Im Jahr 2018 erschütterte eine Amokfahrt in Toronto die Öffentlichkeit. Ein 25-jähriger Attentäter fuhr mit einem Lieferwagen in die Fußgängerzone und tötete 10 Menschen, 15 weitere Personen wurden verletzt. Die Opfer waren mehrheitlich Frauen. Es gibt Hinweise darauf, dass der Täter der sogenannten Incel-Subgruppe angehörte und Frauenhass ein Motiv für die Tat war. Wenige Minuten vor der Tat veröffentlichte der Täter folgenden Post: „Die Incel-Rebellion hat bereits begonnen. Wir werden alle Chads und Stacys stürzen“ (Süddeutsche Zeitung 2018). Der Attentäter von Toronto sympathisierte mit Elliot R., der 2014 in Südkalifornien 6 Menschen getötet und in einem online veröffentlichten Video vor dem Angriff erklärt hatte, seine Gewalttaten seien durch soziale Ablehnung, insbesondere romantische Ablehnung durch Frauen, motiviert (Pelzer et al. 2021, S. 213).

Der soeben verwendete Begriff Incel leitet sich von „involuntary celibate“, zu Deutsch „unfreiwillig zölibatär“, ab und bezeichnet eine Online-Gemeinschaft von Männern, die keine Partnerin finden und sich daher entrechtet fühlen.

Die Bezeichnungen „Chad“ und „Stacy“ stehen in einschlägigen Internet-Foren jeweils für Abwertungen, wobei mit „Chad“ gutaussehende, muskulöse, große und wohlhabende Männer bzw. Männer bezeichnet werden, die anderweitig einen hohen Status haben, aber von Incel-Gruppierungen abgelehnt werden. Das Gleiche gilt für die als „Stacy“ betitelten attraktiven und sexuell promiskuitiven Frauen (Moskalenko et al. 2022, S. 3), während weniger attraktive Frauen „Beckys“ genannt werden (Menzie 2022, S. 69 ff.).

Die internetbasierte Incel-Subkultur hat sich in den letzten Jahren aus einer Anzahl von verschiedenen digitalen Plattformen entwickelt (Pelzer et al. 2021). Sie manifestiert sich ausschließlich online und folgt keiner klar abgrenzbaren Ideologie. Was diese Subkultur von Männern eint, sind ihr empfundener Mangel an Liebe und das fehlende Sexualleben sowie das Gefühl, nie Anerkennung von Frauen zu erhalten. Incels glauben an den biologischen Determinismus, der besagt, dass 80 % der Frauen nur 20 % der Männer begehren, d. h. nur solche Männer, die reich und/oder attraktiv sind und dem Ideal der Männlichkeit entsprechen (Moskalenko et al. 2022, S. 3). Diese Gefühle und Gedanken münden in Enttäuschung und Einsamkeit. Incels sehen Frauen, die sie zurückweisen, als Verantwortliche für ihr unfreiwilliges Zölibat. Sie behaupten, der Feminismus sei zu weit gegangen und/oder Männer seien tatsächlich das zu Unrecht unterdrückte Geschlecht (Ging 2019).

Die Incel-Ideologie basiert außerdem auf der Vorstellung, dass der Feminismus die Gesellschaft ruiniert habe, und dass es nun an der Zeit für eine „Geschlechterrevolte“ sei. Der Feminismus hätte dazu geführt, dass die natürliche Ordnung in Form monogamer heterosexueller Partnerschaften in der Gesellschaft durcheinandergebracht worden sei. Die Folge: Körperlich attraktive junge Frauen („Stacys“) schliefen mit den körperlich begehrenswertesten Männern („Chads“) (Zimmerman et al. 2018, S. 1), aber auch die weniger attraktiven Frauen („Beckys“) würden ausschließlich die körperlich attraktivsten Männer begehren (Menzie 2022, S. 69 ff.). In der Incel-Subkultur wird dieses Verhaltensmuster oft als eine Form des Diebstahls gesehen, bei dem der vermeintlich berechtigte Zugang aller Männer zu Frauenkörpern durch die Vorliebe der Frauen für begehrenswerte Männer vereitelt werde. Die Incels sehen sich selbst als Opfer des Feminismus, den es schließlich zu unterdrücken gelte (Zimmerman et al. 2018, S. 1).

