Kriminologie als eigenständige Wissenschaft

Begriff und Gegenstand der Kriminologie

Der Begriff „Kriminologie“ gehört weder zum Basiswortschatz der Alltagssprache noch der Wissenschaft. Kaum jemand wird spontan halbwegs präzise sagen können, was „Kriminologie“ eigentlich ist. Wer sich als Kriminologe „outet“, wird gerne mit Kriminalisten oder Rechtsmedizinern verwechselt. „Das mit den Leichen könnte ich nicht“, ist – wie der Autor dieser Zeilen aus eigener Anschauung berichten kann – eine verbreitete Reaktion auf den Hinweis, Kriminologe zu sein.

Wörtlich bedeutet Kriminologie Lehre vom Verbrechen, abgeleitet aus dem lateinischen Wort „crimen“ (Verbrechen) und dem griechischen Wort „logos“ (Lehre); zurückgeführt wird der Begriff in der Regel auf ein 1885 erschienenes Werk von Garofalo mit dem Titel Criminologia. Viel gewonnen ist damit noch nicht, denn die Bezeichnung als „Lehre vom Verbrechen“ legt weder die Themen noch Gegenstände dieser „Lehre“ fest – schon weil weder im allgemeinen noch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch die Bedeutung von Wörtern durch ihre Etymologie bestimmt oder limitiert wird (Eisenberg und Kölbel 2017).

Hinzu kommt, dass sich leidenschaftlich darüber streiten lässt, was mit dem – für die Wortschöpfung „Kriminologie“ konstitutiven – Begriff des Verbrechens gemeint ist, schon weil die Qualität als „Verbrechen“ oder „Kriminalität“ nicht unmittelbar wahrnehmbar ist. Für eine fachliche Ausrichtung der Kriminologie genügt allerdings der Bezug auf ein Verhalten, das de facto von der Gesellschaft als Verbrechen – oder auch als Straftat, Kriminalität bzw. allgemein: Delinquenz – definiert wird. Dies belässt insbesondere die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Anschauungen von abweichendem und strafbarem Verhalten kritisch zu hinterfragen.

Davon ausgehend kann die Kriminologie als empirische Wissenschaft von Delinquenz und deren sozialer Kontrolle umschrieben werden. Sie beschäftigt sich als „Tatsachenwissenschaft“ mit der Erforschung von deliktischen Handlungen und den sozialen Reaktionen darauf, was sich auf ganz Unterschiedliches – wie etwa auf Einzeltaten und ihre Hintergründe, auf Kriminalität als soziales Phänomen, Täter, Opfer oder die sozialen Kontrollorgane – beziehen kann. Dieses Themenfeld zählt offenkundig nicht zu den Exklusivangelegenheiten der Wissenschaft, vielmehr gehören Straftaten ebenso selbstverständlich zum Inventar unserer Lebenswelt wie etwa die Ernährung – was natürlich nicht an einer wissenschaftlichen Annäherung hindert, sonst könnte es beispielsweise auch keine Ernährungswissenschaft geben.

Wissenschaftliche Eigenständigkeit

Gegenüber anderen Fachdisziplinen ist die Kriminologie organisatorisch und institutionell eigenständig und behauptet dies auch bei Veränderungen ihrer fachlichen Konturen. Wie andere Fächer verdankt die Kriminologie ihre wissenschaftliche Existenz einem (praktischen) Bedarf an kontinuierlicher und systematischer Gegenstandsanalyse. Daraus gehen für die Wissenschaft typische Prozesse, Begrifflichkeiten, Zusammenschlüsse und Diskurse hervor. Der Gegenstand der Kriminologie erlangt seine Konturen dabei durch Ausrichtungen des Erkenntnisinteresses im Forscherkollektiv und durch Forschungsaktivitäten. Dieser – offene, dynamische und andauernde – Konstitutionsprozess wird von fachinternen, innerdisziplinären und öffentlichen Debatten beeinflusst. Der wissenschaftliche Gegenstandsbereich der Kriminologie ist also ein „gewachsenes“ und wandlungsfähiges Produkt sozialer Prozesse, in deren Rahmen es zum Wechsel der Themen und prägenden Denkmuster bis hin zu einem grundsätzlichen Anschauungswandel im Hinblick auf das Wissenswerte kommen kann (Eisenberg und Kölbel 2017). Diese Dynamik ermöglicht auch standortabhängige Entwicklungen innerhalb der Kriminologie mit (nationalen) Sonderwegen. Während beispielsweise in Deutschland traditionell zwischen Kriminologie und Kriminalistik (vereinfacht gesagt: fachlich zwischen Erklären und Aufklären von Straftaten) unterschieden wird, sind diese Fächer in Österreich stärker ineinander integriert (Eisenberg und Kölbel 2017).

Beides lässt sich unter dem Dach einer Fachdisziplin vereinen, die ihre Identität auch nicht durch ein Nebeneinander von ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Anschauungen und Erkenntnisinteressen verliert. In der Kriminologie interessieren sich die einen für biologische Dispositionen, andere z. B. für das persönliche Umfeld, die Sozialstruktur oder für Reaktionen auf Straftaten. Allen geht es dabei in der Hauptsache um Annäherungen an das Phänomen „Straftat“, die – auch in der Kriminologie – aus ganz unterschiedlichen Richtungen und Motiven heraus erfolgen können. Eine solche Pluralität der Vorstellungen vom gleichen Gegenstand gibt es in vielen Fachdisziplinen, und auch mit ihrem Rückgriff auf die Methoden und Ergebnisse anderer (Bezugs‑)Fächer steht die Kriminologie nicht allein. Wissenschaften teilen sich Erkenntnismittel ebenso wie Erkenntnisinteressen. Mit Straftaten beschäftigt sich beispielsweise die Strafrechtswissenschaft ebenso wie etwa die Philosophie, Anthropologie, Soziologie oder Ökonomie. Eine fachliche Mehrfachrelevanz dieser Art ist nicht ungewöhnlich: Die meisten Objekte der Wissenschaft haben keine unabgeleitete „Natur“, die nur eine bestimmte Wissenschaft erschließen kann. Wissenschaftliche Eigenständigkeit setzt keine Monopolstellung durch einen „eigenen“ Gegenstand voraus (Eisenberg und Kölbel 2017).

