Zusammenfassung
Hintergrund
Ein hoher Anteil inhaftierter Frauen weist eine Opioidabhängigkeit auf. Hinsichtlich der Frage, ob sich Frauen und Männer in ihrem Opioidkonsummuster unterscheiden, und ob sich empirische Belege für einen Telescoping-Effekt (späterer Einstieg in den Drogenkonsum bei beschleunigtem Verlauf der Abhängigkeit) bei den Frauen finden lassen, ist die Forschungslage uneindeutig. Dabei mangelt es an Studien zu möglichen Geschlechtsunterschieden, insbesondere im Strafvollzug.
Zielsetzung
In einer Stichprobe von n = 247 opioidabhängigen Gefangenen im bayerischen Strafvollzug wurden die weiblichen (n = 31) mit den männlichen (n = 216) Studienteilnehmenden hinsichtlich Alter, Drogenkonsum, Substitutionsbehandlung, psychischer Vorbelastung, Bildung und wirtschaftlicher Situation verglichen.
Methode
Die Daten wurden im Rahmen einer Erstbefragung der Studie „Haft bei Opioidabhängigkeit – eine Evaluationsstudie“ erhoben.
Ergebnisse
Im Drogenkonsum zeigten sich keine Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtergruppen, es konnten folglich keine Hinweise auf einen Telescoping-Effekt bei opioidabhängigen weiblichen Gefangenen gefunden werden. Weiterhin fanden sich keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern bezüglich der Substitutionsbehandlung, der Bildung und der wirtschaftlichen Situation. Frauen gaben häufiger an, vor der Haft an Depressionen gelitten zu haben und Opfer von sexuellem Missbrauch gewesen zu sein.
Schlussfolgerungen
Es zeigten sich Belege für eine stärkere psychische Vorbelastung bei den weiblichen im Vergleich zu den männlichen Inhaftierten mit Opioidabhängigkeit, darüber hinaus jedoch auffallend wenige Unterschiede. Bei der untersuchten Stichprobe handelt es sich um eine Gruppe, bei der möglicherweise eine besonders schwere Verlaufsform der Opioidabhängigkeit vorliegt, die etwaige geschlechtsspezifische Unterschiede in den Hintergrund treten lässt.
Abstract
Background
A high proportion of incarcerated women exhibit opioid dependence. Concerning the question whether women and men differ in their opioid use and whether empirical evidence for a telescoping effect (later initiation of drug use with accelerated progression of dependence) in women can be found, the research situation is ambiguous. In this respect, there is a lack of studies on possible gender differences, particularly in the correctional setting.
Objective
In a sample of n = 247 opioid-dependent individuals incarcerated in Bavarian prisons we compared female (n = 31) and male (n = 216) study participants regarding age, drug use, substitution treatment, psychological preload, education, and economic situation.
Method
Data were collected during an initial interview in prison as part of the ongoing study “Incarceration and opioid dependence—an evaluation study”.
Results
There were no differences in drug use between the two gender groups; consequently, no evidence of a telescoping effect among opioid-dependent female prisoners was found. Furthermore, no differences between women and men regarding substitution treatment, education, and economic situation were found. Women were more likely to report having suffered from depression prior to incarceration and having experienced sexual abuse.
Conclusion
Evidence was found of greater psychological distress among female compared with male incarcerated persons with opioid dependence, but strikingly few differences beyond that. It seems conceivable that in this population a particularly severe course of opioid dependence could be present, which makes any gender-specific differences recede into the background.
