Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass in Gefängnispopulationen die Prävalenz für die Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich erhöht ist und bei ungefähr 20 % liegen soll (Young et al. 2015). Ebenso ist eine erhöhte Rate an komorbiden psychischen Störungen mehrfach beschrieben und festgestellt wurden. Während die medikamentösen Empfehlungen grundsätzlich klar sind, nämlich dass Stimulanzien als Mittel der ersten Wahl bei ADHS zum Einsatz kommen sollten, ist der Kliniker in der gefängnispsychiatrischen Tätigkeit durchaus regelmäßig mit problematischen Situationen konfrontiert, wie beispielsweise der Weitergabe des Präparates an Dritte oder einer missbräuchlichen Einnahme.

Gegenwärtig ist die Anzahl an Studien zur Effektivität einer ADHS-Therapie durch Stimulanzien im spezifischen Gefängnissetting überschaubar, insbesondere was randomisierte kontrollierte Designs betrifft. Dieser Thematik nehmen sich Asherson et al. in ihrer aktuellen Studie, die jüngst im British Journal of Psychiatry publiziert wurde, an (Asherson et al. 2022). Sie präsentieren Ergebnisse der bislang größten doppelblinden, randomisierten, kontrollierten Studie hinsichtlich der Wirksamkeit einer Stimulanzientherapie im Gefängnissetting.

In ihrer Studie wurden 200 inhaftierte männliche Teilnehmer zwischen dem 16. und 25. Lebensjahr entweder mit einem retardierten Methylphenidat- (n = 101) oder mit einem Placebopräparat (n = 99) über insgesamt 8 Wochen behandelt. Die Diagnosestellung erfolgte nach den DSM-5-Kriterien unter Zuhilfenahme des Barkley Adult ADHD Scale (BAARS) und dem Diagnostic Interview for Adult ADHD (DIVA 2.0). Ausgeschlossen von der Teilnahme wurden Patienten mit schweren depressiven Episoden, Psychosen, bipolaren Störungen, einem IQ unter 60, aber auch Männer, die „drug seeking behavior“ oder „craving“ zeigten, also drogennahes Verhalten und beispielsweise Angaben von Fehlinformationen, um eine bestimmte Medikation zu erhalten.

Der primäre Endpunkt der Studie war der Schweregrad der ADHS-Symptomatik, gemessen mit der Conners Adult ADHD Rating Scale (CAARS-O) von einem Experten, der nicht in die Verabreichung der Medikamente eingebunden war. Daneben wurden andere Dimensionen klinischer Relevanz abgefragt, wie beispielsweise die emotionale Regulationsfähigkeit, die allgemeine Psychopathologie, das Ausmaß wandernder Gedanken oder die Einstellungen zur Gewalt. Verhaltensbeobachtungen wurden ebenfalls durchgeführt, so wurden kritische Ereignisse oder die Teilnahme an edukativen Angeboten als auch individuelle Verhaltensberichte von den Mitarbeiter:innen der JVA berücksichtigt. Zusätzlich wurden der Blutdruck, die Herzfrequenz und die Nebenwirkungen der Medikation wiederkehrend dokumentiert.

Die soziodemografischen und klinischen Eigenschaften der beiden Gruppen waren vergleichbar, wobei auffiel, dass 40 % keinerlei berufliche Qualifikation hatten, 66 % waren zuletzt ohne Arbeit, 75 % erfüllten die Kriterien für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung und für eine Alkoholkonsumstörung und 97 % für eine Drogenkonsumstörung. Ebenso wurden 76 % im Vorfeld nicht mit einer spezifischen ADHS-Medikation behandelt. Diese Gruppenbeschreibung deckt sich mit den klinischen Erfahrungen in der gefängnispsychiatrischen Arbeit aus Sicht des Autors.

Überraschenderweise fanden die Autoren als Hauptergebnis ihrer Studie keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen in Bezug auf die ADHS-Symptomatik nach 8 Wochen medikamentöser Behandlung bzw. Verabreichung einer Placebomedikation. In beiden Gruppen respondierten ca. 48 % der Teilnehmer ähnlich stark (48,3 % vs. 47,9 %), und auch hinsichtlich der anderen gemessenen Dimensionen unterschieden sich die beiden Gruppen nicht signifikant. Interessanterweise haben nur 41,5 % eine hohe Adhärenz aufgewiesen, in Bezug auf die Einnahme der Medikation, definiert als Einnahme der verabreichten Medikation an mindestens 75 % der Tage. Diese im Umkehrschluss relativ häufige Ablehnung der Medikation überrascht vor dem Hintergrund, dass im klinischen Kontext unserer Erfahrung nach vielmehr der Eindruck vorherrscht, die vorstellig werdenden Patienten wollen eher mehr als weniger Medikamente erhalten. Jedoch fanden sich auch bei getrennter Betrachtung nur der Teilnehmer mit einer höheren Medikamentenadhärenz keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Es wurden verschiedene Post-hoc-Analysen durchgeführt, um die Ergebnisse besser einordnen zu können. Auch unter Berücksichtigung der Medikamentenadhärenz, der Dosierung, der Komorbiditäten, der Angaben zum intramuralen Drogenkonsum (nur Selbstangabe), der diagnostischen Sicherheit hinsichtlich des ADHS und des Vorliegens eines Traumas in der Kindheit wurde kein Faktor identifiziert, der den fehlenden Effekt der Methylphenidat- im Vergleich zur Placebomedikation erklären konnte.