Was die Kriminologie von allen anderen Disziplinen unterscheidet, ist ihre Hauptausrichtung auf Straftaten als ihrem konstitutiven Dreh- und Angelpunkt für die Forschungsinteressen. Mit vielen kriminalitätsbezogenen Fragen beschäftigt sich aus dem Kreis der forensisch tätigen Disziplinen v. a. oder sogar exklusiv die Kriminologie. Beispielsweise wird zu bestimmten Prognosefragen im Zusammenhang mit Extremismus, Terrorismus oder Wirtschaftsdelinquenz in anderen forensischen Fachdisziplinen nicht mit der gleichen Intensität geforscht. Ähnliches gilt etwa auch für die Befassung mit kriminalitätsbezogenen Makrophänomen wie sozialstrukturellen Einflüssen oder gesellschaftlichen Veränderungen, die natürlich auch im Einzelfall verhaltenswirksam sein können. Mit einem Hauptaugenmerk auf die Kriminalität übernimmt die Kriminologie dabei auch Erkenntnisse aus den Bezugswissenschaften und verarbeitet sie – über eine schlichte Kompilation hinaus – mit einer eigenständigen Verknüpfungslogik weiter (Eisenberg und Kölbel 2017). Nicht zuletzt vermag die Kriminologie Zusammenhänge über die Grenzen der Bezugswissenschaften herzustellen, was zu Erkenntnissen eigener Art verhilft. Sie ist damit weit mehr als eine bloße „Clearing“-Zentrale, die kriminorelevante Erkenntnisse anderer Disziplinen zusammenträgt (Dölling 2016).

Dies zeigt sich insbesondere in der Forensik. Beispielsweise wurden inzwischen in großer Zahl Faktoren identifiziert, die in Gruppen von Straffälligen oder von Rückfälligen gehäuft auftreten. Damit es aber zur Straftat kommt, müssen zu solchen (Risiko‑)Faktoren weitere Umstände hinzutreten. Maßgeblich ist also ein Zusammenspiel von Faktoren, das durch den Zusammenhang mit dem Phänomen Straftat bestimmt wird und für das sich die Kriminologie mit ihrer zentralen Ausrichtung auf das Verbrechen interessiert. Ihr umfassend auf Kriminalität bezogenes Erkenntnisanliegen stellt die Kriminorelevanz im Sinne des Unterschieds zwischen straffällig und nichtstraffällig in den Mittelpunkt. Kriminorelevanz ist eine Kernfrage in der Kriminologie, die sich nur in systematischer Befassung mit Straftaten (der Kernaufgabe in der Kriminologie) beantworten lässt.

Die wertvollen Erkenntnisse, die andere Disziplinen im „offenen“ Forschungsfeld Kriminalität gewinnen, stehen der Kriminologie dabei ebenso zur Verfügung wie umgekehrt. Schon deshalb ist ein (ohnehin nicht einheitlich definierter) Status als „Kriminologe“ oder „Kriminologin“ nicht Voraussetzung für einen Rückgriff auf kriminologische Erkenntnisse. Zwar bedarf es zuweilen – wie in anderen Forschungsbereichen auch – zur Generierung und Anwendung von kriminologischem Fachwissen einer besonderen (durch Spezialisierung erlangten) Qualifikation, insbesondere setzt die Erstellung von kriminalprognostischen Gutachten eine zeitintensive gegenstandsbezogene Qualifizierung voraus. Grundsätzlich aber haben nicht nur bestimmte Experten Zugang zum Wissensbestand der Kriminologie, der vielmehr allgemein zur Verfügung steht. Eine Verschlossenheit von Einzeldisziplinen für bestimmte Phänomene wäre ebenso wie ein fachlicher Hegemonialanspruch mit aufgeklärten wissenschaftstheoretischen Standards nicht zu vereinbaren (Bock 2012). Zugleich bedarf es für die Bearbeitung bestimmter Fragestellungen eines umfassend auf Kriminalität bezogenen Erkenntnisanliegens.

Kriminologie in der Forensik

Zur aktuellen Situation in Deutschland

Vermittelt wird kriminologisches Wissen zum einen seit Mitte des 20. Jh. an Universitäten in Studiengängen und in der Postgraduiertenausbildung (Singelnstein und Kunz 2021). In Deutschland hat sich die Kriminologie v. a. an den juristischen Fakultäten etabliert, auch finden kriminologische Forschung und Lehre insbesondere in der Soziologie, Psychologie und Psychiatrie sowie eher selten in den Wirtschaftswissenschaften statt. Mit der Kriminologischen Abteilung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in Hannover und der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden gibt es in Deutschland zudem außeruniversitäre kriminologische Forschungseinrichtungen. Kaum angeboten werden im deutschsprachigen Raum hingegen Studiengänge, die sich in der Hauptsache der Kriminologie widmen (Dölling 2016). Die Seite „StudyCheck“ (https://www.studycheck.de/, zugegriffen 06. Sept. 2022) etwa, die nach eigenem Bekunden 20.398 Studiengänge an 588 Hochschulen listet, weist für das „Studium Kriminologie“ (ausgehend vom Studiengang Rechtswissenschaft) lediglich 8 Studiengänge an 7 Hochschulen (4 Universitäten, 3 Fachhochschulen) aus, von denen sich allerdings 2 offensichtlich der „Kriminalistik“ widmen. Auch im Übrigen hat die deutsche Kriminologie keinen so starken Stand wie etwa die Kriminologie in Großbritannien und muss sich seit einiger Zeit zudem mit Abbautendenzen auseinandersetzen, die ihre Ursache u. a. in der Minderheitenposition der Kriminologie in ihren jeweiligen Fakultäten haben und beispielsweise in der Umwidmung ehemals kriminologischer Lehrstühle zum Ausdruck kommen (Dölling 2016).

