Das Kapitel 6A2 des Entwurfs der ICD-11

Der Entwurf der ICD(International Classification of Diseases)-11 sieht vor, die Erkrankungen „aus dem schizophrenen Formenkreis“ in einem Kapitel mit dem Titel „Schizophrenie und andere primäre psychotische Störungen“ aufzuführen. Der Begriff „primär“ wurde eingeführt, um die Abgrenzung dieser Störungsgruppe von sekundären psychotischen Störungen zu verdeutlichen; für die Codierung dieser psychotischen Störungen steht ein eigenes Kapitel „sekundäres psychotisches Syndrom“ zur Verfügung. Die (bislang in arabischer, spanischer und englischer Sprache vorliegende) Entwurfsversion der ICD-11 nennt im Kapitel 6A2 neben der Schizophrenie noch die schizoaffektive Störung, die schizotype Störung, die wahnhafte Störung, akute und vorübergehende psychotische Störungen, andere spezifizierte Störungen aus dem Bereich der Schizophrenie und andere primäre psychotische Störungen und Schizophrenie und die Restkategorie anderer primärer psychotischer Störungen, unspezifiziert (Tab. 1).

Tab. 1 Struktur und Codes des Kapitels 6A2 des Entwurfs der ICD(International Classification of Diseases)-11. (WHO 2020)a

Die induzierten wahnhaften Störungen werden nicht mehr eigenständig erwähnt; sie sind bei den wahnhaften Störungen zu subsumieren. Die substanzinduzierten psychotischen Störungen (nicht die Drogenpsychosen!) sollen unter dem Code 6A5 „Symptomatische Manifestationen primärer psychotischer Störungen“ verschlüsselt werden. Hier schlägt sich offenbar nieder, dass einige primäre psychotische Zustände durch Substanzkonsum angestoßen werden, dann aber einen eigendynamischen Verlauf nehmen.

Bei der Überarbeitung des Kapitels wurde in Bezug auf die Schizophrenie eine Neugewichtung der bei dieser Erkrankung diagnostisch wichtigen Symptome vorgenommen. Die Bedeutung der Schneider-Erstrangsymptome wird damit relativiert. Grundlage für die Veränderungen waren Untersuchungen, die auf eine unzureichende klassifikatorische Spezifität der Schneider-Erstrangsymptome hinwiesen, sowie eine fragliche prognostische Relevanz dieser Auffälligkeiten (Nordgaard et al. 2008; Peralta und Cuesta 1999).

In der ICD-11 soll das Vorliegen von mindestens zwei Symptomkategorien nachweisbar sein, wobei (im Gegensatz zum Diagnostischen und Statistischen Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, DSM) das Zeitkriterium nicht bei einem halben Jahr, sondern weiterhin bei einem Monat liegen soll. Eines der die Diagnose stützenden Symptome soll aus den folgenden ersten 4 Symptomkategorien a–d stammen:

  1. a.

    persistierender Wahn,

  2. b.

    persistierende Halluzinationen,

  3. c.

    formale Denkstörungen,

  4. d.

    Erlebnisse der Beeinflussung, Passivität oder Fremdkontrolle,

  5. e.

    Negativsymptome,

  6. f.

    grob desorganisiertes Verhalten, dass sich in jeder Form von zielorientiertem Verhalten bemerkbar macht,

  7. g.

    psychomotorische Störungen, wie katatone Unruhe oder Agitation, Haltungsstereotypien, wächserne Flexibilität, Negativismus, Mutismus oder Stupor.

