Die forensische Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Psychiatrie, das sich schwerpunktmäßig an der Schnittstelle rechtlicher und psychiatrischer Fragestellungen verorten lässt. Die praktische Arbeit liegt in der Begutachtung und Behandlung psychisch kranker Straftäter. Allerdings zeigt sich eine Reihe von Überschneidungen mit anderen Fachgebieten jenseits der eng gefassten juristischen oder psychiatrischen Disziplinen. Einige davon sind für diese Zeitschrift titelgebend und regelmäßig prominent vertreten wie die Forensische Psychologie und die Kriminologie (Doelling 2016). Andere Überlappungen wie Rechtspsychologie, Rechtsmedizin, Sexualwissenschaft (Briken 2016), Polizeiwissenschaft, Philosophie oder Ethik kommen mehr oder weniger häufig vor. Letztlich sind es diese Schnittstellen der Trans- und Interdisziplinarität, die das Fachgebiet herausfordernd, reich und interessant in Forschung und Praxis machen, aber auch die Qualität der Tätigkeit der Forensischen Psychiatrie unterstützen helfen.

Die Einführung der Forensischen Psychiatrie als Schwerpunktbezeichnung hat diese Qualität in der Begutachtung und Behandlung an vielen Stellen verbessert. Gleichzeitig drohen der Forensischen Psychiatrie aber z. B. bei ausschließlicher Gutachtertätigkeit, die Erfahrungen des in Forschung und Klinik tätigen Allgemeinpsychiaters verloren zu gehen. Ebenso ist zu beklagen, wenn das forensische Know-how sich aus der Allgemeinpsychiatrie weitgehend verabschiedet, Weiterzubildende wenig Interesse und Erfahrung in der Verfassung von Gutachten, Risikoeinschätzungen sowie in der Behandlung von Menschen mit forensischen Risiken haben. Durch die Differenzierung ist der Austausch von dem einen Gebiet in das andere herausgefordert, mancherorts vielleicht gar bedroht, in einen Dornröschenschlaf zu verfallen. Auch steht infrage, ob eigentlich der forensische Psychiater für die Beurteilung und Behandlung nicht im engeren Sinne psychiatrischer, aber risikorelevanter Merkmale von Menschen, die Straftaten begangen haben, zuständig ist oder nicht. Machen forensische Psychiater Kriminaltherapie oder therapieren sie psychische Störungen, die mit kriminellem Verhalten zusammenhängen, wobei diese Zusammenhänge nicht unbedingt immer direkt risikorelevant sind (Habermeyer et al. 2020)? Kann man heute noch jenseits des Risk-Need-Responsivity(RNR)-Prinzips forensische Therapie betreiben? Wie steht es um ethische Fragen im Spannungsfeld zwischen standardisierter Risikoerfassung und Einzelfallbeurteilung? Wie ist es hinsichtlich der Verwendung prognostischer Merkmale aus dem strafrechtlichen Kontext im Umfeld familienrechtlicher Fragen? Dieses Heft beschäftigt sich vor dem Hintergrund solcher Fragen mit den Nachbardisziplinen der Forensischen Psychiatrie.

Wir beginnen diesen Schwerpunkt mit dem Beitrag von einem unserer Herausgeber, Hauke Brettel, zu Kriminologie als forensischer Disziplin (auch Doelling 2016). Brettel ordnet die Disziplin ein und bezieht das Forensische v. a. auf die Einzelfallbeurteilung im Rahmen von Begutachtung und Behandlung. Daran schließt der Beitrag von Sören Lichtenthäler zur Unterscheidung von Tat- und Rechtsfragen in Bezug auf die Schuldfähigkeit an. Er verdeutlicht, dass es aus der Perspektive dieses juristischen Autors bei der Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht um eine empirisch-naturwissenschaftliche, sondern um eine praktisch-normative Frage geht. Das bedeutet gleichzeitig nicht, dass die dazu ggf. gelieferte psychiatrische Beurteilung sich nicht auf empirische oder naturwissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse stützen kann oder auch, dass empirisches Wissen bei normativen Entscheidungen nicht Berücksichtigung finden kann oder sollte. Aileen Oeberst und Ingke Goeckenjan finden in ihrer empirischen Untersuchung Hinweise eines „confirmation bias“ bei juristisch Tätigen mit zwar geringer, aber dennoch bedeutsamer Effektstärke. Freilich können auch kleine Effekte für normative Entscheidungen wie Urteile von hoher Bedeutung sein.