Die aktuelle Rolle der Kriminologie in der Forensik ist auf Entwicklungen in der deutschen Kriminologie, insbesondere auf einen Anschauungswandel in den 1970er-Jahren zurückzuführen: Im Jahr 1959 übernahm Heinz Leferenz als außerplanmäßiger Professor in Heidelberg den ersten ausschließlich kriminologischen Lehrstuhl in der Bundesrepublik Deutschland, 1962 wurde Hans Göppinger Ordinarius und Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen, dem ersten kriminologischen Institut in Deutschland. In dieser Anfangszeit der deutschen Universitätskriminologie gehörte eine täterorientierte Kriminologie mit dem Anwendungsfeld „Strafrechtspflege“ noch zu den Hauptthemen des Fachs (Bock 2007). Dies änderte sich in den 1970er-Jahren, nachdem schon Jahrzehnte zuvor die Vermutung geäußert worden war, dass das Kriminaljustizsystem nicht auf eine Verhütung von Straftaten, sondern auf eine Disziplinierung von sozial Benachteiligten zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status ausgerichtet sei. Auch hatte sich die Kriminologie zunehmend aus der Bindung an förmlich strafbares Verhalten gelöst und mehr und mehr (anstelle von Kriminalität) die Kriminalfrage, das heißt den gesellschaftlichen Umgang mit Normabweichungen, in den Blick genommen (Kaiser 2007; Singelnstein und Kunz 2021).

In den 1970er-Jahren haben dann die sog. Etikettierungsansätze die deutsche Kriminologie grundlegend verändert und einen Epochenwechsel eingeleitet, in dem es um einen Generationenkonflikt ebenso wie um politische Anschauungen und um die fachliche Deutungshoheit in kriminologischen Fragen im Verhältnis zur Soziologie und zur Psychiatrie ging. Themen und Forschungsschwerpunkte wurden neu verteilt und neu geschaffen, seitdem erscheint vielen Kriminologinnen und Kriminologen beispielsweise die Befassung mit Kriminalisierung wichtiger als eine Befassung mit Kriminalität. Auch verwahrte sich mancher ausdrücklich dagegen, die Praxis der Strafrechtspflege mit Expertisen im Einzelfall zu unterstützen. Hauptargument war dabei die Annahme, dass in der Justiz eine soziale Benachteiligung bzw. Diskriminierung am Werk sei. Teilweise lag Vorbehalten gegenüber einem Engagement in der Strafrechtspflege auch ein Verständnis von Forschung zugrunde, nach dem Individuen nicht verändert und subjektive Identitätskonstruktionen auch nicht an irgendeinem externen Maßstab (wie etwa der objektiven Wahrheit oder gesellschaftlichen Regeln) gemessen werden dürften (zu dieser Entwicklung: Bock 2013, 2009a, 2007).

Zwar richteten sich beide Argumente nicht allein gegen die Kriminologie, sondern generell gegen ein Engagement in der Strafrechtspflege, das auch für die Psychologie oder Psychiatrie abgelehnt wurde. Gleichwohl war die Folge, dass die Einzelfallkriminologie als Beratungsinstanz der täglichen Entscheidungspraxis in den Hintergrund trat. Wenn also heute von Kriminologie die Rede ist, muss zunächst geklärt werden, welche Art von Kriminologie gemeint ist. Derzeitiges Hauptanwendungsfeld für empirisches Wissen aus den vielen Tätigkeitsbereichen der Kriminologie – wie etwa der Instanzen- oder Sanktionsforschung, der Viktimologie oder den Forschungen zum Sicherheitsgefühl – ist die kriminalpolitische Gestaltung des Strafverfahrens und des materiellen Strafrechts, nicht aber die Entscheidungspraxis in einzelnen Strafverfahren (Bock 2007). Auch die kriminologische Ausbildung nimmt nur in Ausnahmefällen Bezug auf die Forensik. Auf der bereits erwähnten Seite „StudyCheck“ (https://www.studycheck.de/, zugegriffen 06. Sept. 2022) etwa wird die Kriminologie als ein „theoretisch ausgerichtete[s] Forschungsgebiet“ beschrieben und an Interessenten gerichtet ausdrücklich mitgeteilt, dass „Du im Studium keine individuellen Kriminalfälle löst, sondern die grundlegenden gesellschaftlichen Hintergründe von Straftaten untersuchst“.

Dazu passend bietet sich in der deutschen Kriminologie derzeit (noch) keine forensische Qualifizierungsmöglichkeit, die etwa einem DGPPN-Zertifikat im Hinblick auf Anerkennung und Verbreitungsgrad vergleichbar wäre. Flächendeckende etablierte Strukturen für die forensische Tätigkeit (wie etwa in der Psychiatrie) bestehen in Deutschland insgesamt nicht, und nur ganz wenige Kriminologen sind regelmäßig im Auftrag von Gerichten als Sachverständige tätig – allerdings gibt es sie (so z. B. den Autor dieser Zeilen). Die Kriminologie schöpft damit momentan das Potenzial nicht aus, das sie als Lehre vom Verbrechen bei der forensischen Aufarbeitung von Verbrechen hat. Dabei bietet ihr Wissensbestand ohne Weiteres ein tragfähiges Fundament für ein weitaus stärkeres Engagement in der Forensik als gegenwärtig.