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Einleitung
Innerhalb der Gefängnispopulation sind die Prävalenzen von Drogenmissbrauch und -abhängigkeit, insbesondere bei dem Opioidkonsum, bei FrauenFootnote 1 vergleichsweise hoch (Fazel et al. 2017; Lo und Stephens 2000; Michels 2018; Plugge et al. 2009). In einem systematischen Übersichtsartikel schätzten Fazel et al. (2017) auf der Basis von internationalen Daten die Prävalenzraten von Drogenkonsumstörungen bei inhaftierten Frauen auf 51 % und auf 30 % bei inhaftierten Männern. Dies ist ein besonders hoher Anteil von weiblichen Gefangenen mit schädlichem Drogengebrauch im Vergleich zu Frauen in der Allgemeinbevölkerung; eine Studie von Kraus et al. (2018) schätzte die Zahl der Deutschen mit Opioidabhängigkeit auf 166.000, davon ca. 42.000 Frauen und 124.000 Männer. In einer Erhebung im deutschen Justizvollzug zeigte sich, dass unter den Gefangenen mit Suchtmittelbelastung bei 38 % der Frauen (im Vergleich zu 22 % bei den Männern) Opioide die Hauptsubstanz darstellten (Länderarbeitsgruppe „Bundeseinheitliche Erhebung zur stoffgebundenen Suchtproblematik im Justizvollzug“ 2021). Trotz einer hohen Suchtmittelbelastung bei den inhaftierten Frauen konzentriert sich die überwiegende Mehrheit der Forschung über Drogenkonsumstörungen im Gefängnissetting auf männliche Stichproben (Farrell-MacDonald et al. 2014; Lo und Stephens 2000; Plugge et al. 2009).
Wiederholt wurden Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Gefangenen hinsichtlich des Behandlungsbedarfs von Drogenkonsumstörungen angeführt (Belenko und Houser 2012; Brady et al. 1993; Gordon et al. 2013; Langan und Pelissier 2001; Messina et al. 2010; Pelissier und Jones 2005). Dabei werden u. a. geschlechtsspezifische Konsummuster diskutiert (Brady et al. 1993; United Nations Office on Drugs and Crime 2018). In diesem Zusammenhang wird insbesondere der sog. Telescoping-Effekt thematisiert, d. h. ein späterer Beginn des Konsums und eine beschleunigte Progression bis zur Entwicklung von negativen Folgen der Drogenabhängigkeit (Brady et al. 1993; Greenfield et al. 2011; Hernandez-Avila et al. 2004; United Nations Office on Drugs and Crime 2018). Das schnellere Voranschreiten der Sucht und die schädlichen Konsequenzen werden in der Forschung jedoch unterschiedlich operationalisiert, beispielsweise durch den Zeitpunkt der Aufnahme der ersten Suchtbehandlung (Hernandez-Avila et al. 2004) oder anhand von rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Problemen (Hölscher et al. 2010).
Der Telescoping-Effekt bei Frauen gilt im Zusammenhang mit Alkoholkonsumstörungen als gut belegt (Hernandez-Avila et al. 2004; Hölscher et al. 2010). Bei der Erforschung des Opioidkonsums fanden Gordon et al. (2014) damit einhergehend in einer Gefangenenstichprobe von n = 211 Teilnehmenden, dass männliche Gefangene bei ihrem ersten Heroinkonsum signifikant jünger waren als weibliche. In der Studie von Hernandez-Avila et al. (2004) zeigte sich bei substanzabhängigen Patient*innen in Freiheit allerdings kein geschlechtsspezifischer Unterschied hinsichtlich des Einstiegsalters. Hölscher et al. (2010) werteten Daten von Opioidabhängigen aus sechs großen europäischen Städten aus und fanden ebenso keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern bezüglich des Einstiegsalters in den Heroinkonsum und des Schweregrads der Abhängigkeit. Auch hinsichtlich Geschlechtsunterschieden beim intravenösen (i.v.) Drogenkonsum ist die Forschungslage uneindeutig: Einige Autoren berichteten, dass in der Allgemeinbevölkerung Männer im Vergleich zu Frauen häufiger Heroin i.v. konsumierten (Powis et al. 1996; Zakiniaeiz und Potenza 2018). Sowohl Gordon et al. (2013) als auch Zlotnick et al. (2008), fanden jedoch in Gefangenenstichproben, dass Frauen eher injizierten als Männer.