Tim Räz vom Institut für Philosophie der Universität Bern diskutiert anhand des Risikobeurteilungsinstrumentes COMPAS Probleme einer standardisierten, aber gleichzeitig nicht transparenten und damit nachvollziehbaren Risikobeurteilung. Er weist einerseits auf die Chancen, insbesondere die prädiktive Validität standardisierter Risikobeurteilungen hin und macht andererseits deutlich, dass bei mangelnder Transparenz ein solches Instrumentarium für die Einzelfallbeurteilung nicht verwendet werden sollte bzw. empfohlen werden kann. Judith Iffland et al. untersuchen die sexualforensische Begutachtung zur Risikoeinschätzung – auch die Frage der Verwendung standardisierter Risikoerfassungsinstrumente – im Rahmen familienrechtlicher Begutachtungen. Diese Fragestellung hat in den letzten Jahren bei Gutachtenaufträgen stark zugenommen. Anlass kann z. B. sein, dass bei einer Person Missbrauchsabbildungen gefunden wurden und nun infrage steht, ob ein Risiko für „Hands-on“-Delikte den eigenen Kindern gegenüber besteht.

Wolfgang Berner ordnet die Psychoanalyse als Theorie im Verständnis strafrechtlich relevanten Verhaltens und für die Anwendung ätiologischer und behandlungstechnischer Ansätze v. a. historisch ein. Er macht deutlich, welche Aufgabe der Psychoanalyse in früheren Reformbemühungen in Bezug auf das Verstehen und Behandeln von Straftätern zukam, aber auch, wo die Psychoanalyse inzwischen ihre Bedeutung verloren zu haben scheint. Die kognitiv-verhaltenstherapeutischen Programme der Straftäterbehandlung sind mit den Empfehlungen des gängigen RNR-Prinzips weitaus einfacher in Verbindung zu bringen und bisher deutlich stärker empirisch fundiert. An das RNR-Prinzip schließt auch der Beitrag von Elisabeth Stück und Franziska Brunner an, der mit einer Übersicht v. a. den in bisherigen Ansätzen am stärksten vernachlässigten Faktor der Responsivity gründlich beleuchtet und für die Praxis verwertbar macht. Er verdeutlicht, wie weitreichend die Überlegungen zum Ansprechbarkeitsprinzip sein könnten, zeigt aber auch, wie wenig systematisch dieser Faktor bisher in der Praxis genutzt wird.

Der nicht zum Schwerpunkt gehörende Beitrag von Bortenschlager et al. untersucht die auch für Patienten des Maßregelvollzugs bedeutsame Frage der Lebensqualität im Zusammenhang mit Depressivität und Beziehungen zum Personal. Obwohl Untersuchungen zur Lebensqualität seit mehr als einem Vierteljahrhundert ein zentraler Forschungsbereich in der Allgemeinpsychiatrie sind, wurde dieses Thema im forensischen Feld lange vernachlässigt, obwohl so nahe liegend ist, welche Bedeutung die Lebensqualität im Rahmen eines Resozialisierungsgedankens einnehmen muss.

Für Hans Kröbers provokativ betiteltes Blitzlicht „Geschlechtsänderung auf Zuruf“ geht es um die für das forensische Feld bisher nicht ausreichend diskutierten Situationen, in denen von „schwerwiegend kriminelle[n] Männer[n], vorrangig mit Gewalttaten an Frauen, [… sich] Gefahren, […] ergeben, wenn diese sich plötzlich rechtswirksam zu Frauen ernennen können“. Dabei handelt es sich zwar einerseits bisher um eine sehr seltene Konstellation, die aber andererseits mit dem Selbstbestimmungsgesetz neue, vielleicht zunehmende Herausforderungen für den Umgang mit Transpersonen in Haft bedeuten.

Ein kriminologischer Beitrag zu Incel-Ideologie und Radikalisierung und ein psychiatrischer zu Behandlungsangeboten für Menschen mit psychischen und substanzgebundenen Störungen in Haft schließen gemeinsam mit dem Kongresskalender ein Heft ab, das sich durch die Vielfalt und Breite der Themen den forensischen Nachbardisziplinen nähert – eine Suche nach Erkenntnissen mit dem Blick über den engen Tellerrand und dem Ziel, dem Menschen gerecht zu werden.