Notwendigkeit eines forensischen Engagements

Auch ist der Bedarf an Tatsachenwissen zur Kriminalität und damit an kriminologischen Erkenntnissen in der Forensik groß. Der Gesetzgeber fordert für die Entscheidungspraxis eine Berücksichtigung von Kenntnissen auf dem Gebiet der Kriminologie in großem Umfang ein, so beispielsweise ausdrücklich im Zusammenhang mit einer Vollzugsplanung oder – erst kürzlich ergänzt – nach § 37 JGG für die Tätigkeit der Jugendgerichte. Dies ist auch konsequent, weil das Strafrecht in seiner Grundausrichtung den Strafzwecken der positiven (Erziehung, Resozialisierung) und negativen (Sicherung, Schutz der Allgemeinheit) Spezialprävention einen besonderen Rang neben den anderen Strafzwecken (Schuldausgleich, Generalprävention) einräumt. Im Jugendstrafrecht, im Vollzug der Jugend- und der Freiheitsstrafe sowie im Vollzug der Maßregeln der Besserung und Sicherung steht Spezialprävention ganz im Vordergrund. Diese Zielsetzung aber macht die Auswahl und Bemessung von strafrechtlichen Maßnahmen insbesondere von täterbezogenen Voraussetzungen abhängig, die für jeden Einzelfall geprüft werden müssen. Unverzichtbar sind dabei kriminologische Erkenntnisse, um beispielsweise die Gefährlichkeit des Betreffenden (im Hinblick auf die negative Spezialprävention) oder den individuellen Interventionsbedarf (im Hinblick auf Hilfe, Erziehung und Resozialisierung) abschätzen zu können, wobei eine Vielzahl solcher Einschätzungen meist in einem einzigen Verfahren gewissermaßen „hintereinandergeschaltet“ (Bock 2009a) ist. Bei jeder Verurteilung müssen beispielsweise im Rahmen der Strafzumessung kriminologische Diagnosen und Prognosen gestellt werden. Entsprechend ist die Erstellung von Kriminalprognosen (im Sinne einer Einschätzung der kriminellen Gefährdung eines Menschen und einer daraus folgenden Interventionsplanung) im Strafrecht eine zentrale Aufgabe, die nur unter Rückgriff auf kriminologisches Wissen zu bewältigen ist.

Dabei erkennt der Gesetzgeber zum einen die Existenz einer „besonderen“ Fachkompetenz für kriminologische Fragen an, da anderenfalls die – im Gesetz z. T. ausdrücklich (z. B. in § 454 Abs. 2 StPO) vorgeschriebene – Hinzuziehung von (Prognose‑)Sachverständigen unplausibel wäre. Zum anderen fordert das Gesetz in großem Umfang außerhalb des Sachverständigenwesens die Anwendung kriminologischen Wissens ein. So müssen insbesondere Juristinnen und Juristen im Kontext des Strafverfahrens zu kriminalprognostischen Einschätzungen gelangen, ohne dass sie sich dabei jedes Mal von Sachverständigen unterstützen lassen können. Im Gegenteil sind Kriminalprognosen in den allermeisten Fällen Aufgabe der juristischen Entscheidungsträger selbst. Diese haben etwa gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 StGB die Wirkungen abzuschätzen, „die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind“. Auch beantworten Gerichte fast immer ohne die Einholung von Gutachten im Zusammenhang mit Bewährungsentscheidungen gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 StGB die Frage, ob „Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen“. Angesichts solcher Zuweisungen von Prognoseverantwortung im Gesetz ist offenkundig, dass der Gesetzgeber von juristischen Entscheidungsträgern eine eigene prognostische – und damit kriminologische – Sachkunde fordert.

Auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter gestalten die Forensik in zahlreichen Arbeitsfeldern mit: Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe oder die Arbeit in Jugend‑, Erwachsenen- und Maßregelvollzug etwa ist ihr großes Tätigkeitsfeld im Bereich der Justiz. Dabei ist auch Sozialarbeit – nicht anders als ärztliches oder psychologisches Handeln – auf eine aufgabengerechte „Bedarfsermittlung“ angewiesen, ohne die ein zielgerichtetes Agieren undenkbar wäre (Bock 2009a). Soweit die Aufgaben der Sozialarbeit im Kontext von Kriminalität stehen, ist kriminologisches Wissen gefordert. Kriminologisch zu qualifizieren sind also auch Juristen, Sozialarbeiter, Polizisten und sonstige Personen, deren Aufgabe der Umgang mit Einzelfällen ist (Bock 2013).

Für einen rationalen Umgang mit Kriminalität und für die tägliche Praxis der Strafrechtspflege ist die Kriminologie im Einzelfall somit unentbehrlich. In der täglichen Entscheidungspraxis bedarf es genauer Beschreibungen der deliktischen Erscheinungsformen ebenso wie beispielsweise fundierter Kenntnisse über die Entstehungsbedingungen von Delinquenz oder die Erfassung des Präventionsbedarfs. Alltagseindrücke genügen dafür nicht, gefordert ist vielmehr belastbares Wissen auf Grundlage einer bestmöglichen Ausschöpfung der Erkenntnismöglichkeiten (Dölling 2016). Damit steht der Rückgriff auf relevante kriminologische Erkenntnisse in der Forensik auch nicht im Belieben der Beteiligten, vielmehr besteht das Gebot einer Orientierung am aktuellen kriminologischen Kenntnisstand. Der Gesetzgeber verlangt, dass der zugrunde liegende Sachverhalt vollständig ermittelt wird und nachvollziehbare Schlüsse gezogen werden. Feststellungen zu kriminologischen Aspekten müssen also nachvollziehbar aus den erhobenen Fakten und den zum Einsatz gebrachten Erfahrungsregeln bzw. analytischen Kriterien hervorgehen. Diese Prämissen erlauben Abweichungen vom aktuellen Kenntnisstand in der Kriminologie nicht und machen ein Engagement der Kriminologie in der Forensik unverzichtbar.

