Bei der Untersuchung von Straftaten geben Augenzeugen Informationen über Täter, die Straftat und mögliche Umstände. Insbesondere in Fällen, in denen andere forensische Beweise fehlen, stützen sich Ermittlungsbehörden auf Personenbeschreibungen und Personenidentifizierungen, um Straftäter zu finden bzw. zu überführen. Probleme mit dem Beweiswert von Personenidentifizierungen wurden wiederholt im Laufe der Geschichte des Strafrechts dokumentiert (Sporer 2008). Mehrere Tausend wissenschaftliche Artikel wurden seit Anfang der 1970er-Jahre über das Wiedererkennen von Gesichtern bzw. Personen publiziert (z. B. Loftus 1979; Shepherd et al. 1982; Yarmey 1979), jedoch blieben diese Studien von rechtlichen Entscheidungsträgern oftmals unbemerkt. Mitglieder des Rechtssystems (d. h. Ermittlungsbeamte, Staatsanwälte und Richter) begannen mit einer erhöhten Sensibilität auf das Problem der Falschidentifizierungen zu reagieren, als immer mehr fälschlich verurteilte Personen durch DNA-Analysen entlastet wurden und ein großer Teil dieser Fälle neben anderen Faktoren auch Falschidentifizierungen aufwies (Garrett 2011). Zugleich ist jedoch zu bedenken, dass Justizirrtümer in diesen Fällen auf ein Zusammenspiel von multiplen Faktoren zurückzuführen waren, zu denen nicht nur Falschidentifizierungen, sondern u. a. auch fälschliche Beurteilungen des Beweiswertes von Identifizierungsaussagen und anderer Beweismittel gehörten.

In Anlehnung an das integrative Modell von Augenzeugenaussagen und deren Evaluation (Sporer 2008) können Personenidentifizierungen auf 3 Ebenen betrachtet werden:

  1. 1.

    der Informationsverarbeitungsebene,

  2. 2.

    der Metagedächtnisebene und

  3. 3.

    der Beurteilungsebene.

Diese 3 Ebenen waren Gegenstand der hier vorgestellten Untersuchungen.

Auf der Informationsverarbeitungsebene können Probleme während der Wahrnehmungsphase, des Behaltensintervalls und der Abrufphase auftreten. In diesem Zusammenhang werden 2 Forschungsparadigmen unterschieden, das Wiedererkennen von Gesichtern und Personenidentifizierungen. In Studien zum Wiedererkennen von Gesichtern wird während der Wahrnehmungsphase eine große Anzahl von Gesichtern enkodiert. Diese Gesichter werden in der Erinnerungsphase mit derselben Anzahl von Distraktoren präsentiert. Dabei sollen die Versuchspersonen bei jedem Gesicht entscheiden, ob sie es zuvor gesehen haben oder nicht. In Studien zu Personenidentifizierungen sehen die Versuchspersonen typischerweise ein inszeniertes Verbrechen mit ein oder zwei Zielpersonen/Tätern. Während des Abrufs sollen sie die Zielperson in einer Wahlgegenüberstellung, bestehend aus einem Tatverdächtigen und 5 bis 10 Vergleichspersonen, identifizieren und ihre subjektive Sicherheit, sich richtig entschieden zu haben, ausdrücken. Verschiedene personenbezogene Faktoren können die Richtigkeit (Zuverlässigkeit; „reliability“) einer Identifizierungsaussage beeinflussen, wie z. B. die Aufmerksamkeit, die Gedächtnisleistung oder die Motivation, aber auch die Persönlichkeit und das Alter der Augenzeugen. Von speziellem Interesse hier war das Alter. Studie 1 (Martschuk und Sporer 2018) untersuchte anhand einer Metaanalyse den Alterseffekt beim Wiedererkennen von Gesichtern, Studie 2 (Martschuk et al. 2019) die Identifizierungsleistung über die Lebensdauer in einer Feldstudie.

Auf der Metagedächtnisebene evaluieren Augenzeugen ihre eigenen Gedächtnisprozesse, indem sie metakognitive Strategien anwenden und ihre subjektive Sicherheit über ihre Erinnerung ausdrücken (Sporer 2008). Auf dieser Ebene können Fehler auftreten, wenn Augenzeugen eine hohe subjektive Sicherheit bezüglich ihrer Entscheidung ausdrücken, die in Wirklichkeit falsch ist („overconfidence“), oder eine niedrige subjektive Sicherheit, wenn ihre Antwort in Wirklichkeit richtig ist („underconfidence“). Ein indirektes Indiz des Metagedächtnisses ist die Antwortlatenz, d. h. die Entscheidungszeit, die ein Augenzeuge für die Identifizierungsentscheidung benötigt. Studie 2 (Martschuk et al. 2019) untersuchte diese Metagedächtnisprozesse, beginnend im Jugendalter bis zum hohen Alter.