Darüber hinaus wurde die Möglichkeit, bisherige klinische Subtypen der Schizophrenie in „paranoid“, „hebephren“, „kataton“ und „simplex“ etc. zu klassifizieren, aufgegeben. Auch hier spielte eine Rolle, dass diese Konzepte sich nicht als ausreichend zeitlich stabil erwiesen haben und keine ausreichende Korrelation mit dem Therapie-Outcome gegeben ist (Mattila et al. 2015). Hingegen hatten andere Symptome bzw. deren Ausprägung durchaus Relevanz für die Prädiktion eines Behandlungserfolgs, sodass die klassischen Subtypen neu durch sog. Symptomindikatoren differenziert werden sollen. Diese sollen eine bessere Abstufung verschiedener Schweregrade der Symptomausprägung ermöglichen und werden voraussichtlich für die ganze Gruppe der psychotischen Störungen eingeführt werden. Für die Schizophrenie kommen in Betracht: Positivsymptome, Negativsymptome, Depression, Manie, Psychomotorik und Kognition. Einer besonderen Bedeutung der kognitiven Auffälligkeiten und katatonen Phänomene für eine Behandlungsprognose soll damit besser Rechnung getragen werden. Zusätzlich kann die Verlaufsform einer schizophrenen Psychose klassifiziert werden als „1. Episode“, „multiple Episoden“ und „kontinuierlich“. Insgesamt soll für die psychotischen Störungen mit der Revision ein Schritt in Richtung einer dimensionalen Betrachtungsweise auf psychotische Störungen verbunden sein (Zielasek und Gaebel 2018).

Die schizoaffektiven Störungen rücken in der Aufzählung der psychotischen Störungen im Kapitel 6A an die zweite Stelle und stehen somit nicht mehr am Übergang zu den affektiven Störungen. Damit wird die engere Verwandtschaft mit den schizophrenen Psychosen als mit den affektiven Erkrankungen betont. In der ICD-11 werden schizoaffektive Störungen nun diagnostiziert, wenn in einer Querschnittsbeurteilung sowohl die Symptome der Schizophrenie als auch die mittelschweren oder schweren affektiven Störungen gleichzeitig vorliegen. Eine auf die Lebenszeit bezogene Diagnostik, wie weiterhin im DSM‑5 gefordert, ist nicht mehr vorgesehen.

Die Revision der ICD-11 betont ähnlich wie das DSM‑5, dass eine katatone Symptomatik bei unterschiedlichen psychischen Störungen auftreten kann. Neu finden sich in der ICD-11 psychomotorische Symptome in den Symptomspezifikatoren der primären psychotischen Störungen. Darüber hinaus kann mit einem anderen Code (6A60) eine katatone Symptomatik im Rahmen anderer Erkrankungen (auch der Schizophrenie) codiert werden.

Bedeutung der Neufassung in der ICD-11

Es scheint so, dass die Veränderungen in der ICD-11 keine paradigmatische Veränderung schon früher bestehender Störungskonzepte bedeuten. Einige Forscher hatten mit der Überarbeitung der Klassifikationssysteme die Hoffnung verbunden, diagnostische Prozesse deutlich enger an neurobiologische Grundlagen knüpfen zu können. Obwohl enorme Anstrengungen unternommen wurden, um diesem Bedürfnis gerecht zu werden, bleibt aber die konkrete neurophysiologische Ursache der Schizophrenie weiterhin rätselhaft. Daher wird auch von den Entwicklern der überarbeiteten Version der ICD-11 immer wieder betont, dass die Veränderungen v. a. im Hinblick auf die praktische Anwendbarkeit der Diagnosekriterien abzielen und nicht dazu dienen sollen, sich seit Jahrzehnten in der klinischen Praxis als bewährt erwiesene Störungskonzepte abzuschaffen (Zielasek und Gaebel 2018).