Herausforderungen in der Forensik

Überzeugungskraft kriminologischer Erkenntnisse

Zugleich steht die forensische Aufarbeitung von Straftaten vor besonderen Herausforderungen, denen sich auch die Kriminologie stellen muss: Auch sie kann in der Regel nicht mit handfesten Formeln, Rechenoperationen oder einleuchtenden Experimenten aufwarten. Der Goldstandard eines experimentellen Designs lässt sich bei der Kriminalitätserforschung regelmäßig nicht realisieren, und Selektionen, etwa auch durch geringe Rücklaufquoten, sind allgegenwärtig. Was in der Verbrechensforschung als „Daten“ bezeichnet wird, ist oft nicht (dem Wortsinn des lateinischen Begriffs „datum“ entsprechend) „gegeben“, sondern „gemacht“ – so etwa über einen Akteneintrag zugeschrieben oder aus der Äußerung eines Interviewpartners herausgedeutet. Generell ist die Gewinnung gesicherter Erkenntnisse zur Kriminalität mit großen Schwierigkeiten verbunden – schon weil sich dieses Forschungsfeld naturgemäß gegen eine Ausleuchtung sperrt (Dölling 2016). Zudem gibt es Themen (wie etwa Korruption, Terrorismus oder Staatskriminalität), bei denen mächtige Akteure und große Risiken einen wissenschaftlichen Feldzugang schwer oder unmöglich machen. Hier bleibt auch der Kriminologie aus Mangel an eigenen Erfahrungsmöglichkeiten oft nur die Wiedergabe von Eindrücken, die Akteure mit besserem Feldzugang (wie etwa die Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden) haben (Bock 2013).

Überdies lässt sich oft nicht sichtbar machen, welchen Effekt eine Berücksichtigung von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Straftatphänomenen hat. Häufig bleiben die Auswirkungen eines Rückgriffs auf Fachwissen im Verborgenen, weil sie nicht messbar sind. Ein zentrales Evaluationsproblem besteht beispielsweise bei Kriminalprognosen: Sie fließen in der Regel in eine Interventionsstrategie ein, mit der Straftaten verhindert werden sollen. Gelingt dies aber, dann bleiben Rückfalle aus, die vorhergesagt wurden und Anlass für die Intervention gegeben haben. Hier trägt folglich die Vorhersage eines Rückfalls gerade dadurch zur eigenen Widerlegung bei, dass sie ihren Zweck erfüllt und die passenden Maßnahmen veranlasst. Umgekehrt hindern Interventionsmaßnahmen (wie eine Inhaftierung) daran, vom Ausbleiben eines Rückfalls bei unbeeinflusster Weiterentwicklung erfahren zu können. Wer als Gefahr für die freie Gesellschaft eingeschätzt wird, kann diese Einschätzung in Haft nicht widerlegen. Die Qualität der Gefahrenbeurteilung bleibt folglich zumeist offen – ohne dass es eine Rolle spielt, ob der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand berücksichtigt wurde oder nicht.

Dadurch kann leicht ein Eindruck von Unverbindlichkeit und Beliebigkeit entstehen, der es erleichtert, Fakten in Zweifel zu ziehen – was gerade bei unbequemen bzw. „unpassenden“ Forschungsergebnissen verlockend erscheint. Regelmäßig wird deshalb (auch) die Kriminologie von außen auf eine „Legitimationswissenschaft“ (Eisenberg und Kölbel 2017) reduziert, deren Erkenntnisse eine Art Verfügungsmasse für die passende Gelegenheit bilden: Zurückgegriffen wird darauf, wenn sich damit erwünschte Ergebnisse begründen lassen, Erkenntnisse werden als Feigenblatt genutzt, wenn sie „auf Linie“ sind, indem sie zu vorgefassten Überzeugungen oder Interessen passen (Bock 2013).

Verstärkt wird der Eindruck von Unverbindlichkeit bei kriminologischen Erkenntnissen noch durch fachliche Kontroversen: So herrscht selbst im Hinblick auf Grundlagen der Erkenntnisgewinnung Uneinigkeit, wobei sich an den Außenrändern des Meinungsspektrums eine „positivistische“ und eine „konstruktivistische“ Grundposition gegenüberstehen. Die „positivistische“ favorisiert (auch aktuell) die Suche nach Gesetzmäßigkeiten bzw. Wirkungszusammenhängen unter Beschränkung auf Tatsachen und in Orientierung an der Arbeitsweise der Naturwissenschaft. Prägend ist dabei die Vorstellung, dass die Phänomene der sozialen Wirklichkeit als Tatsachen positiv festgestellt werden könnten, und dass sie über Ursache-Wirkung-Zusammenhänge miteinander in Verbindung stünden. Diese Beziehungen seien ebenso erfassbar wie Naturgesetze, wobei auch menschliches Verhalten anhand von sozialen Gesetzen beschrieben werden könne. Entsprechend profitiere die Erforschung der sozialen Wirklichkeit von einer Arbeitsweise wie in den Naturwissenschaften, bei der in strenger Orientierung an Tatsachen nach Gesetzmäßigkeiten gefahndet werde (dazu Eisenberg und Kölbel 2017). Nach dieser Grundauffassung hat auch die Kriminologie einen objektiv erkennbaren Gegenstand, der als tatsächliche Gegebenheit der Außenwelt der Beobachtung unmittelbar zugänglich und ohne Wertungen bestimmbar sei.

