)

Hypothese 2

Bei Patienten der Gruppe Abschluss wurden in 15 der 32 schriftlichen GA alle vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung bejaht (47 %), bei Patienten der Gruppe Erledigung in 16 der 36 schriftlichen GA (44 %; Abb. 2). Gemäß Chi-Quadrat-Test bestand kein Zusammenhang zwischen der Bejahung der medizinischen Voraussetzungen in der bisherigen Fassung und dem Therapie-Outcome, χ2 (1, n = 68) = 0,040, p = 0,841.

Abb. 2
figure 2

Anzahl bejahter medizinischer Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung (n = 68 schriftliche Eingangsgutachten), getrennt betrachtet nach Abschluss und Erledigung der Maßregel

Hypothese 3

Bei Vergleich der beiden Gruppen Abschluss und Erledigung in Bezug auf die Bejahung der vier einzelnen medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung in den schriftlichen GA zeigten sich keine Zusammenhänge mit dem Therapie-Outcome, Hang: p = 0,180 (Exakter Test nach Fisher; 2 Zellen der Kreuztabelle hatten eine erwartete Häufigkeit < 5), symptomatischer Zusammenhang: χ2 (1, n = 68) = 0,040, p = 0,841 (Chi-Quadrat-Test), Gefahr: p = 1,000 (Exakter Test nach Fisher; 2 Zellen der Kreuztabelle hatten eine erwartete Häufigkeit < 5), Erfolgsaussicht: χ2 (1, n = 68) = 0,001, p = 0,973 (Chi-Quadrat-Test)Footnote 11. Die Anzahlen der bejahten Einzelkriterien in den Gruppen sind in Abb. 3 ersichtlich.

Abb. 3
figure 3

Vergleiche der Gruppen Abschluss und Erledigung der Maßregel in Bezug auf die Bejahung der vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung (n = 68 schriftliche Eingangsgutachten)

Hypothese 4

Bei Patienten der Gruppe Abschluss wurden bei eigener Einschätzung in 15 der 32 Fälle alle vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung bejaht (47 %), bei Patienten der Gruppe Erledigung in 9 der 37 Fälle (24 %; Abb. 4). Gemäß Chi-Quadrat-Test bestand ein Zusammenhang zwischen der Bejahung aller novellierten medizinischen Voraussetzungen und dem Therapie-Outcome, χ2 (1, n = 69) = 3,847, p = 0,044, φ = 0,236: Bei Patienten der Gruppe Abschluss wurden die medizinischen Voraussetzungen der novellierten Fassung häufiger bejaht als bei Patienten der Gruppe Erledigung.

Abb. 4
figure 4

Anzahl bejahter medizinischer Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung (n = 69 eigene Einschätzungen), getrennt betrachtet nach Abschluss und Erledigung der Maßregel

Hypothese 5

Bei Vergleich der beiden Gruppen Abschluss und Erledigung in Bezug auf die Bejahung der vier einzelnen medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung bei eigener Einschätzung zeigten sich gemäß Chi-Quadrat-Tests Zusammenhänge mit dem Therapie-Outcome bei den Kriterien symptomatischer Zusammenhang, χ2 (1, n = 69) = 4,953, p = 0,024, φ = 0,268, und Gefahr, χ2 (1, n = 69) = 4,512, p = 0,029, φ = 0,256. Marginale Zusammenhänge mit dem Therapie-Outcome fanden sich bei den Kriterien Hang, χ2 (1, n = 69) = 3,037, p = 0,069, φ = 0,210, und Erfolgsaussicht, χ2 (1, n = 69) = 3,016, p = 0,068, φ = 0,209. Demnach lagen bei Patienten der Gruppe Abschluss die medizinischen Voraussetzungen der novellierten Fassung bedeutsam häufiger vor als bei Patienten der Gruppe Erledigung. Die Anzahlen der bejahten Einzelkriterien in den Gruppen sind in Abb. 5 ersichtlich.