Ein gewichtiger Kritikpunkt an den Überarbeitungen besteht darin, dass es nicht gelungen ist, das im Rahmen von schizophrenen Erkrankungen auftretende Prodromalsyndrom abzubilden. Obwohl diesbezüglich Forschungsbemühungen unternommen wurden, finden diese in der Revision keinen Niederschlag. Die Anstrengungen, die symptomatische Ausprägung im Frühstadium schizophrener Psychosen besser zu erfassen (Schmidt et al. 2015), werden bedauerlicherweise nicht einmal berücksichtigt im Anhang der ICD, in dem Syndrome, die weitere Studien notwendig machen, erwähnt werden (Biedermann und Fleischhacker 2016). Dies wird es für den forensischen Psychiater oder Psychologen gegenüber den Juristen weiterhin schwer machen, von einem Zustand auszugehen, der zwar schwierig diagnostisch zu fassen ist, aber dennoch Relevanz für die forensisch-psychiatrische Beurteilung entfalten kann (s. unten). Die Neuschaffung einer Diagnose diesbezüglich in einem Klassifikationssystem für psychische Störungen wäre für eine forensisch-psychiatrische Argumentation hilfreich gewesen, mit dieser teilweise unbefriedigenden Situation musste aber auch bisher umgegangen werden.

Die Neufassung der Schizophrenie in der ICD-11 scheint – abgesehen von der oben erwähnten Annäherung an ein dimensionales Verständnis der Störung, ohne diese gänzlich zu postulieren – nicht mit einer grundsätzlichen Abkehr vom traditionellen Schizophreniekonzept verbunden zu sein. Im Gegenteil, die Verabschiedung von bestimmten Subtypen führt zu einer Betonung, dass schizophrene Erkrankungen viele (wenn nicht sogar alle) psychischen Funktionen eines Betroffenen alterieren. Wenn bei schizophrenen Patienten bestimmte Symptomkonstellationen wie Stimmenhören oder Wahnideen im Vordergrund der Symptomatik stehen, sind auch andere psychische Bereiche vom Krankheitsprozess betroffen und mehr oder weniger deutlich beeinträchtigt. Die Schizophrenie ist eine Erkrankung, die die gesamte Persönlichkeit eines Betroffenen verändert und labilisiert. Wichtig erscheint an dieser Stelle noch einmal der Verweis auf Kraepelin, der letztlich die schizophrenen Psychosen von den affektiven Psychosen dadurch unterschied (Kraepelin 1893), dass er bei den schizophrenen Verlaufstypen einen „schubweisen“ Verlauf der Störung annahm, sodass auch nach Abklingen akuter Symptomatik eine Restsymptomatik bleibt. Die Schizophrenie geht, auch wenn die psychosoziale Funktionsfähigkeit nach einem Erkrankungsschub wieder weitgehend hergestellt ist, mit Restsymptomen einher (die allerdings minimal sein können). Die Auffassung, dass die schizophren-psychotischen Zustandsveränderungen lediglich vorübergehend die Person und ihre Persönlichkeit betreffen, ist nur selten korrekt. Unter den oben ausgeführten Überlegungen ist es nicht gerechtfertigt zu argumentieren, dass nach Abklingen akuter schizophrener Symptomatik die Betroffenen wieder in einen unauffälligen Normalzustand zurückkehren, es sei denn, man diagnostiziert eine vorübergehende psychotische Störung/Episode. Unter diesen Überlegungen ist es schwierig, bei Betroffenen, bei denen die Erkrankung zudem erstmalig in einer bedeutsamen Phase der Persönlichkeitsentwicklung – der Adoleszenz – auftritt, später von Persönlichkeitsbesonderheiten oder gar einer Persönlichkeitsstörung zu sprechen. Bildlich gesprochen wird es bei solchen Verläufen kaum möglich sein, unter der schizophren-psychotischen „Narbe“ noch auf die dahinterliegende Persönlichkeit zu schließen. Noch einmal soll an dieser Stelle herausgestellt werden, dass auch die Neufassung des Schizophreniebegriffs in der ICD-11 betont, dass es sich um eine Störung handelt, die mit einer Beeinträchtigung vieler psychischer Funktionen einhergeht.