Auch in der Kriminologie kamen allerdings früh Zweifel daran auf, dass soziale Phänomene wie Kriminalität objektiv wahrgenommen werden könnten. Nicht zuletzt unter dem Einfluss des Positivismusstreits in den Sozialwissenschaften (dazu etwa Adorno 1991) hielten immer mehr Kriminologinnen und Kriminologen die Idee eines voraussetzungsfreien „reinen“ Erkennens von sozialen Phänomenen für illusorisch und dem Positivismus entgegen, er basiere auf einem „myth of the given“ (Sellars 1997). Denn die Sozialwelt sei nicht rein äußerlich vorgegeben und der Beobachtung nicht unmittelbar zugänglich, vielmehr könnten von ihr nur Vorstellungen entwickelt werden. Wer sie erforsche, sei selbst Teil von ihr und nehme sie auf eine bestimmte Art und Weise wahr. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen (wie Straftaten) sei daher zwangsläufig auch von eigenen Standpunkten und Perspektiven beeinflusst (dazu Singelnstein und Kunz 2021).

Auf dieser Basis bildete sich eine „konstruktivistische“ Gegenposition zur „positivistischen“ Grundhaltung aus, die Wahrnehmung und Erkenntnis als (kontext-, perspektiv- und denkabhängigen) Konstruktionsprozess einordnet. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die – schon von Immanuel Kant ausgearbeitete – Erkenntnis, dass in sämtliche Vorstellungen von der Wirklichkeit gedankliche Vorannahmen einfließen. Auf dieser Grundlage wird (auch) in der Kriminologie die Existenz einer vom Denken unabhängigen sozialen Wirklichkeit verneint und diese vielmehr als Konstrukt einer aktiven sowie gestaltenden Erkenntnisleistung angesehen. Davon ausgehend hat sich insbesondere mit den bereits angesprochenen Etikettierungsansätzen die Vorstellung verbreitet, dass soziale Phänomene nicht als Tatsachen, sondern als Ergebnis von Deutungen und Bedeutungszuweisungen zu behandeln seien. Entsprechend komme es – in Wissenschaft und Alltag – vorrangig auf diese Zuschreibungen und auf ihr Zustandekommen über Deutungen sowie Sinnzuweisungen an. Im Zusammenhang mit dem Phänomen Straftat müsse es daher v. a. um die sozialen Wertungsprozesse gehen, von denen eine Kriminalisierung abhänge (dazu Eisenberg und Kölbel 2017).

Dieser Gegensatz von „positivistischer“ und „konstruktivistischer“ Grundposition spiegelt sich insbesondere in den Vorstellungen über den wissenschaftlichen Umgang mit menschlichem Verhalten (wie etwa kriminellen Handlungen) wider. Zugespitzt formuliert wollen „Positivisten“ die verhaltensbestimmenden Gesetzmäßigkeiten aufdecken und sozialschädliches Verhalten über seine gesetzmäßigen Ursachen „erklären“. Erklären meint dabei die Bestimmung der kausalen, einer Gesetzmäßigkeit folgenden Abhängigkeit eines wahrgenommenen Phänomens (hier: des Verhaltens) von einem anderen wahrgenommenen Phänomen (hier: einer Verhaltensbedingung; Singelnstein und Kunz 2021). „Konstruktivisten“ ist hingegen daran gelegen, Verhalten über zugrunde liegende Deutungsmuster und Sinngebungen der Akteure zu rekonstruieren und damit zu „verstehen“. Dabei geht es nicht allein (und vielen nicht einmal vorrangig) um Verhalten, das als strafbar eingeordnet wird, sondern auch um die Einordnung als strafbar selbst und um die Reaktionen auf diese Einordnung. Zentrale Bedeutung dabei hat, dass Menschen den sozialen Phänomenen einen Sinn zuweisen, den andere nachvollziehen können. Dazu bedürfe es einer möglichst authentischen Erfassung der „Sinndeutungen“ des relevanten Geschehens aus der Subjektperspektive des Akteurs. Wer eine Handlung verstehen will, muss sich nach dieser Auffassung also mit ihrem Sinn auseinandersetzen; durch die Bestimmung von Ursachen erklären lasse sich eine Handlung hingegen (anders als ein Naturgeschehen) nicht (dazu Singelnstein und Kunz 2021).

Die Kontroverse der „positivistischen“ und der „konstruktivistischen“ Grundausrichtung setzt sich somit auf methodischer Ebene in einer Rivalität von „Erklärungsmodell“ und „Verstehensmodell“ fort, bei der es im Kern um eine Berücksichtigung von Wertungsprozessen geht. Dem „Erklären“ sozialschädlicher Ereignisse wird ein „Verstehen“ sozialschädlichen Verhaltens gegenübergestellt. Während sich die einen um eine Aufdeckung von Ursachen bemühen, geht es den anderen um die Erschließung von Sichtweisen, Deutungsmustern und Sinnzuweisungen der sozialen Akteure. Dabei können nicht die gleichen Methoden zum Einsatz kommen. Insbesondere gelingt eine Rekonstruktion von Sinnzuweisungen und Handlungsmotiven nicht ohne Deutungen, in die eigene, subjektiv geprägte Vorannahmen und vorgängige Vorstellungen einfließen, die bewusst zu machen sind. Zugleich kommt mit Deutungen, individuellen Vorstellungen oder Sichtweisen Subjektivität ins Spiel. Davon beeinflusste Überzeugungen sind – auch wenn sie sich auf Tatsachen beziehen – von der jeweiligen Welt- und Wissenschaftssicht geprägt.