Auf der Beurteilungsebene werden Identifizierungsaussagen evaluiert, wobei verbale und nonverbale Aspekte der Aussagen in Betracht gezogen werden. Dazu gehören oftmals Aussagen zu einzelnen Merkmalen der Person, aber auch Angaben der Zeugen zu metakognitiven Prozessen, die sie während der Identifizierungsaussage gemacht haben (etwa zur subjektiven Sicherheit ihrer Aussage).

Urteiler sind Kriminalbeamte, Staatsanwälte, Sachverständige, Geschworene und Richter, d. h. Personen, die die Augenzeugenaussagen im Rahmen der Beweisaufnahme bewerten, die jedoch bis auf Sachverständige keine Gedächtnisexperten sind. Fehler können auf dieser Ebene entstehen, wenn Urteiler Augenzeugenaussagen fehlerhaft interpretieren bzw. eine Alternativhypothese nicht beachten (Sporer 2008). Studie 3 (Martschuk und Sporer 2020) untersuchte den Entscheidungsprozess von Geschworenen und deren Annahmen über altersbedingte Gedächtnisveränderungen in einem simulierten Strafverfahren.

Studie 1: Wiedererkennen von Gesichtern im Alter

Qualitative (narrative) Sammelreferate und Metaanalysen dokumentierten einen Alterseffekt bei Personenidentifizierungen, der besagt, dass junge Erwachsene bessere Gedächtnisleistungen beim Wiedererkennen von Zielgesichtern bzw. -personen aufweisen als ältere Erwachsene (Bartlett 2014; Bartlett und Memon 2007; Erickson et al. 2016). Jedoch wurden bisher keine Metaanalysen durchgeführt, die diesen Effekt beim Wiedererkennen von Gesichtern testeten. Das Ziel von Studie 1 (Martschuk und Sporer 2018) war, diese Forschungslücke zu füllen und eine Metaanalyse zum Wiedererkennen von natürlichen, unbekannten Gesichtern von jungen (<30 Jahre) und älteren Erwachsenen (>60 Jahre) statistisch über alle geeigneten Studien zu integrieren. Dabei wurden Studien ausgeschlossen, wenn bekannte oder invertierte Gesichter bzw. Objekte als Stimuli mituntersucht wurden, wenn Versuchspersonen kognitive und/oder psychische Defizite aufwiesen, oder wenn nicht ausreichend Informationen zum Berechnen von Effektgrößen berichtet worden waren.

Aus der gedächtnispsychologischen Literatur geht hervor, dass sich im natürlichen Alterungsprozess die Gedächtnisleistung (Coleman und O’Hanlon 2008) sowie die Sehfähigkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit (Salthouse 1996; Schieber 2006) verschlechtern, was wiederum die Wahrnehmung und das Wiedererkennen von Gesichtern beeinträchtigen kann (Lott et al. 2005).

Aus sozialpsychologischer Sicht können Menschen Gesichter ihrer eigenen Gruppe („in-group“) besser wiedererkennen als einer Fremdgruppe („out-group“) (In-group/Out-group-Modell; Sporer 2001). Gruppenzugehörigkeit bezieht sich auf Ethnizität, Geschlecht oder Alter. Vorteile zugunsten der jeweiligen Eigengruppe wurden bereits beim „own-race“, „own-sex“, und „own-age bias“ demonstriert (Metaanalysen von Herlitz und Lovén 2013; Meissner und Brigham 2001; Rhodes und Anastasi 2012; Shapiro und Penrod 1986). Nach Sporers (2001) Modell verarbeiten Beobachter Gesichter der Eigengruppe eher automatisch, d. h., die Verarbeitung ist tendenziell eher holistisch und auf die Konfiguration von Merkmalen gerichtet, was zu besserem Wiedererkennen führt. Gesichter der Außengruppe hingegen ordnen Beobachter ohne persönliches Interesse oder weitere Verarbeitung rasch der Außengruppe zu, was zu einer schlechteren Wiedererkennensleistung führt.

