Vielleicht hat dieses Heft schon vor dem ersten Hineinblättern für Stirnrunzeln gesorgt: Warum sollte Prostitution ein „Schwerpunktthema“ für die Forensische Psychiatrie, Psychologie oder Kriminologie sein? Ist Prostitution denn überhaupt ein „Fall“ für die Forensik? Oder sollte dieser Gedanke – schon mit Rücksicht auf die Gefahr einer Kriminalisierung – gar nicht erst in den Raum gestellt werden?

Mit Fragen zur Prostitution ließe sich wahrscheinlich ein ganzes Heft füllen, erscheint doch schon diskutabel, ob „Prostitution“ überhaupt ein angemessener Begriff ist. Wir haben uns für diese Bezeichnung des Schwerpunktthemas entschieden, weil auch der Gesetzgeber den Begriff Prostitution verwendet, wobei er ihn auf die Vornahme von „sexuelle[n] Handlungen gegen ein vorher vereinbartes Entgelt“ bezieht – so die Umschreibung der Prostitution in § 1 des „Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten“ (Prostitutionsgesetz). Zwar ist auch die Begriffswahl des Gesetzgebers von zahlreichen Vorannahmen geprägt; ein völlig werturteilsfreier Begriff steht jedoch nicht zur Verfügung. Und weil das Gesetz in einem demokratischen Gemeinwesen gesellschaftliche Mehrheiten abbildet, schien uns eine Orientierung daran geeignet.

Nun ist damit noch kein Grund dafür benannt, warum Prostitution als Schwerpunktthema für dieses Heft ausgewählt wurde. Auch erhöht den Rechtfertigungsdruck dafür, dass sich – soweit ersichtlich – bisher sonst niemand dazu veranlasst sah, das Verhältnis von Prostitution und Forensik wissenschaftlich-systematisch auszuloten, was als Indiz dafür in Betracht kommt, dass diese Fragestellung abwegig sein könnte. Jedoch müssen Verbindungen zwischen Prostitution und Forensik nicht erst künstlich herbeigeredet werden: Insbesondere wird Prostitution immer wieder in die Nähe der Kriminalität gerückt und die Kontroversen um strafrechtliche Aspekte der Prostitution – aktuell v. a. um die sogenannte Freierstrafbarkeit – haben wieder an Intensität gewonnen.

Wer sich in solche und andere Debatten hineinbegibt, begegnet auf Schritt und Tritt Tatsachenfragen – etwa nach den tatsächlichen Wirkungen von Verboten oder den Folgen von strafbaren Handlungen für die davon Betroffenen. Viele dieser Fragen stellen sich in der Forensik auch in anderen Zusammenhängen – so insbesondere die nach der Entscheidungsfreiheit, einem der Hauptthemen in der Forensik: Wie „frei“ kann eigentlich die Entscheidung sein, eine Vornahme von sexuellen Handlungen gegen Entgelt anzubieten? Es gibt also Hinweise darauf, dass Prostitution auch die Themenstellungen der Forensik berührt, was das jetzige Heftschwerpunkt – in einem ersten Zugriff – genauer ausleuchten möchte.

Der erste Beitrag dazu mit dem Titel „Prostitution und Kriminologie“ widmet sich der grundsätzlichen „Zuständigkeitsfrage“, indem er – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Gefahr von Stigmatisierungen – u. a. diskutiert, inwieweit mit Prostitution im Zusammenhang stehende Verhaltensweisen als „Verbrechen“ anzusehen sind. Ein (straf-)juristisches Debattenfundament liefert Joachim Renzikowski mit seinen Ausführungen zu „Prostitution und Strafrecht“. Sie zeichnen von der aktuellen Rechtslage in Deutschland ein detailliertes Bild, das Grundstrukturen der rechtlichen Vorgaben, ihre (rechtsethischen) Hintergründe und auch den derzeit viel diskutierten Reformbedarf sichtbar macht.