Abb. 5
figure 5

Vergleiche der Gruppen Abschluss und Erledigung der Maßregel in Bezug auf die Bejahung der vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung (n = 69 eigene Einschätzungen)

Diskussion

Hauptergebnisse

Wesentliches Ergebnis der vorliegenden Arbeit war, dass bei einer Querschnittvollerfassung von gemäß § 64 StGB untergebrachten Patienten bei lediglich 35 % alle vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung bejaht werden würden. Es zeigte sich, dass dies häufiger der Fall war bei Patienten, deren Therapie regulär abgeschlossen worden war, als bei denjenigen, deren Behandlung vorzeitig erledigt worden war. Auch bei Betrachtung der vier einzelnen medizinischen Voraussetzungen fanden sich Zusammenhänge mit der Art der Beendigung der Unterbringung, wobei bei den Kriterien symptomatischer Zusammenhang und Gefahr die Diskriminierungsfähigkeit zwischen Abschluss und vorzeitiger Erledigung der Maßregel besonders deutlich wurde. Die Befunde weisen darauf hin, dass die Novellierung von § 64 StGB die intendierten Auswirkungen sowohl auf die Anzahl der Patienten als auch das Therapie-Outcome haben könnte.

Als Hintergrundinformation zur Anwendungspraxis der bisherigen Fassung von § 64 StGB wurden die Gutachten im Erkenntnisverfahren ausgewertet. Da über die entscheidenden mündlichen Äußerungen der Sachverständigen im Hauptverfahren („Mündlichkeitsprinzip“) keine vollständigen, systematischen Informationen vorlagen, wurden die schriftlichen Gutachten herangezogen. Es zeigte sich, dass bei der Querschnittvollerfassung in 46 % alle vier medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung bejaht worden waren, was eine Diskrepanz zur Anzahl der tatsächlich erfolgten Unterbringungen implizierte. Darüber hinaus zeigte sich weder insgesamt noch bei den einzelnen medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung ein Zusammenhang mit dem Therapie-Outcome bzw. eine entsprechende Diskriminierungsfähigkeit.

Stichprobenanalyse, Voruntersuchung

Die deskriptive Analyse der untersuchten Stichprobe ergab hinsichtlich der Basis-, juristischen und medizinischen Daten ein ähnliches Verteilungsmuster wie deutschlandweite Untersuchungen zu untergebrachten Personen in Entziehungsanstalten (z. B. Berthold und Riedemann 2021, 2022a). Obwohl an einer einzelnen forensischen Klinik erhoben, darf daher angenommen werden, dass die Daten repräsentativ für diese Klientel sind. Diskrete Unterschiede fanden sich hinsichtlich des Anteils der Patienten, bei denen § 21 StGB zur Anwendung gekommen war (in der vorliegenden Stichprobe vergleichsweise niedrig), und bezüglich der Häufigkeit von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) als Indexdelikt (in der vorliegenden Stichprobe vergleichsweise hoch). Letzteres könnte darauf zurückgeführt werden, dass sich im Einzugsgebiet der forensischen Klinik Ansbach Teile des bayerischen Ballungsraumes Nürnberg befinden, der einen Verkehrsknotenpunkt darstellt, über welchen psychoaktive Substanzen (insbesondere Methamphetamin) eingeführt werden; darüber hinaus liegen in Bayern insgesamt höhere Anordnungszahlen von § 64 StGB im Vergleich zu anderen Bundesländern vor (Traub und Querengässer 2019).