Ein weit verbreitetes Konzept innerhalb der Incel-Kultur ist die „Pillen-Metapher“. Sie lehnt sich an eine Szene aus dem Film Die Matrix aus dem Jahre 1999 an, in der der Protagonist die Wahl zwischen der Einnahme zweier Pillen besitzt (Pelzer et al. 2021, S. 4). Während die rote Pille düstere, geheime Wahrheiten über die Welt offenbart, bedeutet die Einnahme der blauen Pille, ein Leben in Wahnvorstellungen zu führen. Nach der Incel-Ideologie glauben diejenigen, die die blaue Pille eingenommen haben, dass Persönlichkeit wichtig sei, um Frauen anzuziehen, dass die Gesellschaft i. Allg. fair sei, und dass sich harte Arbeit auszahle. Die rote Pille steht hier dagegen für die Überzeugung, dass Genetik und Aussehen den gesamten romantischen Erfolg bei Frauen bestimmen würden. Weniger gutaussehende Männer könnten ihre Chancen erhöhen, indem sie ihr Aussehen verbessern (z. B. durch plastische Chirurgie) (#S. 4). Die schwarze Pille steht in dieser Vorstellungswelt für die noch weitergehende Ansicht, dass Verbesserungen unmöglich seien. Innerhalb der Incel-Community wird diskutiert, ob nur diejenigen, die diese letzte Ansicht vertreten, als wahre Incels gelten sollten (Preston et al. 2021).

Online-Gruppen tragen zur Radikalisierung der Incel-Subkultur bei. Die Diskussionen erfolgen in der Regel nicht über große Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter, sondern in von Incels betriebenen Foren oder in Foren, die von Privatpersonen initiiert werden, die mit der Incel-Subkultur sympathisieren. Digitale Plattformen der Incel-Subkultur weisen ein toxisches Diskussionsklima auf, in dem Vergewaltigungsfantasien, Suizidpläne und eine Verherrlichung von Massenmördern Platz haben (Pelzer et al. 2021, S. 213). Aber auch Selbsthass und Selbstabscheu sind keine Seltenheit unter den Incels (#S. 213). In einigen Fällen, wie anhand des Toronto-Attentats exemplarisch aufgezeigt, wurden Einsamkeit und Hass als so überwältigend empfunden, dass sie in Massenmord mündeten.

Tödliche Angriffe von Tätern, die der Incel-Subkultur angehören, haben u. a. die Sicherheitsdienste in den USA, Kanada und Großbritannien dazu veranlasst, Incels als gewalttätige extremistische Bedrohung einzustufen (Moskalenko et al. 2022). Im Hinblick auf das Verständnis von Incels und bezüglich der Einstufung einer potenziellen Gefahr für die Öffentlichkeit, die von diesem Personenkreis ausgeht, besteht Forschungsbedarf. Die bisherigen Studien wurden überwiegend in den letzten Jahren durchgeführt, was darauf hindeutet, dass es sich bei der Incel-Gemeinschaft um ein Phänomen handelt, das erst in jüngster Zeit in den Fokus der Wissenschaft rückte.

Pelzer et al. (2021) untersuchten die toxische Sprache innerhalb von Incel-Communities im Internet. Hierfür betrachteten sie 3 bekannte Incel-Foren (incels.co, looksmax.me und lookism.net; Pelzer et al. 2021, S. 1). Dabei zeigte sich, dass Incel-Foren im Vergleich zum allgemeinen Internet mehr toxische Inhalte aufweisen (#S. 13), die sich verschiedenen Kategorien von Toxizität zuordnen ließen. Der größte Anteil der Kommentare war gegen Frauen gerichtet und äußerte sich toxisch in Form von abwertenden Begriffen, negativen Kommentaren über das Aussehen, das Verhalten und die Denkweise von Frauen sowie in einigen Fällen als Aufrufe zu oder Fantasien über Gewalt gegen Frauen. Frauen seien von ihrer animalischen Natur beherrscht und zu unabhängigen Entscheidungen oder zu tieferen Gefühlen nicht fähig. In den einschlägigen Foren werden sie als eine Art natürliche Ressource betrachtet (#S. 14). Daneben gab es hier auch zahlreiche Beiträge, die einen Hass gegen das „System“ und gegen „normale“ Menschen ausdrückten. Überdies wurden u. a. Hass gegen Incels selbst (etwa indem Incels behaupten, dass sie Incels als Gruppe hassen), Selbsthass und rassistische Äußerungen neben einigen weiteren als vorherrschende Inhalte der Postings identifiziert (#S. 12).