Die Wiedererkennensleistung wird in der Regel in Anlehnung an die Signaldetektionstheorie (SDT; z. B. Macmillan und Creelman 2005) ausgewertet. Diese postuliert, dass das Vertrautheitsgefühl („feeling of familiarity“) für ein vorher gesehenes Gesicht (Zielgesicht) höher ist als für ein neues Gesicht (Distraktor) (O’Toole et al. 2000). Versuchspersonen können dabei ein Zielgesicht entweder richtig wiedererkennen (Treffer) oder fälschlich als Distraktor zurückweisen (falsche Zurückweisung). Einen Distraktor können sie entweder richtig als ein neues Gesicht zurückweisen (korrekte Zurückweisung) oder fälschlicherweise als ein altes wiedererkennen (falscher Alarm). Da richtige und falsche Zurückweisungen komplementäre Werte zu Treffern und falschen Alarmen sind, werden Erstere nicht weiter betrachtet. Zwei wichtige SDT-Maße sind der Leistungsindex d’, der Treffer und falsche Alarme kombiniert und den Grad der Diskrimination angibt, und die Reaktionsneigung beta (oder C), die angibt, ob Personen eher dazu neigen, ein Gesicht auszuwählen (laxeres Entscheidungskriterium) oder zurückzuweisen (konservatives Entscheidungskriterium). Nach Sporers (2001) In-group/Out-group-Modell wird auch ein laxeres Entscheidungskriterium für Gesichter einer Außengruppe im Vergleich zu denen der Eigengruppe erwartet.

In unsere Metaanalyse wurden 19 Studien eingeschlossen, die insgesamt 79 Vergleiche von jungen und älteren gesunden Erwachsenen (d. h. ohne kognitive, neurologische oder psychiatrische Einschränkungen) zum Wiedererkennen von unbekannten Gesichtern jungen, mittleren und älteren sowie gemischten Alters berichteten. Getrennte Metaanalysen wurden zu jedem der einzelnen SDT-Maße durchgeführt. Gesichter verschiedener Altersgruppen wurden getrennt ausgewertet, um eine Unabhängigkeit zwischen den Einzeleffekten sicherzustellen. Hedges gu diente als biaskorrigiertes Maß der Effektstärke, das angibt, wie viele Standardabweichungen sich 2 Gruppen voneinander unterscheiden (kleiner Effekt: gu = 0,2; mittelgroßer Effekt: gu = 0,5; großer Effekt: gu ≥ 0,8; Cohen 1988).

Die Effekte wurden im Rahmen des Modells zufallsvariabler Effekte („random effects model“) gewichtet, bevor und nachdem mögliche Ausreißer nach Hedges und Olkin (1985) identifiziert und entfernt wurden. Zudem wurden hierarchische Metaregressionsanalysen durchgeführt, um mögliche Moderatoren zu identifizieren. Mögliche Interkorrelationen zwischen den einzelnen Prädiktorvariablen wurden in Betracht gezogen, um einen möglichen Konfundierungseffekt zu kontrollieren (Pigott 2012). Die nichtparametrische „Trim-and-fill“-Methode schätzte einen möglichen Publikationsbias ab (Duval und Tweedie 2000a, 2000b; Sutton 2009).

Im Einklang mit altersbedingter sensorischen (Schieber 2006), neurologischen (Coleman und O’Hanlon 2008) und kognitiven Veränderungen (Salthouse 1996) übertrafen junge Erwachsene ältere Erwachsene in fast allen abhängigen Variablen (Abb. 1). Junge Erwachsene erkannten nicht nur mit größerer Wahrscheinlichkeit junge und gemischte Zielgesichter (Treffer: gu = 0,31; 95 %-Konfidenzintervall [0,17; 0,45]), sondern sie wiesen auch mit einer größeren Wahrscheinlichkeit Distraktoren zurück (falsche Alarme: gu = 0,95 [0,78; 1,12]). Dementsprechend war die allgemeine Wiedererkennensleistung bei jungen Erwachsenen viel höher als bei älteren Erwachsenen (gu = 1,01 [0,86; 1,16]).