Allerdings rückt die Neufassung der ICD mit der Forderung des Nachweises von Symptomen aus den Auffälligkeiten a–d (s. oben) die paranoid-halluzinatorischen Verlaufstypen schizophrener Psychosen ins Zentrum einer Beschreibung bzw. der Definition dieser psychischen Störung. Dies ist verknüpft mit der Tatsache, dass die als „hebephren“ zu beschreibenden Verläufe in der Neufassung der ICD-11 (wie auch in der Neufassung des DSM) begrifflich nicht mehr auftauchen. Es ist für die Zukunft zu befürchten, dass das Wissen um einerseits besondere affektive Auffälligkeiten („läppischer Affekt“), aber andererseits auch das Konzept von Hecker einer früh einsetzenden Psychose mit erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, v. a. junge Männer betreffend, in Vergessenheit geraten könnte (Jaeger, Becker & Wiegand 2018). Gerade in der forensischen Psychiatrie ist es jedoch notwendig, sich des Wissens um solche Verläufe bewusst zu sein. Gerade in der Altersphase vom Wechsel von der zweiten in die dritte Lebensdekade können sich entwicklungspsychologische Besonderheiten mit den Frühsymptomen schizophrener Störungen mischen, sodass die Abgrenzung dieser Aspekte voneinander schwierig erscheint (Lau und Kröber 2017). Besonders prägnant ist die Vergesellschaftung von Jugenddelinquenz oder gar im Jugendalter einsetzenden dissozialen Entwicklungen durch Hodgins (2008) beschrieben, deren Konzept der „early starters“ eben auf Entwicklungsverläufe bei Straftätern mit manifesten dissozialen Verhaltensstilen verweist, lange bevor diese erst spät mit eindeutiger Symptomatik einer schizophrenen Psychose behandlungsbedürftig werden. Dass es sich bei den Early starters um eine klar abgrenzbare Subgruppe von Straftätern mit der Diagnose Schizophrenie handelt, konnte mittlerweile verlässlich statistisch nachgewiesen werden (Lau et al. 2019). Unabhängig davon, ob man solche Verläufe als „kriminelles Heboid“ bezeichnen sollte, so könnte es in Zukunft gegenüber psychiatrischen Laien als Adressaten im forensisch-psychiatrischen Begutachtungsprozess schwieriger werden, mit den neuen Beschreibungen des schizophrenen Zustandes ohne Differenzierung in Subtypen darzulegen, dass ein Mensch jenseits von Produktivsymptomatik von einem krankhaften Geschehen betroffen ist, insbesondere wenn Psychiatern zukünftiger Generationen durch die verengte Definition der Schizophrenie die Variabilität der Krankheitsverläufe nicht mehr bewusst oder bekannt ist.

Unklar bleibt, inwieweit die Alleinstellung der Katatonie dazu führen wird, dass Phänomene dieser Art weniger häufig als Ausdruck schizophrener Erkrankung gesehen werden. In sehr seltenen Fällen kann ein katatoner Bewährungssturm strafrechtlich relevantes Verhalten bedingen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die „Katatonie“ als Störung verstanden werden wird, die einer der Eingangsvoraussetzungen der §§ 20 oder 21 StGB zugeordnet werden würde. Es erscheint gerechtfertigt, sie der krankhaften seelischen Störung der §§ 20 und 21 StGB zuzuordnen.