Die Toxizität unterscheidet sich innerhalb der untersuchten Foren, was mit einer unterschiedlichen Ausrichtung der Foren im Zusammenhang stehen könnte. So konzentriert sich das Forum „incels.co“ auf Hoffnungslosigkeit und die Ideologie der Incels, während die beiden anderen Foren (looksmax.me und lookism.net) den Fokus stärker auf Selbstverbesserung legen (#S. 14).

Die Autoren der Studie kamen zu dem Ergebnis, dass Incel-Foren dem Anschein nach ein Bedürfnis befriedigen würden, und die Begegnung mit anderen, die sich in der gleichen Situation befänden, zu einem Gefühl der Zugehörigkeit beitrage. Da die Welt außerhalb der Foren als feindlich dargestellt werde und kleine Details des Aussehens einer Person als unüberwindbare Hindernisse dargestellt würden, werde die instrumentelle Sicht auf Sex und Beziehungen noch verstärkt (#S. 18). Im Gegensatz zu politischen Extremisten hätten Incels kein gemeinsames Ziel und keine Utopie, die sie anstreben würden (#S. 19). Während einige zu einer stärker patriarchalischen Gesellschaft zurückkehren wollten, hätte eine Vielzahl der User in den Foren keine ersichtliche Vision für die Gesellschaft. Während die Anhänger der Black-Pill-Bewegung glaubten, dass die Evolution und die menschliche Natur sie zu lebenslangem Leiden verurteilt hätten, konzentrierten sich viele andere Incels v. a. auf ihre eigene Situation. Im Gegensatz zum Selbstbild anderer Extremisten, das oftmals durch eine Überhöhung gekennzeichnet sei, präge das Selbstbild der Incels oftmals eine Selbstverachtung (#S. 19).

Daly und Reed (2022) analysierten die Situation, die Einstellung und die Erfahrung von 10 Incels. Die Interviewten berichteten von wahrgenommenen Herausforderungen an ihre Männlichkeit, die eine romantische Beziehung ihrerseits beeinträchtigen würden. Weiter führten die Befragten aus, dass sie sich aufgrund ihres Aussehens oder anderer Merkmale von der Gesellschaft ausgegrenzt oder als „Untermenschen“ behandelt fühlen würden (#S. 21 f.). Dies löse negative Gefühle bei den Befragten aus und wirke sich in der Folge auf den Glauben an die Black-Pill-Ideologie und das Online-Verhalten, wie z. B. eine Bereitschaft zum „Shitposting“, aus (#S. 15).

Die Ideologie der Incels sowie ihre seelische Gesundheit und Radikalisierung analysierten Moskalenko et al. (2022) auf Grundlage einer Onlinebefragung mit 274 aktiven Incels (#S. 7 f.). Die Mehrheit der Befragten berichtete von durch Mobbing oder Verfolgung als Incel verursachtem psychologischem Trauma (#S. 10). Darüber hinaus gaben einige der Befragten an, an diagnostizierten und/oder nichtdiagnostizierten Depressionen, Angstzuständen und Störungen aus dem Spektrum des Autismus zu leiden und wenig Hilfe im Rahmen der Psychotherapie erhalten zu haben (#S. 9 ff.).

Untersucht wurde auch, ob ein Zusammenhang zwischen psychischen Merkmalen, Mobbing- sowie Verfolgungserfahrung und der Ideologie sowie einer Radikalisierung besteht, wobei ein Bezug zur Ideologie anhand von Fragen zur Black-Pill-Ideologie gemessen wurde. Dabei zeigte sich, dass Mobbingerfahrung und ein diagnostizierter Autismus signifikant mit Radikalismus korrelierten (r = 0,18; p < 0,01), nicht aber mit der Ideologie. Prädiktoren für die Ideologie waren diagnostizierte Angstzustände (r = 0,27; p < 0,01) und die Erfahrung, als Incel verfolgt worden zu sein (r = 0,13; p < 0,05). Depression und autistische Züge korrelierten sowohl mit der Ideologie als auch mit der Radikalisierung, wobei die selbstberichtete Depression einen besseren Prädiktor für die Ideologie darstellte (r = 0,27; p < 0,01). Demgegenüber korrelierte ein selbstberichteter Autismus stärker mit Radikalisierung als mit der Ideologie (r = 0,22; p < 0,01) (#S. 17). Mit 79 % lehnte die Mehrheit der Befragten Gewalt ab (#S. 20). Eine Faktorenanalyse zeigte, dass Ideologie und Radikalität in der Stichprobe als 2 getrennte Faktoren zu betrachten sind, die nicht stark korrelierten (#S. 19). Das Bekenntnis zur Incel-Ideologie war kein guter Prädiktor für die Radikalität der Befragten. Ähnlich verhielt es sich umgekehrt: Radikale Einstellungen oder Absichten waren kein geeigneter Prädiktor zur Vorhersage der Incel-Ideologie. Der Befund steht im Einklang mit Untersuchungen zu anderen radikalen Gruppen (#S. 19).