Der Vergleich der beiden Gruppen Abschluss und Erledigung ergab auf deskriptiver Ebene, dass Patienten der Gruppe Erledigung im Durchschnitt jünger waren, seltener über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügten, häufiger Gewalt- und Rohheitsdelikte als Anlassdelikte verübt hatten und mehr aktenkundige Vordelinquenz aufwiesen. Diese Tendenzen könnten dahingehend interpretiert werden, dass es bei Patienten mit höherem allgemeinen kriminalprognostischen Risiko auch eher zu einer Therapieerledigung kam (Endres et al. 2015). Insbesondere der Umstand, dass es bei jüngerem Alter tendenziell häufiger zu einer Erledigung der Therapie kam, könnte für einen größeren Einfluss kriminalprognostisch bedeutsamer als suchtmedizinscher Parameter sprechen: Die Entwicklung einer schweren Substanzkonsumstörung ist wahrscheinlicher bei längerer Konsumdauer, wie dies eher bei einem höheren Lebensalter zu erwarten wäre. In der Gruppe Abschluss waren häufiger Verstöße gegen das BtMG als Indexdelikt sowie höhere Begleitstrafen zu verzeichnen (dies beschrieben auch Berthold et al. 2023). Hierin könnte ein Hinweis auf den „sachwidrigen Anreiz“ (BL-AG 2022) zur Erlangung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gesehen werden, d. h. eine von der Therapie unabhängige Motivationskomponente. Betäubungsmittelhandel, insbesondere in nichtgeringen Mengen, erfordert oftmals eine hohe Organisationsfähigkeit; bei dieser Art von Delinquenz bestehen zumeist eine höhere lebenspraktische und soziale Funktionalität sowie eine geringere Ausprägung der Substanzkonsumneigung. Das höhere Funktionsniveau wiederum kann eine gute Formalanpassung im Therapiesetting erlauben, diese ihrerseits eine höhere Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Therapieabschlusses zum Halbstrafenzeitpunkt. In der Gruppe Erledigung lagen signifikant häufiger psychiatrische Komorbiditäten, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, vor, welche somit als Erschwernis der Durchführung einer forensisch fundierten Suchttherapie gesehen werden können. Nach den Effektstärkekonventionen von Cohen (1988) handelte es sich um einen mittelgradigen Effekt.

Insgesamt decken sich diese Einzelergebnisse der Stichprobenanalyse mit Befunden aus der Literatur (Fries et al. 2011; Schalast 2019; Berthold und Riedemann 2021, 2022a; Querengässer und Baur 2021a), was ebenfalls für eine Repräsentativität der vorliegenden Stichprobe spricht.

Medizinische Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung

Bei Detailauswertung der schriftlichen Gutachten aus den Erkenntnisverfahren zu den medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung fiel auf, dass einzelne Prüfkriterien nie explizit verneint worden waren, allenfalls waren alternative Szenarien entwickelt oder auf die Hauptverhandlung bzw. die juristische Einschätzung verwiesen worden. Insgesamt schien sich somit auch die Gutachtenspraxis in das Gesamtbild der eher zuneigenden Anwendungshäufigkeit von § 64 StGB einzufügen.

Das Kriterium symptomatischer Zusammenhang wurde bei etwa der Hälfte der Fälle (37 von 68, entsprechend 54 %) bejaht, das Kriterium Gefahr bei fast allen Fällen (65 von 68, entsprechend 96 %), was fast einer Zufallserwartung bzw. einer prinzipiellen Bejahung entsprach; es fand sich dabei in keinem Gutachten eine Diskussion, weder der speziell auf eine Substanzkonsumstörung zurückzuführenden noch der individuellen Gefährlichkeit (z. B. ausgehend von einer individuellen Delinquenzhypothese; Boetticher et al. 2019; Kröber et al. 2019). Dies lässt vermuten, dass speziell diesen beiden Kriterien bisher keine große Aussagekraft zugekommen war.

Die Beurteilungen einer Erfolgsaussicht wurden in den Gutachten kaum untermauert, mitunter wurde das Fehlen potenzieller Therapiehindernisse (z. B. einer hirnorganischen Schädigung) aufgeführt. Fachliteratur hierzu wurde in keinem Gutachten herangezogen. Auch diese Befunde, die eine gewisse Ratlosigkeit der forensischen Sachverständigen widerspiegeln könnten, stehen insofern in Übereinstimmung mit der kritischen Diskussion in der Literatur bezüglich der schwierigen Einschätzbarkeit der Behandlungsprognose (Berthold und Riedemann 2021; Querengässer und Berthold 2022).

