Persönlichkeitsstörungen sind das häufigste Objekt des Nachdenkens über eine überdauernd verminderte Schuldfähigkeit und damit auch eine Maßregel nach § 63 StGB. Festzustellen ist zunächst: Nur eine Minderheit der persönlichkeitsgestörten Menschen wird straffällig, wenn auch bei fast allen F60-Diagnosen eine etwas höhere Delinquenzbelastung anzutreffen ist als in der Normalbevölkerung. Besonders enge Verbindungen zu delinquentem Verhalten bestehen natürlich bei der antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung.
Bei der juristischen Bewertung von Persönlichkeitsstörungen ist nie streitig gewesen, dass die Geschäftsfähigkeit Persönlichkeitsgestörter nicht beeinträchtigt istFootnote 8. Auch hat kaum jemals ein Jurist oder Psychiater die Schuldunfähigkeit Persönlichkeitsgestörter postuliert. Hier sieht offenbar auch der Laie, dass ein anderer Sachverhalt als bei psychisch Kranken vorliegt.
Die akute oder auch überdauernde krankhafte seelische Störung, die diesen Namen zu recht trägt, weil sie eine Bezugnahme auf eine Common-Sense-Interpretation der Situation vor der Tat unmöglich macht, hebt die Möglichkeit auf, eine normkonforme Entscheidung zu treffen, weil diese als Option nicht mehr zugänglich ist. Ob diese Störung somatisch oder psychisch bedingt ist, bleibt für uns ohne Belang: Entscheidend ist der Schweregrad und sind die Auswirkungen auf die von der Person leistbaren sozialen Bezugnahmen (siehe auch Lammel 2020). Es ist unverkennbar, dass leichtere psychische Erkrankungen, dass mittelgradige Rauschzustände, dass sexuelle Perversionen und dass Persönlichkeitsstörungen diese Bezugnahme auf das soziale Koordinatensystem, auf die tradierten Normen, auf ein konventionelles Situationsverständnis nicht verunmöglichen. All diese Menschen bleiben eingebunden in unsere Welt, profitieren von lebenslang erworbenen Kognitionen und Bewertungen, während diese bei den Kranken sozusagen ins Leere laufen, mit den situativen Vorgaben nicht mehr korrespondieren. Es gibt mithin kein Kontinuum zwischen voll schuldfähig und schuldunfähig, sondern beide Zustände sind von einem tiefen Graben getrennt. Ein Zustand, der Schuldunfähigkeit bedingt, unterscheidet sich unzweideutig qualitativ von einem Zustand erhaltener Schuldfähigkeit.
Es geht also fast ausschließlich um die Abgrenzung zwischen voll und vermindert schuldfähig. Das Gesetz legt fest, dass nur erhebliche Beeinträchtigungen der Schuldfähigkeit eine Dekulpierung erlauben. Es ist der Versuch gemacht worden, „leichte“ und „schwere“ Persönlichkeitsstörungen zu unterscheiden; dies führt nicht weiter, weil es bei jedem Typus von Persönlichkeitsstörung leichte und schwere Ausprägungsgrade gibt, auch in Abhängigkeit von der realen Lebensgeschichte des Einzelnen.
In einer früheren Arbeit hat der Verfasser Konzepte zur Beurteilung der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ dargestellt (Kröber 1995, 1997), die sich seit den 1970er-Jahren in der Bundesrepublik etablierten und mit den Standorten Homburg/Saar, Hamburg, Berlin und Heidelberg verbunden waren.