Wood et al. (2022) zeigten in einer Untersuchung Überscheidungen zwischen Incels und anderen Formen von Extremismus und Terrorismus auf. Hierzu analysierten die Autoren die Lebensgeschichten von 15 Männern, die der Incels-Subkultur angehörten, mittels einer „Crime Script Analysis“ (#S. 3). Die untersuchten Quellen waren u. a. Nachrichtenberichte, Gerichtsakten, Regierungserklärungen und allgemeine Nachrichtenforen (#S. 4). Eingeschlossen wurden Fälle, bei denen der Täter den Angriff entweder ausgeführt hatte oder vor Begehung der geplanten Tat inhaftiert wurde. Die Fälle betrafen mehrheitlich die USA, gefolgt von Kanada und Deutschland. Im Durchschnitt wurden 4 Personen bei den Anschlägen getötet und durchschnittlich 5 Personen verletzt. Die in die Stichprobe aufgenommenen Täter wiesen negative oder ungünstige frühkindliche Erfahrungen auf. Das Gefühl von Ausgrenzung und Ablehnung findet sich nicht nur bei Incels, sondern zeigte sich auch in Kriminalitätsskripten anderer Täter, wie z. B. bei Extremisten. Es wurde in der Extremismusforschung festgestellt, dass Ausgrenzung ein Risikofaktor für die Begehung von Straftaten ist (#S. 10). Bei mehreren Tätern zeigten sich antisoziale und abweichende Verhaltensweisen sowie psychologische Probleme wie z. B. Stalking, Belästigung und Hasskommentare in Online-Foren (#S. 6 f.). Die genannten Auffälligkeiten könnten als Frühwarnzeichen für die Entwicklung einer frauenfeindlichen Denkweise gesehen werden. Außerdem verfassten einige der in die Studie eingeschlossenen Täter ein Manifest über ihre Lebenserfahrungen oder schilderten ihre Absichten per Live-Stream (#S. 8).

In der Literatur wird darüber hinaus zwischen gewalttätigen und nichtgewalttätigen Extremisten unterschieden. Als bedeutsamer Unterschied zwischen den beiden Gruppen gilt, dass gewaltlose Extremisten ihre Ideen online und in sozialen Gruppen verbreiten, während gewalttätige Extremisten an der Planung eines Anschlags interessiert sind. Ähnliche Verhaltensmuster finden sich vermutlich auch bei der Gruppe der Incels (#S. 10).

Unbeantwortet bleibt, ob der radikalisierte Online-Diskus die Incel-Gemeinschaft als Ganzes charakterisiert oder vielmehr eine kleine radikale Untergruppe abbildet (Moskalenko et al. 2022, S. 6). In Untersuchungen wurde festgestellt, dass lediglich ein kleiner Anteil von Incel-Forum-Usern für einen unverhältnismäßig großen Teil an Hasskommentaren verantwortlich ist (Baele et al. 2021; Jaki et al. 2019).

Die empirischen Befunde zeigen darüber hinaus auch, dass die Incel-Gemeinschaft eine Vielfalt an unterschiedlichen Usern vereint. Um zukünftig von Incels verübte Angriffe zu verhindern, ist es notwendig, potenzielle Täter in Social-Media-Netzwerken aufzuspüren. Dazu ist das Incel-Phänomen weiter zu erforschen, um individuelle, kulturelle und gesellschaftliche Faktoren zu identifizieren, die zur Entstehung und zur Verbreitung dieser Online-Gemeinschaft geführt haben. Insbesondere ist erforderlich, Verhaltensprädiktoren für die von Incels begangenen Angriffe zu gewinnen. Linguistische und inhaltliche Analysen von Kommentaren in Online-Foren könnten beispielsweise Einblicke in die Interaktion zwischen den Incel-Usern geben. All dies zeigt, dass die Incel-Community eine Herausforderung für die Wissenschaft und Praxis darstellt.