Eindeutiger ist die Forschungslage dagegen bei der psychischen Vorbelastung von Drogenkonsumierenden: Drogenkonsumierende Frauen in der Allgemeinbevölkerung leiden häufiger an psychischen Problemen als Männer, insbesondere an Stimmungs- und Angststörungen (United Nations Office on Drugs and Crime 2018). Betrachtet man die Gefängnispopulation, so geben weibliche Gefangene häufiger psychische Probleme an als männliche (Belenko und Houser 2012; Langan und Pelissier 2001; Michels 2018). In der Studie mit inhaftierten Heroinabhängigen von Gordon et al. (2013) gaben Frauen fast doppelt so häufig wie Männer an, sich wegen psychischer Probleme in Behandlung begeben zu haben. Im Haftkontext haben weibliche Gefangene eine höhere Wahrscheinlichkeit, in ihrem Leben physisch und sexuell missbraucht worden zu sein, als männliche Gefangene (Brady et al. 1993; Gordon et al. 2013; Langan und Pelissier 2001; Michels 2018). Somit ist bei inhaftierten Drogenkonsumentinnen von einer höheren psychischen Vorbelastung auszugehen als bei den Männern (Zlotnick et al. 2008).
Die Forschung zeigt darüber hinaus, dass substanzabhängige Frauen (im Vergleich zu den Männern) mit mehr wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, z. B. haben sie mehr Probleme, eine Anstellung zu finden (Hernandez-Avila et al. 2004; Hölscher et al. 2010). Insgesamt spielen für die Behandlung von Opioidabhängigkeit in Haft nicht nur suchtbezogene Faktoren, sondern auch psychische Vorbelastungen, medizinische Besonderheiten sowie soziale, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte eine Rolle. Aufgrund der Unterrepräsentation von weiblichen Gefangenen – Frauen machen in Deutschland nur ca. 6 % der Gefangenenpopulation aus (Statistisches Bundesamt 2020) – ist die Betrachtung von Geschlechtsunterschieden bei Opioidkonsumierenden in Haft ein seltenes, aber dennoch wichtiges Thema. Dabei fehlen methodisch hochwertige Studien, v. a. in Europa und speziell für weibliche Opioidabhängige (Hölscher et al. 2010; Koehler et al. 2014).
Ziel und Hypothesen
Der vorliegende Artikel hat zum Ziel, Besonderheiten der opioidabhängigen weiblichen Gefangenen zu untersuchen, da dieser speziellen Gruppe – insbesondere in Europa – bisher wenig Forschungsaufmerksamkeit gewidmet wurde. Dabei soll erforscht werden, ob sich auch in der bayerischen Gefangenenpopulation von Opioidabhängigen Hinweise für den Telescoping-Effekt zeigen, und ob sich empirisch belegen lässt, dass weibliche Gefangene psychisch stärker vorbelastet sind als männliche. Zudem soll geprüft werden, ob sich Geschlechtsunterschiede in der Behandlung der Suchterkrankung (insbesondere Opioidsubstitution) und in der wirtschaftlichen Situation sowie im Bildungshintergrund finden lassen.
Methode
Design und Ablauf
Die ausgewerteten Daten entstammen der Studie „Evaluation der Behandlung von Opioidabhängigen während der Inhaftierung“ (Kurztitel: „Haft bei Opioidabhängigkeit – eine Evaluationsstudie“, HOpE-Studie), die an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Kooperation mit dem Kriminologischen Dienst des bayerischen Justizvollzugs durchgeführt und vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz gefördert wird. In diesem Projekt wird untersucht, ob die Substitutionsbehandlung oder die primär abstinenzorientierte Behandlung während der Inhaftierung zu günstigeren Verläufen hinsichtlich des Drogenkonsums, der Suchtbehandlung, der Legalbewährung, der sozialen Eingliederung und des Gesundheitszustands bei Opioidabhängigen nach der Haftentlassung führt. Das Projekt wurde von der Ethikkommission und dem Datenschutzbeauftragten der Friedrich-Alexander-Universität positiv begutachtet. Die Behandlungsentscheidung für oder gegen eine Opioidsubstitution oblag den behandelnden Ärzt*innen, d. h., es erfolgte keine randomisierte Gruppenzuweisung durch das Forschungsteam. Kern der Datenerhebung bilden Interviews mit den Gefangenen, die durch Aktendaten, Informationen aus den Krankenabteilungen der Justizvollzugsanstalten (JVA) und Drogenscreenings ergänzt werden. Die Gefangenen wurden mündlich und schriftlich über die Rahmenbedingungen und den Ablauf der Studie aufgeklärt, bevor sie ihre Einwilligung erklärten. Die Erstinterviews wurden gegen Ende der Haftzeit persönlich vor Ort oder – aufgrund der Coronapandemie – telefonisch durchgeführt. Da dieser Artikel sich ausschließlich mit Daten der Erstbefragung in Haft befasst, wird auf die längsschnittlichen Datenerhebungen nach Haftentlassung nicht eingegangen.