Abb. 1
figure 1

Gewichtete mittlere Effektstärken für Treffer, falsche Alarme, Wiedererkennensleistung und Reaktionsneigung für Gesichter von jungen, Gesichter von jungen und älteren Personen gemischt und von älteren Personen

Um einem Spiegeleffekt („mirror effect“) nach der SDT (Glanzer und Adams 1985) zu testen, wurden Treffer (Sensitivität) und falsche Alarme (1 – Spezifität) gegeneinander getrennt für junge und ältere Erwachsene geplottet (Abb. 2a, b). Das allgemeine Muster junger Erwachsener folgte einem negativen Zusammenhang zwischen Treffern und falschen Alarmen – ähnlich dem beim „cross-race effect“ mit überwiegend jungen Erwachsenen (Meissner und Brigham 2001). Bei älteren Erwachsenen hingegen war der Zusammenhang zwischen Treffern und falschen Alarmen nicht vorhanden bzw. positiv, was auf eine erhöhte Reaktionsneigung bei älteren Erwachsenen hinwies. Die metaanalytischen Ergebnisse zur Reaktionsneigung bestätigten diese Annahme, da ältere Erwachsene eine höhere Tendenz aufwiesen, jemanden auszuwählen als junge Erwachsene, unabhängig davon, ob es sich um die richtige Wahl (Treffer) oder fehlerhafte Wahl eines Distraktors handelte (falscher Alarm) (junge und gemischte Gesichter: gu = 0,52 [0,29; 0,76]).

Abb. 2
figure 2

Scatterplots des Zusammenhangs zwischen Treffern und falschen Alarmen für junge (a) und ältere Versuchsteilnehmer (b)

Weiterhin war in Anlehnung an das In-group/Out-group-Modell (Sporer 2001) der Alterseffekt bei den abhängigen Variablen falsche Alarme (gu = 0,72 [0,53; 0,91]) und dem Leistungsindex d’ (gu = 0,40 [0,11; 0,70]) für ältere Gesichter geringer als für junge Gesichter. Mit anderen Worten, der Unterschied zwischen jungen und älteren Erwachsenen war geringer, wenn Gesichter von älteren (im Vergleich zu jungen) Personen wiedererkannt werden sollten. Bei Treffern war der Alterseffekt negativ (gu = −0,24 [−0,41; 0,00]), d. h., ältere Erwachsene erkannten Gesichter ihres Alters besser als junge Erwachsene. Diese Ergebnisse replizierten metaanalytische Befunde zum Own-age bias von der Kindheit bis zum hohen Alter (Rhodes und Anastasi 2012).

Metaregressionsanalysen ergaben, dass das Behaltensintervall signifikant mit Treffern, aber nicht mit falschen Alarmen zusammenhing, wenn das Regressionsmodell die verbleibenden Variablen (d. h. Alter der Gesichter, Alter der Versuchspersonen, Darbietungszeit, Anzahl der Zielgesichter, Veränderungen der Emotionen und/oder der Pose und zusätzliche Aufgaben) kontrollierte. Je länger die Zeit zwischen dem Enkodieren und dem Wiedererkennen war, umso größer war der Unterschied zwischen jungen und älteren Erwachsenen für Treffer. Betrachtet man den Unterschied zwischen Treffern und falschen Alarmen im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Spiegeleffektmustern zwischen jungen und älteren Erwachsenen, deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die Prozesse des Wiedererkennens und v. a. des Vergessens im jungen und im älteren Alter unterschiedlich ablaufen. Diese Prozesse müssten in künftigen Studien genauer untersucht werden.

Die Alterseffekte in dieser Metaanalyse können als relativ starke Effekte interpretiert werden, wenn man die Ergebnisse mit der umfangreichen Metaanalyse von 128 Studien (Shapiro und Penrod 1986) vergleicht, die deutlich kleinere Effekte für die meisten Variablen in der Literatur feststellten. Die Effekte waren sogar größer als die des Own-race bias in der Metaanalyse von Meissner und Brigham (2001). Bedenkt man dabei, dass es sich bei den Versuchspersonen um gesunde Probanden handelte, die keine kognitiven oder Gedächtnisdefizite aufwiesen, sind die Ergebnisse möglicherweise eine Unterschätzung des Alterseffekts der Allgemeinbevölkerung. Jedoch ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Trim-und-fill-Analysen eine mögliche Publikationsverzerrung bei falschen Alarmen und bei der Wiedererkennensleistung feststellten.