Die vergleichende Betrachtung der bejahten Kriterien zeigte keine Zusammenhänge mit der Art der Beendigung der Therapie, was auf eine geringe Trennschärfe der medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung hinsichtlich des Outcomes einer Behandlung in einer Entziehungsanstalt hindeutete und somit den zuletzt gesehenen Novellierungsbedarf erneut bestätigte.

Medizinische Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung

Um eine Orientierung zu den potenziellen Auswirkungen der anstehenden Änderungen zu erhalten, war eine eigene Einschätzung zur Frage des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung erfolgt. Dies stellte eine andere Methodik dar als die Analyse der schriftlichen Gutachten bezogen auf § 64 StGB in der bisherigen Fassung. Es wurden zwar dieselben Fälle betrachtet, was eine gewisse Vergleichbarkeit ermöglicht, doch sollten die methodischen Unterschiede bei der Interpretation bedacht werden.

Die beste Diskriminierungsfähigkeit der medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung bezogen auf das Therapie-Outcome fand sich ausgerechnet bei den Kriterien symptomatischer Zusammenhang und Gefahr. Dies erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der geringen Aussagekraft dieser beiden Parameter in der bisherigen Fassung bemerkenswert, sowie angesichts der Tatsache, dass der Passus, dass die Unterbringung einer Person angeordnet werden soll, „wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird“, im Rahmen der Novellierung gar nicht modifiziert wurde. In der zu konstatierenden Abweichung in der Einschätzung könnte sich einerseits der Methodenunterschied offenbaren (s. a. u.). Andererseits ist eine Änderung des Kriteriums Gefahr in der Novellierung doch zumindest implizit gegeben: Nach der Betrachtung des Hangs steht zunächst der symptomatische Zusammenhang im Fokus, demnach die etwaige kausale Verbindung zwischen einer Substanzkonsumstörung (die eine „dauernde und schwerwiegende“ Beeinträchtigung in mindestens einem Lebensbereich erfordert) und dem zur Last gelegten Delikt. Bei der Betrachtung der Gefahr wird sodann auf diese Beziehung („infolge des Hangs“) rekurriert. Insofern zieht die Änderung des Grades des symptomatischen Zusammenhangs (zu „überwiegend“) auch eine Modifikation der Gefahr nach sich: Das Ausmaß desjenigen Teils des Risikos, das auf die substanzbedingte Störung zurückzuführen ist, wird deutlicher, selbst wenn eine genaue Quantifizierung der Anteile nicht möglich ist (zu rechts- und erfahrungswissenschaftlichen Aspekten im Einzelnen: Stübner, Werner* et al. in Vorbereitung).

Auch bei dem novellierten Kriterium der Erfolgsaussicht („… wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist …“) zeigte sich im Gegensatz zu der bisherigen Fassung („… wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht …“) eine bessere Diskriminierungsfähigkeit hinsichtlich des Therapie-Outcome. Insofern zeichnet sich auch hier der durch die Novellierung intendierte Effekt in der vorliegenden Stichprobe ab.

Es fiel bei der eingehenden Beschäftigung mit der Einschätzung des Kriteriums Erfolgsaussicht ein Paradoxon auf: Für einen Therapieerfolg konnten auch dann keine „tatsächlichen Anhaltspunkte“ bestätigt werden, wenn im individuellen Fall die Substanzkonsumstörung zu ausgeprägt imponierte. Es wurde zwar ein Behandlungsbedarf gesehen, dieser stellte sich jedoch als so umfangreich dar, dass selbst die zeitlichen und medizinisch-therapeutischen Möglichkeiten der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als nicht ausreichend erachtet wurden und andere oder zumindest weiterführende Maßnahmen angezeigt schienen (z. B. langfristig soziotherapeutisch oder hochstrukturiert-beschützend).