Stichprobe
Im Zeitraum Januar 2020 bis Mai 2022 meldeten Mitarbeitende der teilnehmenden bayerischen Gefängnisse (n = 20) geeignete Gefangene an die Projektmitarbeiter*innen. Gefangene waren geeignet für die Studienteilnahme, wenn: (1) eine Opioidabhängigkeit vorlag, (2) sie mindestens 18 Jahre alt waren, (3) sie über ausreichende Deutschkenntnisse für ein Interview verfügten, (4) ihre Entlassung aus dem Gefängnis in den nächsten Wochen geplant war, (5) sie mindestens drei Monate in Strafhaft gewesen waren und (6) sie Interesse an der Studienteilnahme bekundeten. Insgesamt nahmen n = 247 Gefangene an der Studie teil. Zum Zeitpunkt des Interviews, das die Datengrundlage für diese Studie bildet, waren n = 139 Personen in Substitutionsbehandlung; die restlichen n = 108 wurden abstinenzorientiert behandelt. Von den insgesamt n = 247 Studienteilnehmer*innen identifizierten sich n = 31 als weiblich, n = 216 als männlich und n = 0 als divers. Zum Zeitpunkt des Haftinterviews gab keine der teilnehmenden Frauen an, schwanger zu sein. Sowohl Frauen als auch Männer waren zum Zeitpunkt der Erstbefragung im Durchschnitt 36 bis 38 Jahre alt (Frauen M (SD) = 35,61 (9,22) vs. Männer M (SD) = 37,74 (8,38), p = ,194) (Tab. 1).
Erhebungsinstrumente
Für die Interviews wurde eine adaptierte und gekürzte Version des European Addiction Severity Index (EuropASI, Gsellhofer et al. 1998) herangezogen, der die Bereiche allgemeine Angaben (Alter, Geschlecht etc.), körperlicher Zustand (Krankenhausaufenthalte, chronische Erkrankungen etc.), Arbeitssituation (Schulabschluss, berufliche Tätigkeit etc.), Sucht (konsumierte Substanzen, Konsummuster etc.), Drogen- und Alkoholgebrauch (injizierender Drogengebrauch, Alkoholkonsum etc.), rechtliche Probleme (Straftaten etc.), psychischer Status (psychische oder emotionale Probleme etc.) sowie Familie und Sozialbeziehungen (Beziehungsstatus, Kinder etc.) erfasst. Der EuropASI ist ein international verbreitetes und bewährtes Interviewverfahren mit guten psychometrischen Eigenschaften (Weiler et al. 2000). Die Variablen wurden überwiegend dichotom erfasst (z. B. Haben Sie jemals injiziert?), wobei bei Zustimmung teilweise ergänzende Informationen erhoben wurden (z. B. Alter bei erster Injektion). Subjektive Wahrnehmungen (z. B. Wie stark ist aktuell Ihr Drang, Opioide zu konsumieren?) wurden mit Likert-Skalen erhoben (z. B. von 1 = „kein Drang“ bis 5 = „völlig überwältigend und nicht zu beeinflussen“). Teilweise wurden den Proband*innen im Rahmen des Interviews auch offene Fragen gestellt (z. B. Welche Substanzen haben Sie in Ihrem Leben schon konsumiert?). Zudem wurden – bei Einverständnis der Studienteilnehmer*innen – einige Informationen von der Krankenabteilung erfragt (z. B. zur Substitutionsbehandlung, ICD-Diagnosen etc.).
Analyse der Daten
Die erhobenen Daten wurden in IBM SPSS Statistics 28 (IBM, Armonk, NY, USA) eingegeben und verarbeitet. Potenzielle Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtergruppen wurden anhand nonparametrischer Verfahren (Pearson χ2-Tests für dichotome Variablen, bei mehreren Kategorien oder Zellen mit erwarteten Häufigkeiten < 5 zusätzlich Exakte Tests nach Fisher) oder mittels parametrischer Analysemethoden (t-Test für metrische Daten) untersucht. In seltenen Fällen von Varianzungleichheit wurde der Welch-Test herangezogen. Sofern extreme Ausreißer (> 3 × Interquartilsabstand) identifiziert wurden, wurden diese durch den nächsthöchsten Wert + 1 ersetzt, um die Rangreihenfolge beizubehalten.