Es folgen zwei Beiträge, die aktuelle empirische Untersuchungen zum Thema Prostitution zum Gegenstand haben: Robert Küster und Tillmann Bartsch berichten von den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Situation von in der Prostitution tätigen Menschen während der Coronapandemie. Diese Studie gewährt nicht zuletzt Einblicke in die Auswirkung von Verboten der Prostitutionsausübung. Denn als Teil der Coronaschutzmaßnahmen durften „Prostitutionsstätten“ (so der amtliche Begriff) während der Pandemie teils gar nicht und teils nur unter strengen Auflagen öffnen, sodass die Coronapandemie – als einer Art von erzwungenem „Quasiexperiment“ – (auch) dazu besondere Beobachtungsmöglichkeiten bot. Ebenfalls der Empirie widmet sich der nachfolgende Beitrag zu der – auf den ersten Blick juristisch anmutenden – Frage, ob die Strafbarkeit des Sexkaufs nach § 232a Abs. 6 StGB „ein gesetzgeberischer Fehlschlag“ ist. Hier geht es um die momentan viel diskutierte „Freierstrafbarkeit“, da der (im Jahr 2016 eingeführte) § 232a Abs. 6 StGB die Vornahme von sexuellen Handlungen gegen Entgelt unter bestimmten Bedingungen unter Strafe stellt. Ob diese Strafdrohung ihren Zweck erreicht, ist die zentrale Frage im jetzigen Beitrag, mit dem erstmals Daten dazu vorgelegt werden.

Keinen Bezug zum Schwerpunktthema hat die daran anschließende Darstellung eines iterativen Forschungsprojekts zu „Qualität und Qualitätssicherung in der strafrechtlichen Begutachtungspraxis“, das beispielsweise Befunde zur prognostischen Treffsicherheit bei einer Orientierung an „Mindestanforderungen“ bzw. „Empfehlungen“ lieferte. Vorgestellt werden 6 unabhängige Teilstudien, in deren Rahmen über 1000 Prognose- und Schuldfähigkeitsgutachten über Sexual- und Gewaltstraftäter retrospektiv analysiert wurden. Es folgt eine Fallvignette zu der Frage, inwieweit bei Vorliegen einer (schweren) genetischen Erkrankung vom Fehlen der Verantwortungsreife bzw. der Schuldfähigkeit auszugehen ist. Dabei wird anschaulich, dass genetische Konstellationen nicht direkt auf ein Tatverhalten schließen lassen. Von ihrer Untersuchung über die Gründe für einen „Therapeutenwechsel in der Sozialtherapie“ berichten Ronja Heintzsch und Anette Weckmann, die dazu Interviews mit 19 Angehörigen der psychologischen Fachdienste aus sozialtherapeutischen Anstalten geführt haben. Bereits im Dezember 2021 wurden in dieser Zeitschrift Forschungsergebnisse zu „Ausmaß und Entwicklung der Messerkriminalität in Deutschland“ vorgestellt, die nach ihrer Veröffentlichung Gegenstand intensiver Debatten waren. Die jetzige Ausgabe enthält erneut einen Beitrag zur „Messergewalt in Deutschland“, der sich an die bereits vorgestellte Studie anschließt und Auskunft gibt über empirische Befunde, die beim Vergleich von Messergewalt und schwerer Gewalt ohne Messereinsatz im Hinblick auf Täter- und Tatcharakteristika erzielt wurden.

Das „Blitzlicht“ von Hans-Ludwig Kröber leuchtet die Neigung zu dissozialem Verhalten und damit eine der zentralen Kategorien in der Forensik – ausgehend von der Zuordnungsordnungsfrage im Möglichkeitsraum zwischen Lebensstil und Pathologie – aus. Stjepan Curic stellt im psychiatrischen Journal Club eine aktuelle Untersuchung zu schweren weiblichen Gewaltdelikten vor, in die alle Täterinnen von versuchten und vollendeten Tötungsdelikten einbezogen wurden, die zwischen 2000 und 2014 in Schweden von staatlicher Seite – in vergleichbarer Weise wie bei einer Schuldfähigkeitsbegutachtung in Deutschland – auf das Vorliegen einer forensisch-relevanten psychiatrischen Störung untersucht wurden. Dass auch alte Debatten Neues hervorbringen können, veranschaulicht der Kriminologische „Journal Club“ von Marleen Orth und Barbara Horten, der sich der Legalisierung von Cannabis widmet. Aktuelle Reformpläne (etwa Bundesministerium für Gesundheit 2023) geben Anlass für eine Befassung mit der Empirie zu Pro- und Contra-Argumenten einer Legalisierung.

Dieser lärmende Streifzug durch die forensische Fachwelt macht am Ende des Hefts vor einem traurigen Ereignis leise Halt: Im März 2023 ist Steffen Lau im Alter von 57 Jahren verstorben. Er hat vorgelebt, was auch dieses Heft wieder vermitteln möchte: fachliche Neugierde, Begeisterung für die Sache und eine Immunität gegen die Vernachlässigung komplexer Hintergründe – gepaart mit Freude am fachlichen Diskurs.