Einschätzung der potenziellen quantitativen Auswirkungen auf die Zuweisungszahlen

Es muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt für die Einschätzung der sich nach der Novellierung ggf. auftretenden Änderungen unbeantwortet bleiben, welche Einzelkriterien die erkennenden Gerichte zukünftig realiter als die entscheidenden ansehen und inwieweit sie den gutachterlichen Einschätzungen folgen werden. Es waren bei 31 Fällen die medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der bisherigen Fassung und bei 24 in der novellierten Fassung bejaht worden (bei methodischen Unterschieden, wie dargelegt), was theoretisch zu einer Verminderung der Zuweisungen um etwa 22 % führen könnte. Ein etwas anderes Rechenmodell ergibt sich, wenn versucht wird, die Diskrepanz zwischen gutachterlicher Einschätzung und gerichtlicher Beurteilung ebenfalls miteinzubeziehen: In einer – v. a. aufgrund des Mündlichkeitsprinzips nicht gänzlich übertragbaren – Analogie zu der Anordnungspraxis der Gerichte, wie sie in der vorliegenden Untersuchung zu konstatieren war, könnte mit einer ungefähr doppelt so häufigen Anwendung gerechnet werden, als die medizinischen Voraussetzungen bejaht werden (in der vorliegenden Stichprobe: 31 von 68 Fälle). Bei der Einschätzung der medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung waren bei 24 von 68 Fällen alle Kriterien zu bejahen (im Gegensatz zu 31 Fällen im Hinblick auf die bisherige Fassung). Würden analog zum beschriebenen Verhältnis zwischen den Einschätzungen in den schriftlichen Gutachten zu den tatsächlichen Anwendungen von § 64 StGB doppelt so viele Patientinnen und Patienten untergebracht, entspräche dies 48 Fällen, was wiederum zum Ausgangspunkt (68 Fälle) eine Abnahme von rund 30 % darstellen würde. Vorbehaltlich der gegenwärtig nichtauszuräumenden Unklarheiten in Bezug auf die tatsächliche Rechtsprechung und die genannten methodischen Limitierungen ergäbe dies ausgehend von der Bejahung der enger und präziser formulierten medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung demnach eine Abnahme der Zuweisungen von etwa einem Drittel gegenüber dem derzeitigen Stand: Die zu erwartende Abnahme der Zuweisungen dürfte zu spürbaren Veränderungen im klinischen Alltag führen.

Besondere Einflussfaktoren und Interferenzen

Bei der Diskussion der Thematik ist zu bedenken, dass es auf vielen Ebenen zu Beeinflussungen der Entwicklungen von Unterbringungen gemäß § 64 StGB kommen kann, um nur einige zu nennen und aufzuschlüsseln:

Es ist anzunehmen, dass auch die weiteren Paragrafenänderungen, wie beispielsweise der Wegfall der Halbstrafenregelung, Auswirkungen haben werden. Deren Ausmaße sind allerdings gegenwärtig schwer einschätzbar. Erfahrungen aus der gutachterlichen Tätigkeit und aus den Justizvollzugsanstalten legen nahe, dass auch in der bisherigen Situation Straffälligen mitunter eine Behandlung im Maßregelvollzug zu anstrengend ist und nicht gewünscht wird, und sie die Haft vorziehen. Letztendlich scheint diese Entscheidung von vielen, auch sehr subjektiven, Faktoren abzuhängen.

Der Wechsel der diagnostischen Klassifikationssysteme von ICD-10 zu ICD-11 stellt eine Größe dar, die weitere Veränderungen mit sich bringen kann. Es ist eine detailliertere Abbildung von Substanzkonsumstörungen in ICD-11 möglich (gefährlicher Gebrauch, Episode des schädlichen Gebrauchs, schädliches Verhaltensmuster, Abhängigkeit). Die Schwelle des Schweregrads einer Konsumstörung, die dem juristischen Begriff des „Hangs“ in der novellierten Fassung von § 64 StGB zugeordnet werden kann, soll unmittelbar unterhalb einer Abhängigkeit verlaufen (Deutscher Bundestag 2023; Stübner, Werner* et al. in Vorbereitung), d. h. entsprechend ab einem „schädlichen Verhaltensmuster“ nach ICD-11.Footnote 12

Unklar muss gegenwärtig bleiben, wie sich die Erledigungsquoten verändern werden. Bei schwerer erkrankten Patientinnen und Patienten könnte es zu einem Anstieg der Erledigungen kommen; andererseits könnten sich auch gegenregulatorische Mechanismen entwickeln und seitens der Maßregelvollzugskliniken und der Strafvollstreckungskammern höhere Hürden für eine Erledigung der Therapie angelegt werden.