Ergebnisse
Drogenkonsum und Substitutionsbehandlung
Hinsichtlich Drogenkonsum und Substitutionsbehandlung zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtergruppen (Tab. 1). Beide Gruppen hatten im Durchschnitt sieben verschiedene Drogen in ihrem Leben konsumiert (Frauen M (SD) = 7,48 (2,71) vs. Männer M (SD) = 7,36 (3,38), p = ,847). In beiden Gruppen wurde ein ähnlich großer Anteil von den Anstaltsärzt*innen als polytoxikoman eingestuft (Frauen 79 % vs. Männer 85 %, p = ,737). Sowohl Frauen als auch Männer äußerten, beim ersten Konsum von Heroin im Durchschnitt 20 Jahre alt gewesen zu sein (Frauen M (SD) = 20,03 (6,33) vs. Männer M (SD) = 19,93 (5,32), p = ,921), und ähnlich viele Frauen wie Männer gaben an, Heroin vor der Haft konstant konsumiert zu haben (Frauen 90 % vs. Männer 92 %, p = ,711). Ähnlich viele Frauen wie Männer äußerten, in der aktuellen Inhaftierungsperiode Heroin konsumiert zu haben (Frauen 13 % vs. Männer 16 %, p = ,688). Bei den Frauen bejahten 90 % und bei den Männern 86 %, jemals Drogen injiziert zu haben (p = ,514), und äußerten jeweils, bei der ersten Injektion im Durchschnitt 21 Jahre alt gewesen zu sein (Frauen M (SD) = 20,89 (7,24) vs. Männer M (SD) = 20,59 (5,37), p = ,831). Es zeigte sich kein Unterschied zwischen den Geschlechtergruppen in der subjektiven Einschätzung des Drangs, Opioide konsumieren zu wollen (p = ,604). Weiterhin unterschieden Frauen und Männer sich auch nicht dahingehend, ob sie nie, selten oder häufig Entzugserscheinungen gespürt hatten (p = ,257) (Tab. 1).
Unmittelbar vor Haftantritt war in beiden Gruppen ungefähr die Hälfte in Substitutionsbehandlung, wobei Frauen (wenn auch nicht signifikant) häufiger substituiert wurden als Männer (Frauen 58 % vs. Männer 46 %, p = ,455). In der aktuellen Inhaftierungsperiode wurden ebenso etwas mehr Frauen (71 %) als Männer (63 %) substituiert, jedoch war auch dieser Unterschied nicht signifikant (p = ,360). Bei einem Großteil der Frauen (93 %) sowie bei den Männern (77 %) lag, gemäß den Anstaltsärzt*innen, eine ICD-Diagnose aus dem Bereich F10–F19 (psychische und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen) vor, wobei sich kein signifikanter Unterschied zeigte (p = ,172) (Tab. 1).
Psychische Vorbelastung
Es zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Frauen und Männern, ob bereits stationäre (Frauen 32 % vs. Männer 18 %, p = ,358) oder ambulante Behandlungen (Frauen 29 % vs. Männer 22 %, p = ,057) wegen psychischer oder emotionaler Probleme in Anspruch genommen wurden, auch wenn aufschien, dass Frauen sich eher professionelle Hilfe gesucht hatten (Tab. 2). Frauen gaben signifikant häufiger an, außerhalb der Haft unter Depressionen gelitten zu haben (Frauen 71 % vs. Männer 51 %, p = ,035). Hinsichtlich Schwierigkeiten, gewalttätiges Verhalten zu kontrollieren (Frauen 19 % vs. Männer 21 %, p = ,802), und Phasen, in denen unter Angst- und Spannungszuständen (Frauen 42 % vs. Männer 35 %, p = ,478) oder ADHS gelitten wurde (Frauen 16 % vs. Männer 29 %, p = ,124), zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Angaben der Frauen und Männer (Tab. 2). Bezüglich des Vorliegens von ICD-10-Diagnosen im Urteil der Anstaltsärzt*innen gab es keinen signifikanten Unterschied zwischen Frauen und Männern, weder bei affektiven Störungen (Diagnosen F30–F39; Frauen 7 % vs. Männer 9 %, p = ,780), noch bei neurotischen, belastungs- und somatoformen Störungen (Diagnosen F40–F49; Frauen 0 % vs. Männer 5 %, p = ,374), noch bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (Diagnosen F60–F69; Frauen 7 % vs. Männer 6 %, p = ,869) und auch nicht bei Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (Diagnosen F90–F98; Frauen 7 % vs. Männer 4 %, p = ,582) (Tab. 2).