Dabei verwundern die fehlenden Gruppenunterschiede in Bezug auf die Herzfrequenz und den Blutdruck durchaus und führen zu der skeptischen Annahme, inwiefern die Medikamenteneinnahme tatsächlich beobachtet (laut Autoren „observed“) wurde, oder ob es öfter zu Unregelmäßigkeiten diesbezüglich gekommen sein könnte (Missbrauch, Weitergabe?).

Der hier abgebildete fehlende Effekt einer Therapie mit Stimulanzien im Gefängnissetting lässt einige Fragen offen. Immerhin haben fast 50 % der Teilnehmer eine Verbesserung ihrer Symptomatik erzielen können, allerdings eben auch diejenigen, die „nur“ ein Placebopräparat erhalten haben. Hier diskutieren die Autoren nachvollziehbar, dass die besondere Atmosphäre in einem Gefängnissetting, in dem bedeutungsvolle Begegnungen und Interaktionen mit betreuendem Charakter rar sind, möglicherweise einen verstärkenden Einfluss auf den Placeboeffekt genommen haben könnte.

Als andere Erklärung wird auf die Zieldosis eingegangen, die in der Studie bei maximal 72 mg/Tag lag, im Schnitt jedoch nur bei 54 mg täglich. Es ist denkbar, dass in dieser Population höhere Zieldosen vonnöten gewesen wären, um bessere Effekte zu erzielen. Im Vergleich kommen die Autoren einer ähnlichen, jedoch deutlich kleineren Studie in Schweden (n = 30, Alter: 21 bis 61 Jahre, Hochsicherheitsgefängnis, Langstrafenbereich) zu einem signifikanten Wirkvorteil einer Behandlung mit 72 mg retardiertem Methylphenidat in Bezug auf die ADHS-Symptomatik (Ginsberg und Lindefors 2012). Allerdings wurde in dieser schwedischen Studie regelmäßig auf Drogenkonsum getestet, und im Vorfeld mussten alle Teilnehmer 3 Monate drogenfrei gewesen sein. Dazu wurden die Teilnehmer für den Zeitraum der Studie auf einen besonderen Bereich verlegt, mit weniger Kontakt zu anderen Mitinhaftierten, was möglicherweise zu einer gewissen Vorselektion an Teilnehmern geführt haben dürfte. Darüber hinaus erhielten alle Teilnehmer recht zügig die maximale Dosis von 72 mg täglich, während in der aktuellen Studie von Asherson et al. die Dosis wöchentlich gesteigert wurde und erst nach 4 Wochen die maximale Dosis etabliert werden konnte.

Leider haben Asherson et al. keinen intramuralen Drogenkonsum durch regelmäßige Kontrollen erfasst, sodass ein potenzieller Einfluss dadurch nicht diskutiert werden kann. Die Autoren begründen jedoch ihr Vorgehen damit, dass sie ein möglichst repräsentatives Sample im Gefängnissetting untersuchen wollten, und befürchteten eine sich negativ auswirkende Vorselektion. Dies wirkt aus klinischer Perspektive insofern begrüßenswert, liest sich doch die untersuchte Population wie die Patienten, die sich in den psychiatrischen Sprechstunden in den JVA in Deutschland regelmäßiger vorstellen.

Wenngleich die Autoren anhand der sehr sorgfältig erhobenen Daten in sich folgerichtig zum Schluss gelangen, dass eine Behandlung von ADHS im Gefängnis mit retardiertem Methylphenidat grundsätzlich nicht sinnvoll erscheint, so sollten dennoch die Ergebnisse nicht überbewertet werden. Weitere randomisierte kontrollierte Studien im Gefängniskontext sind notwendig, um die gegenwärtigen nationalen und internationalen Leitlinien für die Behandlung von ADHS diesbezüglich zu ergänzen. Des Weiteren ist von besonderer Relevanz, dass immerhin 50 % der mit Methylphenidat behandelten Patienten von dieser Medikation deutlich profitierten, es jedoch zeitgleich einen untypisch hohen Placeboeffekt in der Kontrollgruppe gab. In einer größeren Beobachtungsstudie zu diesem Thema aus Schweden wird der positive Effekt einer medikamentösen Behandlung von ADHS auf die erneute Begehung von Straftaten beschrieben. So hätte bei Männern, deren ADHS medikamentös behandelt worden sei, die Rate für erneute Straftaten um 32 % abgenommen, im Vergleich zu einem behandlungsfreien Intervall, für Frauen lag der Anteil sogar bei 41 % (in Faraone et al. 2021). In der Zusammenschau sollte ein ADHS im Erwachsenenalter mit klinisch relevanten Defiziten selbstverständlich auch in einem Gefängnissetting diagnostiziert und im besten Falle interdisziplinär psychotherapeutisch und medikamentös behandelt werden, wobei die Besonderheiten im Vollzug und die oftmals vorliegenden Komorbiditäten dabei unbedingt miteinbezogen werden müssen.