Studie 2: Bedeutung der subjektiven Sicherheit im Alter

Seit mehreren Jahrzehnten ist es üblich, Identifizierungszeugen in Wähler und Nichtwähler einzuteilen, je nachdem, ob sie eine Person in der Gegenüberstellungsreihe ausgewählt haben („Nr. X ist der Täter“) oder nicht („Er ist nicht dabei“). Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass die subjektive Sicherheit (und Reaktionszeiten) einen hohen Vorhersagewert bezüglich der Richtigkeit der Entscheidung von Wählern, nicht aber von Nichtwählern besitzen (Metaanalyse von Sporer et al. 1995). Vor Kurzem argumentierten Forscher nach einer Reihe von Reanalysen mehrerer Studien, dass die subjektive Sicherheit während der ursprünglichen Identifizierung ein zuverlässiger Indikator der Identifizierungsleistung ist (Wixted et al. 2015, 2016; Wixted und Wells 2017). Diese Analysen wurden jedoch ohne Berücksichtigung potenzieller Moderatoren, wie z. B. dem Alter der Augenzeugen, durchgeführt.

Demgegenüber weisen metakognitive Modelle darauf hin, dass sich im Alter metakognitive Entscheidungen von der Richtigkeit dieser Entscheidungen dissoziieren (Palmer et al. 2014), da ältere Erwachsene Schwierigkeiten aufweisen, Informationen effektiv zu nutzen und abzurufen, wenn sie Entscheidungen treffen (Hertzog und Hultsch 2000; Shing et al. 2009). Die Mehrheit der letztgenannten Studien führte jedoch Experimente mit verbalen Stimuli durch, nicht mit visuellen oder Gesichtern.

Laborstudien zeigten, dass die subjektive Sicherheit bei älteren Erwachsenen einen geringeren Beweiswert hatte als bei jungen Erwachsenen (Searcy et al. 1999, 2001; Wright und Stroud 2002). Diese Fragestellung wurde auch in mehreren Feldstudien mit einem Identifizierungsparadigma über die Lebensdauer untersucht (Altersspanne L 261: 14–87 Jahre: Palmer et al. 2013; Altersspanne L 262: 15–85 Jahre: Sauer et al. 2010; Altersspanne L 263: 15–84 Jahre: Sauerland und Sporer 2009,), ohne jedoch das Alter der Versuchspersonen spezifisch zu untersuchen. Studie 2 (Martschuk et al. 2019) überprüfte in einer Reanalyse der Feldstudie von Sauerland und Sporer (2009), inwieweit sich der Beweiswert der subjektiven Sicherheit von Wählern bei einer Wahlgegenüberstellung in Abhängigkeit vom Alter verändert.

Zusätzlich zu der subjektiven Sicherheit wurde auch die Entscheidungszeit untersucht, die ein objektives metakognitives Maß darstellt. In Übereinstimmung mit dem Dualprozessmodell, welches besagt, dass richtige Entscheidungen eher schnell und automatisch, während falsche Entscheidungen eher zeitaufwendig und bewusst erfolgen (Dunning und Perretta 2002; Dunning und Stern 1994), werden richtige Identifizierungen vermutlich schneller als falsche Identifizierungen vorgenommen (Sporer 1993, 1994). Jedoch gab es bisher keine Studien, die diesen Zusammenhang in Abhängigkeit vom Alter untersuchten.

Die Reanalyse wurde mit 436 Wählern von insgesamt 720 Versuchspersonen durchgeführt, die zwischen 15 und 83 Jahre alt waren. Versuchspersonen wurden in 6 Altersgruppen unterteilt: 15 bis 20 Jahre (n = 44); 21 bis 30 (n = 149); 31 bis 40 (n = 74); 41 bis 50 (n = 58); 51 bis 60 (n = 64); und 61 bis 83 (n = 47). Zehn verschiedene weibliche und männliche Zielpersonen zwischen 20 und 37 Jahren wurden getestet, um die Forderung nach Repräsentativität der Stimuluspersonen („stimulus sampling“) zu erfüllen (Wells und Windschitl 1999). Jede der Zielpersonen sprach Personen in einer Fußgängerzone an. Nachdem die Zielperson außer Sichtweite war, klärte eine zweite Person die zuvor angesprochene Person über die Studie auf und bat, eine Identifizierung in einer Wahlgegenüberstellung vorzunehmen. Der/die Versuchsleiter/-in war „blind“ bezüglich der Anwesenheit der Zielperson in der Reihe.