Zwischen Frauen und Männern zeigte sich kein signifikanter Unterschied dahingehend, ob angegeben wurde, physischen (Frauen 39 % vs. Männer 25 %, p = ,096) oder emotionalen Missbrauch (Frauen 24 % vs. Männer 19 %, p = ,490) erlebt zu haben, auch wenn, zahlenmäßig, Frauen eher davon betroffen waren. Frauen gaben signifikant häufiger an, Opfer von sexuellem Missbrauch gewesen zu sein (Frauen 36 % vs. Männer 8 %, p < ,001) (Tab. 2).
Bildung und wirtschaftliche Situation
Hinsichtlich des höchsten erzielten Bildungsabschlusses zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den weiblichen und männlichen opioidabhängigen Gefangenen (p = ,783) (Tab. 3). Ein Großteil der Frauen (94 %) sowie der Männer (87 %) hatte Schulden (p = ,286). Die Höhe der Schulden unterschied sich zwischen Frauen und Männern nicht signifikant (Frauen M (SD) = 14.621 (14.995) Euro vs. Männer M (SD) = 20.152 (22.944) Euro, p = ,218). Es zeigte sich zwischen den Geschlechtern auch kein signifikanter Unterschied dahingehend, wie viel Geld die Proband*innen in ihrer letzten Konsumphase in Drogen investiert hatten (Frauen M (SD) = 3093 (3083) Euro vs. Männer M (SD) = 3629 (3785) Euro, p = ,453). Hinsichtlich der hauptsächlichen Erwerbstätigkeit in den letzten drei Jahren vor der Haft schien auf, dass sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern etwa die Hälfte arbeitslos oder in geschlossener Einrichtung war (z. B. stationäre Aufenthalte zur Entgiftung oder zur Therapie, Frauen 52 % vs. Männer 44 %); insgesamt zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und der hauptsächlichen Erwerbstätigkeit in den letzten drei Jahren vor Haft (p = ,520) (Tab. 3).
Diskussion
Zusammenfassend zeigten sich über die verschiedenen suchtbezogenen, psychiatrischen, belastungsbezogenen, wirtschaftlichen und bildungsbezogenen Variablen hinweg überraschend wenige Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Opioidabhängigen im bayerischen Strafvollzug.
In den vorliegenden Daten (basierend auf Selbstauskünften und Angaben der Anstaltsärzt*innen) konnten keine Hinweise auf einen Telescoping-Effekt bei opioidabhängigen weiblichen Gefangenen, im Sinne eines späteren Einstiegs in den Opioidkonsum bei gleichzeitig schnellerem Fortschreiten der Drogenabhängigkeit, gefunden werden. Die weiblichen Gefangenen waren, genauso wie männliche, im Mittel 20 Jahre alt, als sie das erste Mal Heroin konsumiert hatten. Dieses Ergebnis geht einher mit anderen empirischen Studien, die von einem Einstiegsalter von 21 bzw. 22 Jahren berichteten – sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern (Hölscher et al. 2010; Hser et al. 2003). Darüber hinaus zeigten sich keine Hinweise, dass inhaftierte Frauen eine beschleunigte Progression vom Beginn des Substanzkonsums bis zur Entwicklung von negativen Folgen aufweisen. So waren sie z. B. genauso alt beim ersten i.v.-Drogen-Konsum wie männliche Gefangene und berichteten weder einen stärkeren Drang, Opioide zu konsumieren, noch häufigere Entzugserscheinungen.