Schizophrenie und Straffälligkeit

Die Forschung zum Zusammenhang zwischen der Diagnose Schizophrenie und Straffälligkeit hat mittlerweile relativ verlässlich zeigen können, dass Personen mit der Diagnose Schizophrenie mit einem erhöhten Risiko belastet sind, Straftaten zu begehen. Dieses erhöhte Risiko ist sowohl beschrieben für Straffälligkeit im Allgemeinen als auch für Gewaltstraftaten und insbesondere für Tötungsdelikte (Fazel et al. 2009; Wallace et al. 2004; Tiihonen et al. 1997). Der Zusammenhang zwischen der Diagnose Schizophrenie und Straffälligkeit ist komplex. In dem Moment, indem ein Straftäter mit Schizophrenie identifiziert wird, hat er oder sie schon eine lange Geschichte von emotionalen und Verhaltensproblemen hinter sich, mit motorischen Auffälligkeiten, häufig tendenziell niedrigerer Intelligenz und Schwierigkeiten in der sozialen Kompetenz (Hodgins 2020). Diese Schwierigkeiten sind häufig verknüpft mit schulischen Schwierigkeiten und niedrigeren Niveaus der psychosozialen Funktionsfähigkeit; viele schizophrene Menschen haben auch Viktimisierungserfahrung. All diese Faktoren begünstigen eine Entwicklung hin zur Schizophrenie, jedoch ebenso auch zur Straffälligkeit (Kinoshita et al. 2011). Trotzdem gibt es einen verlässlichen Zusammenhang zwischen Psychopathologie der Schizophrenie und der Begehung von Straftaten auch jenseits anderer wichtiger Einflussfaktoren. Insbesondere chronische Verläufe einer Schizophrenie mit überdauernder, intensiver und unkorrigierbarer Wahnsymptomatik können zu aufsehenerregenden Straftaten führen, wie z. B. bei Attentaten gegen Politiker, bei denen psychotische Menschen über lange Zeit die gefährlichen Straftaten geplant hatten (Kröber und Lau 2010). Der Zusammenhang mit anderen allgemeinen Faktoren für Straffälligkeit ist zwar deutlicher, trotzdem erhöht die Diagnose das Risiko für die Begehung von (Gewalt‑)Delikten (Witt et al. 2013). Als wesentliche Faktoren, die immer wieder als relevant für die Entwicklung strafbarer Handlungen bei Schizophrenen ins Spiel gebracht werden, gelten die insuffiziente Therapie, Substanzkonsumstörungen und vorlaufende dissoziale oder kriminelle Verhaltensweisen (bei deren Klassifikation als „Persönlichkeitsstörung“ man Vorsicht walten lassen sollte, s. oben) (Witt et al. 2013; Kröber und Lau 2010).

Schizophrenie und Voraussetzungen der Schuldfähigkeit

Für die Zuschreibung der psychiatrischen Voraussetzungen der Schuldfähigkeit wird man auch weiterhin in den Fokus der Überlegungen rücken müssen, inwieweit zu einem gewissen Zeitpunkt (Tatzeitpunkt) ein Täter in akut schizophrener Verfassung gewesen ist oder nicht. Die Tatsache allein, dass bestimmte Faktoren das Auftreten von Gewaltstraftaten bei Schizophrenen begünstigen, bedeutet ja nicht primär einen kausalen Zusammenhang oder gar einen Automatismus, der in Straffälligkeit münden müsste. Die Erkrankung führt keineswegs im Selbstlauf oder in der Mehrzahl der Fälle zu delinquentem Handeln oder gar zu Gewaltstraftaten. Es erscheint daher berechtigt, in vielen Fällen nicht der Psychose allein, sondern auch komorbiden Störungen (Substanzmissbrauch bzw. Intoxikation oder früheren antisozialen Auffälligkeiten) eine wesentliche Funktion der Delinquenz von Schizophrenen zuzuschreiben.