Bei psychiatrischen Erkrankungen allgemein, insbesondere aber bei Suchterkrankungen, kommt es sehr häufig zu dissimulierend/beschönigenden, aber auch zu simulierend/aggravierenden anamnestischen Angaben. Dies erklärt sich beispielsweise aus Scham- und Schuldgefühlen oder auch aus dem Versuch, Substitute oder andere Medikamente zu erhalten. Alleine diese Mechanismen erschweren nicht selten die diagnostischen Einschätzungen der Störungsausmaße. In forensischen Kontexten kommen weitere Interferenzen hinzu, wie beispielsweise Attribuierungen, Projektionen und Externalisierungen eigener schuldhaft erlebter Handlungen, kriminell oder psychopathisch motivierte Verschleierungen oder sonstige bewusstseinsnahe oder -ferne Bestrebungen, Entwicklungen in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen (Endres und Breuer 2014).

Die verteidigenden Rechtsanwälte sind gehalten, im Strafverfahren das Beste für ihre Mandanten zu erkämpfen; dem Eindruck nach ergibt sich aus der Halbstrafenregelung und dem Lockerungsprozedere der forensischen Kliniken eine hohe Motivation, im Erkenntnisverfahren auf die Unterbringung gemäß § 64 StGB hinzuwirken. Bei den Gerichten dürften angesichts des legitimen Bemühens um Revisionssicherheit das Vorliegen der „Soll-Vorschrift“ und der weiten Interpretationsspielräume von § 64 StGB auch zukünftig eine Rolle bei der Anordnung spielen.

Für Sachverständige besteht die Verpflichtung zu Neutralität und Unabhängigkeit, dennoch sind auch sie verschiedenen, darunter den genannten systembedingten, Einflüssen unterworfen. Maßregelvollzugseinrichtungen wiederum beziehen ihre Daseinsberechtigung aus den zugewiesenen Patientinnen und Patienten, haben jedoch mit Komplikationen bei Überfüllung zu kämpfen und ebenso bei Vorherrschen von Klientelen, deren Kriminalität gegenüber Substanzkonsumstörungen klar dominiert.

All diese Strömungen und berechtigten Interessen sind wiederum ihrerseits eingebettet in dynamische gesellschaftspolitische Kontexte und ökonomische Interessen, die wiederum von vielen anderen Faktoren beeinflusst werden, und können mit diesen und untereinander in verschiedensten Weisen interferieren. Die vorliegende Thematik ist daher komplex und steten Änderungen unterworfen, was wissenschaftliche Untersuchungen und Überlegungen verkompliziert.

Schließlich liegen noch keine Kenntnisse dahingehend vor, ob die novellierte Fassung von § 64 StGB langfristig auch einen günstigen Einfluss auf die kriminellen Rezidivraten haben wird. Der Erhalt dieser Informationen wäre erstrebenswert im Hinblick auf die Einschätzung langfristiger Therapieerfolge und den kriminalpräventiven Nutzen der Unterbringung, würde allerdings einen anderen methodischen Ansatz, eine größere Stichprobe und eine längere Beobachtungszeit erfordern. Eine derartige Untersuchung wird daher erst einige Jahre nach Implementierung der Gesetzesnovellierung durchgeführt werden können.