Damit erlangt der Gegensatz bei den Grundhaltungen auch Bedeutung für die Verbindlichkeit, die wissenschaftlichen Erkenntnissen zugesprochen wird. Aus der Perspektive einer „konstruktivistischen“ Grundhaltung erscheinen soziale Phänomene nicht als objektive Gegebenheiten, die in theoretischer Distanz streng „wertneutral“ erfasst werden könnten. Sie sind aus dieser Warte vielmehr Produkt eines Erkenntnisprozesses, in den auch das eigene Vorverständnis des Forschenden und seine persönliche Beziehung zum Forschungsthema einfließen (Singelnstein und Kunz 2021). Wie die Sozialwissenschaften generell kann auch die Kriminologie nach dieser Vorstellung nicht mit der Autorität einer „exakten“ Wissenschaft auftreten, die aufdeckt, was unabhängig vom menschlichen Denken „gegeben“ ist (Eisenberg und Kölbel 2017).

All dies drängt die Kriminologie allerdings in keine Sonderrolle. Allenfalls wird in der Kriminologie besonders intensiv über die Verbindlichkeit von Forschungsergebnissen diskutiert, ohne dass hier jedoch spezifische Herausforderungen für die Kriminologie auszumachen sind. Vielmehr geht es um allgemeine Fragen der Erkenntnisgewinnung mit genereller Bedeutung für die Wissenschaft, für die Kriminologinnen und Kriminologen allerdings eine besondere Leidenschaft entwickelt haben. Präsent sind die angesprochenen methodischen Grundfragen fächerübergreifend: So interessiert man sich beispielsweise in Philosophie, Psychiatrie oder Psychologie ebenfalls für die Frage, inwieweit (psychische) Phänomene – als Teil eines geschlossenen Systems von objektiv-messbaren und kausal-determinierten Umständen – über (Natur‑)Gesetze auf Ursachen zurückgeführt werden können. Auch hier wird die Notwendigkeit postuliert, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und die Vorstellungen und Sinnzuweisungen zu verstehen, die einem Verhalten zugrunde liegen (Mezger 1918). Auch müssen juristische Entscheidungen „institutionelle Tatsachen“ (Searle 1969), d. h. auf menschlichen Übereinkünften und sozialen Zuschreibungsprozessen beruhende Umstände, berücksichtigen, soweit es darauf für die rechtliche Bewertung ankommt (Toepel 2002).

Notwendige Anpassungen

Praktisch wichtiger als erkenntnistheoretische Grundfragen sind Anpassungen der Erkenntnisregeln an die Bedürfnisse der Forensik. Denn wenn kriminologische Erkenntnisse beispielsweise mit dem Ziel gewonnen werden, kriminalpolitische Entscheidungen zu unterstützen, dann sind sie nicht ohne Weiteres auch für Einzelfallentscheidungen in der Strafrechtspraxis von Bedeutung. Wissen in einem „theoretischen“ oder „statistischen“ Aggregatzustand etwa ist bei der konkreten Arbeit „am Fall“ nicht direkt nutzbar. Zum Beispiel verbietet sich sowohl von der Logik der Statistik als auch vom Individualisierungsgedanken des Strafrechts her besehen, aus statistischen Befunden über Gruppen eine Tendenz für den Einzelfall abzulesen (Bock 2009a).

Kernaspekt für Anpassungsnotwendigkeiten ist dabei der Einzelfallbezug in der Forensik. Strafrechtliche Sanktionen und damit zusammenhängende Entscheidungen ergehen immer höchstpersönlich. Somit reicht für ihre Legitimierung beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe (und damit das Vorliegen von Merkmalen, die statistisch mit Kriminalität korrelieren) gerade nicht aus. Niemand würde bei seriöser Betrachtung etwa eine Täterschaft damit begründen, dass der Verdächtige zu einer Gruppe gehört, die (wie z. B. Heranwachsende) überdurchschnittlich häufig straffällig wird. Im Bereich von Gefährlichkeitsbeurteilungen gehen die Argumentationsmuster hingegen eher in diese Richtung, etwa wenn ein bestimmter Umstand, der bei Rückfalltätern gehäuft auftritt, ungeprüft als Risikofaktor individuell zugerechnet wird. Ob ein solcher Umstand in einem konkreten Beurteilungsfall mit krimineller Gefährdung im Zusammenhang steht, lässt sich nur im Wege einer gesonderten Relevanzprüfung unter Berücksichtigung der konkreten Einzelfallumstände ermitteln (s. oben). Nicht gerechtfertigt ist dabei insbesondere die – scheinbar plausible – Annahme, dem Einzelfall wohne eine „Tendenz“ inne, sich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit so zu verhalten, wie es die Häufigkeitsverhältnisse der Gruppe nahelegen. Das Vorhandensein von Umständen, deren Risikorelevanz statistisch ermittelt wurde, belegt keineswegs ein individuelles Risiko.

Auch erzeugt die kriminologische Einzelfallbeurteilung ein besonderes Kausalitätsbedürfnis, das v. a. auf das oben skizzierte Verstehen des Sinns und der Bedeutung von Handlungen gerichtet ist. Wissen über die gesetzmäßige oder statistische Verknüpfung von Kriminalität mit bestimmten Umständen reicht dafür nicht aus. Gefordert ist vielmehr ein „Fremdverstehen“, das die (Zweck‑, Wert- und Richtigkeits‑)Rationalität eines Handelns ebenso wie Affekte oder individuelle Ausgangslagen berücksichtigt. Hingegen befriedigt die Kenntnis reiner Kausalbeziehungen den Erklärungsanspruch nur bei solchen Verhaltensweisen, die Durchgangsstadium biologischer, chemischer oder neuronaler Prozesse sind und bei denen es nichts zu verstehen gibt (Göppinger 2008). Für Einzelfallbeurteilungen in der Forensik ist in der Regel der jeweilige Sinngehalt einer Handlung zu erfassen, womit eine „personale Kriminologie“ gefordert ist, die im Menschen mehr sieht als den Träger einzelner Merkmale (Dölling 2016).