Im Hinblick auf die Beurteilung, ob die Voraussetzungen beeinträchtigter oder aufgehobener Schuldfähigkeit zu bejahen sind, ist eine genaue Analyse der Tatsituation und der zu diesem Zeitpunkt bestehenden inneren Befindlichkeit des (möglicherweise schizophrenen) Täters nötig. Meist ist gut herauszuarbeiten, dass akute Psychopathologie (speziell Wahn und die Furcht vor Auflösung und Vernichtung) zu den Straftaten führte und sie somit „bedingte“. In anderen Fällen sind besondere psychische Symptome zwar nicht unmittelbar Ursache für eine (teils auch massive) Gegenwehr des psychotisch veränderten Menschen, sie können jedoch mit Furcht und Panik verbunden sein und somit aggressives Verhalten bahnen. Immer wieder ist allerdings ein klares Motiv für bestimmte Taten trotz intensiven Bemühens um eine Analyse der Entstehungsbedingungen unklar. Dies resultiert wahrscheinlich aus der Tatsache, dass sich der schizophren-psychotische Zustand als desorganisierte, verworrene Verfassung darstellt, in dem einerseits Gedankengänge und Motive von den Betroffenen gar nicht klar und bewusst wahrgenommen wurden, andererseits im Nachhinein auch schwierig zu rekonstruieren sind. Die Betroffenen selber, aber auch Ermittlungsbehörden neigen unter Ermittlungsdruck dazu, dem strafbaren Handeln eine Erklärung oder Deutung zu geben. Ein solcher Schritt entlastet die Betroffenen und die ermittelnden Beamten, denn für einen eigentlich unverstandenen Zustand wird nun eine – gelegentlich auch triviale – Erklärung herangezogen und der Zustand somit „verstanden“. Wahrscheinlich spiegelt eine solche Beschreibung der psychotischen Verfassung jedoch nicht wirklich das tatsächliche innere Erleben der Betroffenen wider. Viel wichtiger erscheint daher, dass in der forensisch-psychiatrischen Beurteilung auch Zeugenaussagen neben der eingehenden Exploration dahingehend genutzt werden, für einen Tatzeitpunkt ganz allgemein einen akut psychotischen Zustand zu sichern. Diese akute schizophrene Symptomatik bildet die Grundlage für die Zuschreibung der psychiatrischen Voraussetzungen aufgehobener Schuldfähigkeit unabhängig von der spezifischen Ausgestaltung der Krankheitsphase im Einzelfall.

Der akut psychotische Zustand gilt als „krankhafte seelische Störung“, unabhängig davon, ob er im Rahmen einer Schizophrenie, einer schizoaffektiven Psychose, einer vorübergehenden akuten Psychose oder einer substanzinduzierten psychotischen Störung (oder sogar einer Drogenpsychose) auftritt.

Von juristischer Seite wird verlangt, nach Feststellung eines akut psychotischen Zustands als „krankhafte seelische Störung“ zum Tatzeitpunkt in einem ersten Schritt danach in einem zweiten Schritt darzulegen, inwieweit Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt oder gar aufgehoben gewesen war. Die deutlichen psychopathologischen Veränderungen im Rahmen akut psychotischer Zustände wie der akuten Schizophrenie umfassen Veränderungen des Denkens, des Antriebs, der Gefühle, der Impulssteuerung und der Ich-Grenzen. Sie sind so gravierend, dass nicht von einem „normbezogenen Hemmungsvermögen“ ausgegangen werden kann. Gleichzeitig ist auch die Realitätswahrnehmung so tiefgreifend verändert, dass die Einsichtsfähigkeit in das Rechtswidrige eines Handelns nicht mehr gegeben ist. Die akute psychotische Verfassung im Rahmen von Schizophrenien hebt die bei einem psychisch Gesunden unbeeinträchtigt bestehenden Freiheitsgrade des Handelns weitestgehend auf. Die Denkfunktionen sind basal massiv verändert. Gerade deswegen ist es gerechtfertigt, einen Zustand anzunehmen, in dem Selbstbestimmung und freie Willensbestimmung aufgehoben sind. Psychotisch krank zu sein, bedeutet eine „nicht selbstverschuldete, sondern schicksalhafte Überwältigung der betroffenen Person durch von ihm selbst nicht kontrollierbare Phänomene“ (Kröber und Lau 2010). Das abwägende Zusammenspiel von Wahrnehmungen, Interpretationen und Bewertungen ist krankheitsbedingt massiv verändert und dem eigenen steuernden Zugriff entzogen. Die akut psychotisch bzw. schizophren Kranken sind im akuten Schub krankheitsbedingt „egozentrisch“; die Krankheit macht es dem Betroffenen schwer oder gar unmöglich, sich an sozialen Normen zu orientieren und in konflikthaften Interaktionen durchweg normkonforme Entscheidungen zu treffen. Für die akut psychotischen Zustände im Rahmen von Schizophrenien ist die Annahme, dass psychisch Gesunde die Prozesse im Rahmen einer schizophrenen Psychose nicht nachvollziehen können, am ehesten gerechtfertigt, im Sinne der agnostischen Schule der forensischen Psychiatrie (Schneider 1949). Eine Beurteilung, ob „psychologische“ bzw. strafrechtlich relevante Fähigkeiten erhalten oder beeinträchtigt sind, ist eigentlich nicht sicher möglich (Kröber und Lau 2010; Müller-Isberner und Eucker 2015; Nedopil und Müller 2012).