Die Ergebnisse zeigten, dass das Alter der Versuchspersonen ein wichtiger Moderator für den Zusammenhang zwischen der subjektiven Sicherheit und der Identifizierungsleistung war. Während die subjektive Sicherheit über die Lebensdauer konstant blieb, stieg die Identifizierungsleistung vom Jugendalter bis zum jungen Erwachsenenalter leicht an und verringerte sich stetig bis zum höheren Alter (Abb. 3). Dementsprechend war der Beweiswert der subjektiven Sicherheit bei Jugendlichen (15 bis 20 Jahre) und jungen Erwachsenen (21 bis 30 Jahre) höher und nahm stetig bei jeder Altersgruppe ab 30 Jahren ab. Allgemein waren die Ergebnisse für junge Erwachsene im Einklang mit den Ergebnissen von Wixted et al. (2015), welche besagten, dass hohe subjektive Sicherheit einen hohen Beweiswert hatte (92,3 % richtige Identifizierungen bei hoher subjektiver Sicherheit). In unserer Studie zeigten junge Erwachsene gute bzw. überdurchschnittliche Werte in Bezug auf Maße der KalibrierungFootnote 1, Über‑/Unterschätzung der Richtigkeit, Diskriminationsindex „adjusted normalized resolution index“ (ANRI) und SDT-Leistungsindex d’. Demgegenüber verringerte sich der Beweiswert der subjektiven Sicherheit mit ansteigendem Alter, während die eigene Überschätzung (Overconfidence) anstieg. Die Diskrimination der subjektiven Sicherheit war fast null (0: keine Diskrimination; 1: perfekte Diskrimination) ab dem Alter von 30 Jahren, und der Beweiswert der subjektiven Sicherheit verringerte sich ab dem Alter von 40 Jahren. Darüber hinaus konnten Erwachsene ab dem Alter von 55 Jahren richtige von falschen Entscheidungen kaum unterscheiden.

Abb. 3
figure 3

Identifizierungsrichtigkeit (%) und subjektive Sicherheit (%) von Wählern verschiedener Altersgruppen. Schraffierte Balken Identifizierungsrichtigkeit, weiße Balken subjektive Sicherheit, Fehlerbalken 95 %-Konfidenzintervalle

Weiterhin waren in Anlehnung an das Dualprozessmodell (Dunning und Perretta 2002; Dunning und Stern 1994) richtige Identifizierungen schneller als falsche Identifizierungen. Jedoch variierte der Zusammenhang zwischen der selbst geschätzten Entscheidungszeit und der Identifizierungsleistung in Abhängigkeit vom Alter, was wiederum auf metakognitive Defizite im ansteigenden Alter hinweist. Multiple Regressionsanalysen ergaben, dass das Alter der Versuchspersonen mit der Identifizierungsleistung zusammenhing, selbst wenn in den Analysen gleichzeitig subjektive Sicherheit und Entscheidungszeit (bzw. geschätzte Entscheidungszeit) kontrolliert wurden. Darüber hinaus war die Entscheidungszeit viel stärker mit der Identifizierungsleistung (reziproke OR [„odds ratio“] = 3,85 [2,16; 6,85]) als die subjektive Sicherheit (OR = 1,93 [1,46; 2,54]) assoziiert. Sogar die von den Versuchsteilnehmern selbst geschätzte Entscheidungszeit zeigte noch einen signifikanten Zusammenhang mit der Identifizierungsleistung (reziproke OR = 1,63 [1,02; 2,61]), der jedoch ab dem Alter von 50 Jahren stark eingeschränkt war. Diese Ergebnisse bestätigen theoretische Annahmen, dass metakognitive Prozesse je nach Alter variieren. Wir empfehlen daher, Videoaufnahmen des gesamten Identifizierungsverfahrens anzufertigen, um die subjektive Sicherheit und die Entscheidungszeit für die spätere Beweiswürdigung festzuhalten (Sporer 1993).

Studie 3: Geschworenenentscheidungen

In Gerichtsverfahren mit Geschworenen (oder mit Berufsrichtern und Schöffen) liegt es an diesen, über die Schuld des Täters aufgrund der Beweislage zu entscheiden. In Fällen, in denen es außer dem Opfer keine Augenzeugen (oder stichhaltige Sachbeweise) gibt, werden Richter und Geschworene mit der Frage konfrontiert, ob das Opfer eine aufrichtige, wahrheitsgemäße (d. h. richtige Aussage im Sinne des Fehlens von absichtlicher Verfälschung bzw. Täuschung) und richtige, zuverlässige Aussage machte (d. h. richtige Aussage im Sinne des Mangels an unbeabsichtigten Fehlern der Wahrnehmung, des Gedächtnisses oder infolge suggestiver Beeinflussungen; Sporer 2008). Die zwei Konstrukte schließen sich nicht gegenseitig aus und müssen daher gleichzeitig bei der Beurteilung der Aussagen von Augenzeugen betrachtet werden.