In der untersuchten Stichprobe wurden Frauen zwar etwas häufiger mit Substitutionsmedikamenten behandelt als Männer, sowohl vor Haftantritt als auch während der aktuellen Inhaftierungsperiode, dieser Unterschied war jedoch nicht signifikant. Dieser Befund passt jedoch zu Daten aus der deutschlandweiten Erhebung, bei der die Substitutionsquote bei den weiblichen Gefangenen bei 71 % lag, im Vergleich zu 40 % bei den inhaftierten Männern (Länderarbeitsgruppe „Bundeseinheitliche Erhebung zur stoffgebundenen Suchtproblematik im Justizvollzug“ 2021).
Ein signifikanter Unterschied zeigte sich, wie auch in der bisherigen Forschung, in der Häufigkeit von selbstberichteten depressiven Symptomen (Zlotnick et al. 2008). Auch in der Allgemeinbevölkerung geben Frauen (10 %) häufiger als Männer (6 %) an, depressive Symptome zu erleben (Busch et al. 2013). Diese Differenz zeigte sich auch in den vorliegenden Daten, jedoch auf einem deutlich höheren Niveau (71 % vs. 51 %). Möglicherweise spielen in diesem Zusammenhang Faktoren wie der Drogenkonsum, die Straffälligkeit und das vergleichsweise häufige Missbrauchserleben eine Rolle. Der Unterschied zwischen den beiden Geschlechtergruppen schien jedoch nur im Selbstbericht auf und nicht in der Häufigkeit der Vergabe von ICD-Diagnosen einer aktuellen affektiven Störung durch die Anstaltsärzt*innen. Gleichzeitig zeigte sich kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den beiden Geschlechtergruppen bezüglich der Inanspruchnahme von ambulanten und stationären Behandlungen für psychische oder emotionale Probleme.
In der Allgemeinbevölkerung machen Frauen häufiger als Männer sexuelle Gewalterfahrungen (Bundeskriminalamt 2022). Dies zeigte sich auch in den vorliegenden Daten (36 % der Frauen vs. 8 % der Männer). Die Ergebnisse gehen einher mit früheren Studienergebnissen, die ebenso eine besonders hohe Rate (sogar 55 %) von sexuellen Missbrauchserfahrungen bei weiblichen Gefangenen mit Substanzmissbrauch fanden (Messina et al. 2010). Aus Erhebungen im deutschen Justizvollzug ist darüber hinaus bekannt, dass weibliche Gefangene häufiger durch sexuellen Missbrauch belastet sind als Frauen in der Allgemeinbevölkerung (Endres und Wittmann 2020). Vor dem Hintergrund, dass die Erfahrung von sexuellem Missbrauch in der Kindheit ein Prädiktor für Substanzmissbrauch im Erwachsenenalter sein kann (Grella et al. 2005), erscheint der verhältnismäßig hohe Anteil an sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Stichprobe wenig überraschend.
Hinsichtlich des Bildungshintergrunds und der wirtschaftlichen Situation zeigten sich keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Diese Befunde unterscheiden sich von dem, was andere Autoren berichten, die ein höheres Bildungsniveau bei Männern (Gordon et al. 2013) und größere wirtschaftliche Probleme bei Frauen (Hölscher et al. 2010) fanden.