Wenn Auffälligkeiten des Antriebs beschrieben werden können oder Schwankungen im Affekt und das Verhalten eines Betroffenen insgesamt chaotisch, bizarr und impulsiv geprägt imponiert, so ist es leicht, die massiv verminderte oder aufgehobene Steuerungsfähigkeit zu konstatieren. Wenn Tatmuster ungeordnet wirken (wie bei einem Betrunkenen oder hirnorganisch Beeinträchtigten), so wird man von einer erheblichen Beeinträchtigung oder Aufhebung der situationalen Steuerungsfähigkeit ausgehen können. Viel schwieriger ist es, die Voraussetzungen verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit zu beurteilen, wenn kein im eigentlichen Sinne bizarrer oder chaotischer Zustand beim Betroffenen festgestellt werden kann. Besonders schwer fällt dies, wenn innerhalb des Tatgeschehens noch Handlungsphasen erkennbar sind, die wie normalpsychologisch motiviert imponieren. Aus solchen „verstehbaren“ Handlungsphasen jedoch abzuleiten, das innere Erleben eines Betroffenen wäre zeitweilig nicht von umfassender Psychopathologie geprägt, ist nicht plausibel. Sollten die inneren psychischen Prozesse eines Betroffenen so chaotisch alteriert sein, wäre wahrscheinlich gar keine auch nur im Ansatz zielgerichtete Handlung zu erwarten. Der akute psychotische Zustand geht jedoch nicht mit einer getrübten Bewusstseinslage in diesem Sinne einher. Vielmehr ist ein Nebeneinander von gesund wirkenden und eindeutig krankhaft veränderten Denk- und Entscheidungsprozessen zu erwarten.

Aber auch eine durchweg sorgfältige Planung und Zielstrebigkeit der Tat eines schizophrenen Täters bedeutet nicht, dass sich daraus nun erhaltene Steuerungsfähigkeit ableiten ließe. Mit Steuerung ist nicht allein Kontrolle gemeint, sondern die Fähigkeit zum einsichtskonformen Verhalten. Auch diese ist bei besonnen handelnden Wahnkranken aufgehoben. Deren motivationsbezogene Steuerungsfähigkeit ist jedoch durch paranoides Erleben und Ausdeuten der Welt verändert. Die Straftat hat ihren Ursprung in einer krankhaft entstandenen Überzeugung. Sie wäre ohne paranoide Idee nicht zustande gekommen. Selbst wenn die Handlungsfolge hin zu einer Straftat durch einen paranoid veränderten Schizophrenen nachvollziehbar erscheint (s. unten), so ist doch der Zustand des Betroffenen vergesellschaftet mit Veränderungen auch anderer psychischer Funktionen, sodass umso mehr die Beurteilung der Verfassung eines von Schizophrenie betroffenen Beschuldigten ihn weit wegrückt von einem psychischen Normalzustand. Gestörte Affektivität und Antriebslage tragen zusätzlich dazu bei, dass von Schizophrenie Betroffene Impulse nicht mehr ausreichend steuern können, zumal auch die Emotionsregulation durch chronische Erkrankung beeinträchtigt sein kann. Insbesondere Wut- und Ärgeraffekte sind mit der Wehrhaftigkeit akut schizophren Kranker verknüpft (Coid et al. 2018).

