Zusammenfassung
Die zur Tötung eines Menschen angewandte Gewalt bietet mitunter ein Bild, in dem Ausmaß und Intensität der Gewalt derart imponieren, dass dies in Fachliteratur sowie forensischer und kriminalistischer Praxis sprachlich mittels des Begriffs „Overkill“ (deutsch Übertöten) markiert wird. Der sog. Overkill impliziert eine begriffliche Schärfe, die sich aus einer scheinbaren Qualifizierbarkeit der Gewalt und aus einer vermeintlichen Rückführbarkeit der Gewalt auf innere Zustände des Täters speist. Der Verwendung des Begriffs „Overkill“ birgt einige Gefahren in sich, die zu einer Überbewertung des Verletzungsbildes und/oder falschen Kausalannahmen führen könnten. Entsprechend wirft die Verwendung des Begriffs „Overkill“ in kriminalistischer und fallanalytischer Hinsicht erhebliche Probleme auf, die im vorliegenden Übersichtartikel anhand von Studien und konzeptionellen Überlegungen dargelegt und diskutiert werden. Im Ergebnis wird verdeutlicht, dass sich aus der Deklarierung eines Homizids als Overkill kein allzu großer fallspezifischer Erkenntnisgewinn erzielen lässt. Er ist lediglich Ausdruck eines Bestimmungsbestrebens, für das bei einer tiefergehenden Analyse keine einheitlichen objektiven und evidenzbasierten Kriterien herangezogen werden können.
Abstract
The violence necessary to kill a human being can in some cases present a scene of such impressive magnitude and intensity that in the specialist literature as well as in forensic and criminological practice it is linguistically marked by the term overkill. So-called overkill implies a conceptual stridency that is derived from an apparent need to qualify violence and from an alleged ability to attribute the violence to the perpetrator’s inner states. The use of the term overkill contains several risks that could lead to an overestimation of the resulting damage and/or false causal assumptions in investigations. Accordingly, the use of the term overkill raises considerable problems from a criminological and criminal profiling perspective, which are presented and discussed in the following overview article based on research and conceptual considerations. As a result, it is made clear that no great case-specific gain in knowledge can be achieved from declaring a homicide as overkill. It is merely an attempt to further qualify the killing process for which no uniform objective and evidence-based criteria can be used in a deeper analysis. It is argued that the term overkill should not be used in the police context.
Notes
Kritisch anzumerken ist, dass beide Autoren nicht erwähnen, woraus sie auf eine „objektivierende“ Geisteshaltung des Täters gegenüber dem Opfer schließen.
In der Praxis der Operativen Fallanalyse stellt die Bewertung solcher dynamischen Umbrüche innerhalb von Taten eine so häufige Konstellation dar, dass innerhalb der Motivbewertung der Schritt der Prüfung möglicher Eskalationen einen methodischen Standard darstellt (Baurmann und Dern 2006, S. 2643 f.).
Golembiewski (2020, S. 20) legt den Schwellenwert in Anlehnung an die Definition des Crime Classification Manual fest.
Golembiewski definiert Bekanntschaften als: „Täter und Opfer waren einander direkt oder indirekt bekannt, eine Freundschaft bestand nicht. Eine Einordnung des Gegenübers ist zumindest in Ansätzen möglich.“ Grundlage für die Einordnungen bildeten Zeugen- und Beschuldigtenaussagen (Golembiewski 2020, S. 28).
In Fällen, in denen der Täter zum Zeitpunkt der Entdeckung der Leiche bekannt war, oder in Fällen, in denen der Gerichtsmediziner in einem Prozess ausgesagt hatte, lagen Informationen über den Beziehungsstatus und damit zusammenhängende Details vor (n = 85 Fälle).
Unter „intrafamilial“ zählen die Autoren verwandtschaftliche Beziehungen (Eltern, Großeltern und Geschwister) sowie zusammenlebende verheiratete und unverheiratete Partner. Bekanntschaften werden als Beziehungen aufgefasst, in denen Opfer und Täter mehr als einmal interagiert haben, aber keine intime Beziehung eingegangen sind (Last und Fritzon 2005).
Die für das Coding eingeteilten Verletzungsstufen sind „minimal“ (Code 1), „sufficient to cause death“ (Code 2) und „excessive wounding“ (Code 3). Letztere wird synonym mit „Overkill“ im Sinne von Verletzungen verwendet, die über das für eine Tötung erforderliche oder notwendige Maß des Codes 2 hinausgehen (Last und Fritzon 2005).
Hierzu wird Gewalt gezählt, die der Täter unter Einsatz seines Körpers und ohne Verwendung weiterer Sachen ausübt (Last und Fritzon 2005).
Die Autoren räumen jedoch ein, dass der in den jeweiligen Fällen festgestellte Grad an Expressivität höher liegen kann, da ausschließlich Fälle von Tätern mit psychischen Störungen ausgewählt wurden (Last und Fritzon 2005).
So wird es beispielweise aufgrund der Kleidung des Opfers für den Täter schwierig einzuschätzen gewesen sein, wie hoch der Blutverlust tatsächlich gewesen sein muss, da die Wunden abgedeckt sind und die Kleidung gleichzeitig je nach Textilbeschaffenheit unterschiedliche Mengen an Blut aufsaugen kann.
Hinzu kommt der Einsatz von Waffen, die mit einem Schuss mehrere Verletzungen verursachen, beispielsweise Schrotflinten.
Gemeint ist die Operative Fallanalyse als streng systematisiertes Verfahren zur hermeneutischen Aufschlüsselung von Kriminalfällen, wie sie durch die Dienststellen der Operativen Fallanalyse (OFA) der deutschen Polizei praktiziert wird (Dern 2022).
Dass Ermittler und Fallanalytiker regelmäßig solche Erkenntnisfallen kennen, bedeutet nicht, dass die Problematik als solche nicht vorhanden wäre. Wie Reichertz (1991; 2006) gezeigt hat, bieten hier interindividuelle Unterschiede bezüglich der Typisierungsneigung letztlich ein Einfallstor für solche Formen der Gefährdung von Erkenntnis.
Dieser Begriff, der (nichtexistente) verlässliche Maßstäbe impliziert, schränkt die für das fallanalytische Verstehen unverzichtbare Unvoreingenommenheit (Dern 2022) ein, indem er mit potenziell fatalen heuristischen Folgen Motive präsupponiert.
Ein als sadistisch beschreibbares Verhalten erfolgt in der Regel im Rahmen dezidierter Handlungsschritte eines Täters, der Entschlüsse und Ausführungen im Sinne eigener Bedürfnisse steuern kann. Er wird daher nur in Ausnahmefällen den Eindruck eines „Overkill“ hervorrufen.
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Miketta, F., Okulicz-Kozaryn, M. & Dern, H. „Overkill“ – Wenn die Übertötung zur Überbewertung führt. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 17, 218–228 (2023). https://doi.org/10.1007/s11757-023-00769-5
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DOI: https://doi.org/10.1007/s11757-023-00769-5
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- Tötungsabsicht
- Verletzungsbild
- Verletzungsschwere
- Operative Fallanalyse
- Tötungsdelikte
- Täter-Opfer-Beziehung