Limitationen
Die dargelegten Ergebnisse unterliegen einigen Limitationen. Die inhärente Problematik bei der Untersuchung einer spezifischen Population, wie hier vorliegend, liegt in einer in der Regel geringen verfügbaren Stichprobengröße. Die weiblichen Probandinnen machten in der durchgeführten Studie lediglich 13 % der Stichprobe aus, waren aber dennoch überrepräsentiert (ca. 6 % im deutschen Strafvollzug). Die inferenzstatistischen Ergebnisse sind aufgrund der geringen statistischen Power limitiert, gleichzeitig lassen sich die deskriptiven Befunde interpretieren. Aus methodischer Sicht wären dennoch gleich große Geschlechtergruppen wünschenswert gewesen. Aufgrund des dichotomen und ordinalen Skalenniveaus ist die Varianz der Daten eingeschränkt, und Ergebnisse werden möglicherweise nicht ausreichend differenziert abgebildet. Da die Ergebnisse überwiegend auf Selbstberichten basieren, sind zudem Verzerrungen durch Antworttendenzen, z. B. durch soziale Erwünschtheit, möglich. Für die Informationen aus den Krankenabteilungen der JVA liegen zudem nicht Daten für alle Proband*innen vor (z. B. weil die Krankenabteilung den Fragebogen nicht zurückschickte, aber auch weil einige Teilnehmende die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht nicht erteilten). Aufgrund der mehrfachen Selektion (Opioidabhängigkeit und Haft) handelt es sich darüber hinaus um spezifische empirische Ergebnisse, die nicht ohne Weiteres mit Ergebnissen anderer Studien vergleichbar sind. Angesichts der Forschungsergebnisse anderer Autoren (z. B. Hernandez-Avila et al. 2004; Hölscher et al. 2010), die für einen Telescoping-Effekt bei weiblichen Opioidabhängigen sprechen, könnte es durchaus sein, dass sich bei opioidabhängigen Frauen in der Allgemeinbevölkerung Belege für einen Telescoping-Effekt finden, wenn auch bei den hier untersuchten inhaftierten Frauen nicht. Wie eingangs angesprochen, werden in der Literatur unterschiedliche Faktoren zur Beurteilung des Telescoping-Effekts herangezogen. Die in der vorliegenden Studie verwendete Operationalisierung muss daher berücksichtigt werden, wenn die Befunde in die Forschungslage eingeordnet werden.
Fazit und Forschungsausblick
In unserer Studie fanden sich Belege für eine stärkere psychische Vorbelastung bei den weiblichen im Vergleich zu den männlichen opioidabhängigen Inhaftierten. Bei weiteren Aspekten der Suchtgeschichte und der psychiatrischen, wirtschaftlichen sowie der Bildungssituation fanden sich jedoch auffallend wenige Geschlechtsunterschiede. Daraus zu folgern, dass sich Forschungsergebnisse zu opioidabhängigen männlichen Inhaftierten ohne Weiteres auf die weiblichen übertragen lassen, greift allerdings zu kurz. Da die Gefangenenpopulation nur zu einem geringen Anteil aus Frauen besteht, handelt es sich bei inhaftierten Frauen um eine spezielle Gruppe. Werden opioidabhängige weibliche Gefangene betrachtet, ist die Population mehrfach selegiert. Insgesamt drängt sich bei den vorliegenden Ergebnissen der Gedanke auf, dass es sich bei den opioidkonsumierenden Frauen im bayerischen Justizvollzug um eine spezifische Gruppe handelt, bei der womöglich ein besonders schwerer Verlauf einer Opioidabhängigkeit vorliegt, weshalb eventuelle geschlechtsspezifische Unterschiede in den Hintergrund rücken. Zukünftige Forschung könnte diesen Aspekt in den Fokus nehmen und opioidabhängige Frauen in Haft und in Freiheit vergleichen. Die Thematik von Geschlechtsunterschieden bei Opioidkonsumierenden in Haft ist aufgrund der kleinen Population ein seltenes – dennoch wichtiges – Thema, das noch mehr Forschungsaufmerksamkeit benötigt.
Notes
In diesem Artikel wird auf die Schreibweise Gendersternchen (*) zurückgegriffen. Die Schreibweise macht deutlich, dass Menschen sich nicht nur als Frauen oder Männer identifizieren, wobei das Gendersternchen die Unabgeschlossenheit der Kategorien abbildet. Wurden in zitierten Studien lediglich Männer bzw. Frauen untersucht, so werden diese Gruppen im vorliegenden Artikel auch so benannt.
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Förderung
Diese Arbeit wurde vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz gefördert und ist Teil eines laufenden Forschungsprojekts zur Evaluation der Behandlung von Opioidabhängigen im bayerischen Strafvollzug.
Funding
Open Access funding enabled and organized by Projekt DEAL.
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Interessenkonflikt
K. Boksán, M. Weiss, K. Geißelsöder, M. Dechant, J. Endres, M. Breuer, M. Stemmler und N. Wodarz geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Boksán, K., Weiss, M., Geißelsöder, K. et al. Kaum Geschlechtsunterschiede bei Opioidkonsumierenden in Haft. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 17, 43–51 (2023). https://doi.org/10.1007/s11757-022-00747-3
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