Letztendlich geht die Zuschreibung der Voraussetzungen aufgehobener Schuldfähigkeit für die akut psychotischen Zustände im Rahmen schizophrener Psychosen von einem erfahrungsgespeisten Konsens aus, hier die aufgehobene Schuldfähigkeit zu konstatieren.

Oben wurde ausgeführt, dass die Prodromalsymptomatik leider in der zukünftigen Version der ICD weiterhin nicht verschlüsselt werden kann. Trotzdem ist die Kenntnis um solche Vorläuferphasen schizophrener Psychosen, die sogar über einige Jahre bestehen können, von Bedeutung für die forensisch psychiatrische Beurteilung der Schuldfähigkeit. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass diese Vorlauf- oder auch Abklingphasen einhergehen mit Auffälligkeiten des Persönlichkeitsgefüges bzw. neuropsychologischen Auffälligkeiten, die auch diagnostisch nachgewiesen werden können. Es ist daher dabei eben auch von beeinträchtigten Denkabläufen und nicht ausreichend gedanklichen Steuerungsmechanismen auszugehen. Durch schizophrene Symptomatik, auch noch nicht stark ausgeprägte, unterliegen Betroffene schon in der Prodromalverfassung einem krankhaft veränderten Weltbezug, sodass auch hier zumindest eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit plausibel angenommen werden kann.

Dieses wird besonders wichtig bei der Beurteilung von hebephrenen Verläufen, die gelegentlich als entwicklungspsychologische Anpassungsbeeinträchtigungen eines Jugendlichen oder jungen Erwachsenen imponieren. Hier zeigt sich aber, dass die Fehlattribuierung der Verhaltensauffälligkeiten auf Persönlichkeitsaspekte verhindert, dass über die Annahme eines psychotischen Zustandes die Voraussetzungen beeinträchtigter oder gar aufgehobener Schuldfähigkeit diskutiert werden. Bedacht werden sollte, dass frühe psychotische Verläufe im Sinne einer Schizophrenie viel weniger häufig mit Wahnsymptomatik und Halluzination einhergehen als vielmehr mit Auffälligkeiten der Stimmung, sozialem Rückzug oder auch unangepasstem bzw. „verantwortungslosem“ Verhalten (zitiert aus der ICD-10). Bei der Beurteilung von Täterinnen und Tätern mit einer gewissen dissozial geprägten Vorgeschichte am Wechsel von der zweiten in die dritte Lebensdekade sollte besonders geachtet werden auf Auffälligkeiten mit bizarrem Charakter oder abrupten Schwankungen. Hier könnte sich eben ein psychotischer Prozess manifestieren, der umso mehr die Beurteilung der Voraussetzungen der Schuldfähigkeit über das Konstrukt der Annahme einer psychotischen Verfassung in Richtung erheblich verminderter oder gar aufgehobener Steuerungsfähigkeit beeinflussen würde.

Es geht darum, für die Tat eines von Schizophrenie Betroffenen eine plausibles Fallverständnis zu entwickeln. Dieses kann einerseits genutzt werden für die Beurteilung der psychiatrischen Voraussetzungen der Schuldfähigkeit, andererseits leiten sich daraus auch prognostische Überlegungen ab, die im Hinblick auf die Voraussetzungen der Maßregeln der Besserung und Sicherung nützlich sind und auch die Weichen stellen für eine adäquate (und somit potenziell effektive) Therapie im Maßregelvollzug.