Nach Devine und Caughlin (2014) sind Eigenschaften der Geschworenen (z. B. Geschlecht, Erfahrungen, rechtliches Vertrauen), des Falles (z. B. Charakteristika des Opfers, Art des Verbrechens) und des Angeklagten (z. B. Ethnizität, kriminelle Vorgeschichte) mit Fallbewertungen von Geschworenen und letztlich mit deren Schuldurteil assoziiert. Geschworene gelten allgemein als aktive Informationsverarbeiter (Bornstein und Greene 2011), deren Entscheidungen nicht nur Beweise und gesetzliche Richtlinien (d. h. rechtliche Faktoren), sondern auch bestehende Stereotype und Einstellungen (d. h. außerrechtliche Faktoren) reflektieren (Sporer und Goodman-Delahunty 2009). Wie Sherif und Sherif (1969) im Kontext der sozialen Wahrnehmung postulierten, ist der Beitrag interner Faktoren (z. B. vorherige Erfahrungen, soziale Einstellungen und vorübergehende Erwartungen) auf Urteile und Entscheidungen umso stärker, je mehrdeutiger eine Situation (oder ein zu beurteilender Stimulus) ist (Sporer und Goodman-Delahunty 2009). Studie 3 untersuchte, inwiefern das Alter des Opfers und die Schwere des Verbrechens sowie Einstellungen der Geschworenen mit ihren Entscheidungen in einer Simulationsstudie zusammenhängen.

Bisherige Studien zeigten widersprüchliche Ergebnisse in Bezug auf die wahrgenommene Richtigkeit der Aussagen von älteren Personen. Während manche Studien auf einen positiven Zusammenhang hinweisen (z. B. Kwong See et al. 2001), gibt es auch Belege für einen negativen Zusammenhang (z. B. Neal et al. 2012) bzw. dafür, dass ältere Erwachsene weniger zuverlässig und zugleich ehrlicher wahrgenommen werden als junge Erwachsene (z. B. Brimacombe et al. 1997).

Auch in Bezug auf die Schwere der Straftat bestehen gegensätzliche Annahmen. Die Schweregrad-Nachsicht-Hypothese („severity-leniency hypothesis“; Kerr 1978) geht davon aus, dass Geschworene in schwerwiegenden Fällen eher zu einem Freispruch neigen, da sie die Gefahr einer Verurteilung einer unschuldigen Person in schwereren Fällen (was wiederum zu höheren Strafen führen würde) vermeiden und daher mehr Beweise für die Schuld des Angeklagten fordern. Ein alternativer Theorieansatz postuliert hingegen, dass Geschworene in schwerwiegenden Fällen, die emotional geladene Informationen enthalten, eher dazu neigen zu verurteilen, um die Möglichkeit, einen gewalttätigen Straftäter freizusprechen, zu vermeiden (Bright und Goodman-Delahunty 2004). Metaanalytische Ergebnisse unterstützen eher letztere Hypothese (Grady et al. 2018). Inwieweit das Alter diesen Zusammenhang moderiert, ist jedoch fraglich.

In unserer Studie 3 (Martschuk und Sporer 2020) nahmen insgesamt 204 Bürger, die die Voraussetzungen als Geschworene erfüllten, zwischen 18 und 85 Jahren aus Staaten, in denen Geschworenenverfahren üblich sind, an einer Onlinestudie teil. Nachdem sie eine fiktive Zusammenfassung eines Gerichtsverfahrens durchlasen, füllten sie einen kurzen Fragebogen mit Fragen über den Fall und das Opfer sowie über allgemeine Einstellungen zum Rechtssystem und zu kognitiven Fähigkeiten im höheren Alter aus. In diesem Fall wurde ein junger Mann eines Raubüberfalls angeklagt. Das Alter des Opfers (25 Jahre vs. 75 Jahre) und die Schwere der Straftat (Opfer verletzt vs. nichtverletzt) wurden systematisch variiert. Das Opfer war die einzige Augenzeugin, die den Tatverdächtigen in einer Wahlgegenüberstellung mit hoher subjektiver Sicherheit innerhalb von wenigen Sekunden identifizierte, also Faktoren, die nach den Ergebnissen von Studie 2 (Martschuk et al. 2019) einen hohen Beweiswert bezüglich der Identifizierungsrichtigkeit bei jungen, jedoch nicht unbedingt älteren Erwachsenen haben. Zudem sagte ein in dem Fall leitender Polizeibeamter gegen den Angeklagten aus.