„Forensische Kriminologie“

Folgerichtig hat sich die Kriminologie in den letzten Jahren wieder verstärkt der Forensik zugewandt. Inzwischen gibt es innerhalb der kriminologischen Gesellschaft eine Sektion „Forensische Kriminologie“, die sich u. a. der Sicherstellung von fachlichen Standards für forensisch tätige Kriminologinnen und Kriminologen widmet. Im Rahmen eines fachlichen, von einer Steuerungsgruppe koordinierten Austauschs – an dem sich für eine breite fachliche Basis jeder beteiligen kann –, wird hier an der Etablierung von Organisationsstrukturen für die forensische Praxis und an der Definition von Qualifikations- bzw. Qualitätskriterien für forensisch tätige Kriminologinnen und Kriminologen gearbeitet. Auch bietet die Sektion eine Plattform für den Austausch von Forschungsergebnissen und für einen Wissenstransfer von der Forschung in die forensische Praxis sowie umgekehrt.

Mit „Forensischer Kriminologie“ ist dabei ein Tätigkeitsfeld innerhalb der Kriminologie gemeint, das kriminologische Erkenntnisse in die Praxis der Strafrechtspflege einbringt. Dabei bleiben – in Abgrenzung zur im angloamerikanischen Raum verwendeten Bezeichnung „forensic criminology“ – technische bzw. naturwissenschaftliche Verfahren im Dienste der Tataufklärung außen vor, was allerdings schon durch die in Deutschland übliche Differenzierung zwischen Kriminologie und Kriminalistik festgelegt ist. Die „forensic criminology“ hingegen befasst sich mit Kriminalität und ihren Ursachen „to address legal and investigative questions“ (https://annamaria.edu/academics/undergraduate-studies/forensic-criminology/, zugegriffen 06. Sept. 2022). Die hier beschriebene „Forensische Kriminologie“ entspricht eher dem international gebräuchlichen Begriff der „clinical criminology“, der sich auf ein Teilgebiet der „criminology“ (als „interdisciplinary super-profession“) mit eigenständigen Aufgaben im Verhältnis von Recht und Psychowissenschaften bezieht (Silfen und Ben-David 1993).

Begrifflich zu unterscheiden ist die „Forensische Kriminologie“ auch von der „Angewandten Kriminologie“, womit in einem weiteren Sinn das – an nutzbares Wissen gekoppelte – Einbringen von kriminologischen Perspektiven, Fragestellungen und Erkenntnissen in die Praxis- und Politikberatung bezeichnet werden kann (Kerner 2013; Eisenberg und Kölbel 2017). In einem engeren Sinne wird der Begriff „Angewandte Kriminologie“ aber auch als Eigenname für kriminologische Einzelfallbeurteilungen mit der Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse (Bock 2019) verwendet. Beides deckt sich nicht mit der „Forensischen Kriminologie“, die sich weder umfassend in die Praxis- und Politikberatung (sondern in die forensische Praxis) einbringt noch auf die Methode der idealtypisch vergleichenden Einzelfallanalyse festgelegt ist.

Auch in anderer Hinsicht bestehen keine Bindungen an bestimmte Zielsetzungen, Methoden oder Anliegen. So ist beispielsweise die konstruktivistische Relativierung der Abläufe in der Strafrechtspflege eine Voraussetzung dafür, sich erfolgreich in ihnen zu behaupten (Bock 2009b). Selbst zu einer rigoros kritischen Kriminologie, die das Strafverfolgungssystem insgesamt infrage stellt, besteht kein unversöhnlicher Gegensatz. Denn eine am Einzelfall orientierte Kriminologie, die sich beratend in Strafverfolgungsprozesse einbringt, kann selbstverständlich kritische Distanz zu institutionellen Perspektiven wahren und für eine etikettierungstheoretische Dekonstruktion sensibilisiert sein (Eisenberg und Kölbel 2017). Dabei sind Praxisbezüge ohne Weiteres in einer Weise herstellbar, bei der die Autonomie der Wissenschaft nicht beeinträchtigt wird (Dölling 2016). Ebenso wenig schließt ein Engagement in der Forensik die Befassung mit Grundfragen aus. Im Gegenteil ist Forensische Kriminologie ohne Rückgriff auf generelle Zusammenhänge und deren Erprobung nicht denkbar.

Fazit

Die Kriminologie ist eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin, deren Engagement in der Forensik vom Gesetzgeber ausdrücklich eingefordert wird. Ohne Rückgriff auf kriminologisches Wissen vermag das Strafrecht seine Aufgaben nicht zu erfüllen. Nach einer wissenschaftstheoretisch und -geschichtlich begründeten Phase weitgehender „Abstinenz“ nimmt die Kriminologie inzwischen wieder verstärkt ihre Zuständigkeit und Verantwortung in der Forensik wahr, wobei sie in der eigenständigen Sektion „Forensische Kriminologie“ innerhalb der kriminologischen Gesellschaft nun auch formal organisiert ist. Vor allem hier werden Forschungen mit forensischem Anwendungsbezug sowie Angebote für wissenschaftliche Dienstleistungen im Innen- und Außenverhältnis der Kriminologie gebündelt. Dazu gehören beispielsweise Aus- und Weiterbildungsangebote für Sachverständige, Sachverständigengutachten oder Schulungen für Personen, die außerhalb des Sachverständigenwesens forensisch tätig sind. Dabei bietet die Forensische Kriminologie vielfältige Kontaktstellen und Perspektiven für die forensische Praxis, die es im Sinne einer rationalen und evidenzbasierten Strafrechtspflege auszubauen und weiterzuentwickeln gilt.