Limitationen und Stärken

Es handelte sich im Vorliegenden um Auswertungen von Daten lediglich einer Maßregelvollzugseinrichtung. Vergleiche mit bundesweiten Erhebungen zeigten allerdings hinsichtlich basisdemografischer, juristischer und medizinischer Merkmale ähnliche Verteilungen, sodass von einer Repräsentativität für die Gesamtpopulation von untergebrachten Personen in Entziehungsanstalten ausgegangen werden kann. Zudem handelte es sich um eine Vollerfassung in einem Einjahresquerschnitt und somit um eine feinmaschige Datenstruktur (keine Stichprobenziehung).

Im Maßstab epidemiologischer Studien lag eine verhältnismäßig kleine Fallzahl vor. Es ist anzunehmen, dass die gefundenen Zusammenhänge v. a. aufgrund der vorliegenden Stichprobengröße nur kleine Effektstärken erreichten (orientiert an Cohen 1988). Die Problematik der beschränkten Fallzahlen, der seltenen Ereignisse und des besonderen Schutzes der Gruppe, der hohe Anforderungen an Studien impliziert (u. a. hinsichtlich Ethik und Datenschutz), stellen ein Spezifikum der forensischen Psychiatrie dar, das in nahezu allen Untersuchungen dieses Fachgebietes als methodische Limitierung zum Tragen kommt (z. B. Stübner 2022).

Auf Besonderheiten der Datengewinnung, aus denen sich Einschränkungen der Vergleichbarkeit der gutachterlichen Einschätzungen ergaben, wurde bereits hingewiesen.

Hinsichtlich des Teils der hier vorgestellten Untersuchung, der die Beziehung der eigenen Einschätzung der medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung zu dem Outcome der Therapie betraf, kann methodisch angesichts der Ex-post-Perspektive mit Kenntnis des realen Behandlungsverlaufs ein Bias nicht ausgeschlossen werden. Es waren jedoch auch Fälle zu verzeichnen, bei denen eine Erfolgsaussicht zu verneinen war, es aber zu einem Abschluss der Therapie gekommen war und umgekehrt.

Insgesamt kann bezüglich der eigenen Einschätzung der medizinischen Voraussetzungen zur Anwendung von § 64 StGB in der novellierten Fassung von einer hohen Datenqualität ausgegangen werden (sehr sorgfältige und detaillierte Auswertung, Erfahrung der Rater, Einheitlichkeit aller Einschätzungen durch dieselben Beurteilenden im Vieraugenprinzip, Orientierung an den gängigen Richtlinien der Gutachtenslehre, Einbeziehung aktueller Literatur).

Nach gegenwärtigem Kenntnisstand sind bisher noch keine Arbeiten zu dem speziellen Thema verfügbar. Es handelt sich jedoch um einen Gegenstand von großer klinischer Relevanz und von ökonomischer und gesellschaftlicher Bedeutung.

Fazit und Ausblick

Auf Basis des vorliegenden Versuchs einer ersten empirischen Annäherung darf angenommen werden, dass die Novellierung von § 64 StGB die intendierten Auswirkungen auf die Zuweisungszahlen und die Trennschärfe bezüglich einer Therapieerfolgsaussicht haben kann. Unter Vorbehalt – nämlich auf Basis einer angesichts der komplexen Situation nur sehr vorsichtig zugrunde zu legenden Extrapolation – erscheint ein Rückgang der Anordnungen von § 64 StGB um bis zu ein Drittel möglich. Für die Kliniken dürfte es nicht nur zu einer Erleichterung angesichts des Zuweisungsrückganges kommen, sondern auch zu einem höheren Anspruch an die Behandlungserfordernisse: Es ist anzunehmen, dass es sich bei den zukünftig in Entziehungsanstalten untergebrachten Personen um deutlich kränkere Patientinnen und Patienten handeln wird. Der Beratungs- und Behandlungsbedarf von Straftäterinnen und Straftätern mit Substanzgebrauchsneigung, bei denen die medizinischen Voraussetzungen für eine Anordnung von § 64 StGB nach der Novellierung nicht mehr erfüllt sind, wird durch andere Systeme, wie diejenigen des Justizvollzugs, zu übernehmen sein.