Die Ergebnisse zeigten, dass Geschworene v. a. in dem schwerwiegenderen Fall mit Verletzung dem jungen Opfer mehr glaubten als dem älteren Opfer (Abb. 4). Dementsprechend schätzten sie den Fall der Staatsanwaltschaft stärker und den Fall der Verteidigung schwächer bei dem jungen als dem älteren Opfer ein. Diese Altersunterschiede des Opfers wirkten sich jedoch nicht auf die wahrgenommene Richtigkeit der Identifizierung, die Schuldwahrscheinlichkeit oder das Urteil aus, obwohl Geschworene den Fragen zu kognitiven und Gedächtnisverschlechterungen im Alter moderat zustimmten (d. h. die Zustimmung zu den Fragen lag über dem Mittel der Skala).

Abb. 4
figure 4

Wahrgenommene Richtigkeit der Identifizierungsaussage (1 nicht zuverlässig, 7 sehr zuverlässig) in Abhängigkeit vom Alter des Opfers und der Schwere der Straftat (Fehlerbalken sind 95 %-Konfidenzintervalle)

In Anlehnung an den gestalttheoretischen Ansatz von Sherif und Sherif (1969) ergab Studie 3 (Martschuk und Sporer 2020), dass die wahrgenommene Richtigkeit der Identifizierung und die Schuldwahrscheinlichkeit mit den allgemeinen Einstellungen zum Rechtssystem assoziiert waren. Demzufolge interpretierten Geschworene den Fall umso wahrscheinlicher im Sinne der Staatsanwaltschaft, je mehr Vertrauen sie in das Rechtssystem hatten. Ähnliche Ergebnisse zeigten Devine und Caughlin (2014) in ihrer Metaanalyse zu dem Zusammenhang zwischen Geschworenencharakteristika und deren Entscheidungen. Zudem traten die Geschworenen in unserer Simulationsstudie dem Opfer und dem Fall allgemein skeptischer gegenüber, je mehr sie annahmen, dass die kognitive Kapazität und die Gedächtnisleistung im Alter abnehmen. Sobald jedoch fallspezifische Informationen in Betracht gezogen wurden, verloren die Geschworeneneinstellungen an Bedeutung.

Fazit

Zusammenfassend ging aus den Studien 1 (Martschuk und Sporer 2018) und 2 (Martschuk et al. 2019) hervor, dass die Wiedererkennens- und die Identifizierungsleistung auf der Informationsverarbeitungsebene im höheren Alter wesentlich schlechter war als im jungen Erwachsenenalter. Zudem waren die metakognitiven Prozesse im Alter eingeschränkt. Die tatsächliche Identifizierungsleistung und die subjektive Sicherheit waren zunehmend mit ansteigendem Alter dissoziiert, sodass ältere Erwachsene dazu neigten, die Richtigkeit ihrer Identifizierung zu überschätzen. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit Gedächtnismodellen und metakognitiven Modellen des höheren Alters. Schließlich hatte die tatsächliche Entscheidungszeit eine größere Bedeutung bezüglich der Richtigkeit der Identifizierungsleistung als die subjektive Sicherheit. Daher sollten Urteiler, d. h. Ermittlungsbeamte, Staatsanwälte, Geschworene und Richter, neben dem Alter und der subjektiven Sicherheit von Augenzeugen die objektive Entscheidungszeit berücksichtigen, wenn sie Identifizierungsaussagen bewerten. Eine Videoaufnahme der Identifizierungsentscheidung ist empfehlenswert, damit Urteiler sich ein eigenes Bild über den Identifizierungsprozess machen können.

Auf der Beurteilungsebene waren die Ergebnisse von Studie 3 (Martschuk und Sporer 2020) jedoch weniger eindeutig. Während Geschworene sich in der Simulationsstudie relativ bewusst darüber waren, dass sich die kognitive Kapazität und das Gedächtnis im Alter verschlechtern, wendeten sie dieses Wissen nicht unbedingt bei ihren Entscheidungen an. Das Alter des Opfers wirkte sich weder auf die wahrgenommene Richtigkeit der Identifizierung noch die Schuldwahrscheinlichkeit aus. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass, um Justizirrtümer weitgehend zu vermeiden, Geschworene (und wahrscheinlich auch andere Urteiler, die keine Gedächtnisexperten sind) von weiterführenden Informationen (z. B. durch Sachverständige) über altersspezifische Veränderungen des Gedächtnisses und des Metagedächtnisses profitieren würden.