Das Homburger Modell war der Lösungsansatz von Witter (1987), der sich gegen Venzlaff wandte, welcher salomonisch verkündet hatte: Ob eine schwere seelische Abartigkeit gegeben sei, bedürfe der umfassenden Analyse des Einzelfalles. Witter erklärte, dem Richter müssten überprüfbare psychopathologische Kriterien genannt werden. Er unterschied wie Schneider zwischen krankhafter und nichtkrankhafter „seelischer Abnormität“, welche die Verantwortungsfähigkeit nicht aufheben, allenfalls einschränken könne. „Abartigkeit“ sei „eine mehr oder weniger andauernde abnorme Verhaltensbereitschaft, die aus dem Zusammenwirken abnormer Persönlichkeitsdispositionen und belastender Umweltbedingungen entsteht“ (Witter 1987, S. 69). Die Abartigkeit sei schwer, „sobald die psychische Normabweichung ein psychopathologisches Ausmaß erreicht“ (Witter 1987, S. 41), gemeint ist aber eher, wie aus dem Text hervorgeht: ein sozialpathologisches Ausmaß. Die forensisch bedeutsame Schwere der Abweichung werde „entscheidend durch die biografisch ermittelten Schwierigkeiten bestimmt“. Die sozialen Schwierigkeiten des Täters seien biografisch leicht aufzuzeigen. Und so landet Witters Lösungsansatz letztlich wieder bei Venzlaffs Diktum.
Das Hamburger Modell war die Weiterentwicklung des Konzepts der „psychopathologischen Entwicklung“ von Giese (1962) und zuvor von Gebsattel (1954) durch Schorsch (1973; Schorsch et al. 1985). Es handelt sich im Wesentlichen um ein Progredienzmodell süchtigen oder sexuellen Fehlverhaltens, das als „das Symptom“ gesehen wird. Dieses „Symptom“ habe eine angstbindende reparative Funktion zur Aufrechterhaltung eines spannungsreichen inneren Gleichgewichts. Feststellbar sei die zunehmende Bindung an diese Symptomatik zunächst auf der Verhaltensebene: zunehmende Frequenz des sexuell devianten Verhaltens, Ausgestaltung der Symptominszenierung, periodische dranghafte Unruhe und Verlust der sozialen Einbindung. Zu explorieren wäre dann eine innere Ebene qualitativen Erlebens; gefragt wird nach einer zunehmenden Okkupierung durch das Symptom (Ausbau der Fantasien), Verlust der reparativen Stabilisierungsfunktion des Symptoms (abnehmende Satisfaktion), vitalisierte Dekompensationszeichen (innere Unruhe). Auf der dritten, interpretativen Ebene ist dann die Rede von einer Herabsetzung der Schwelle für die Symptomauslösung und der Einengung der Realitätswahrnehmung auf Reizqualitäten des Symptoms (in Gieses Begriffen: Verfall an die Sinnlichkeit und süchtiges Erleben).
Dieses Hamburger Modell ist interessant, weil es den Eindruck erweckt, als bemächtige sich die Störung eines Menschen, der an sich psychisch ungestört sein mag und nur einmal ein Fehlverhalten als angenehm und beruhigend erlebt hat, das er dann wiederholt einsetzt und das ihm schließlich über den Kopf wächst. Bei der stoffgebundenen Sucht, nehmen wir Alkoholismus, mag das zutreffen: weil das Suchtmittel biologische Veränderungen hervorruft und körperliche Abhängigkeit und Unruhe bei Entzug erzeugen kann. Bei sexuell devianten Entwicklungen allerdings liegt ja doch oft der Gedanke nahe, dass der Ausgangspunkt eine Störung des Persönlichkeitsgefüges ist, bei der die Symptombildung dann eine insuffiziente reparative Funktion hat, als „narzisstische Plombe“ im Sinne von Morgenthaler (1974).
Ob und wann bei einer solchen „psychopathologischen Entwicklung“, wenn sie denn überhaupt vorliegt, und nicht nur einer primäre sexuelle Devianz, eine Zuordnung zum Rechtsbegriff der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ möglich oder gar zwingend ist, ob nur in Kombination mit einer erheblichen Persönlichkeitsstörung oder auch als isoliertes, aber intensives Störungsbild sexuellen Fehlverhaltens, ist Gegenstand fortdauernder Diskussion (Briken 2016). Dabei wurde auch der interessante Gedanke entwickelt, anhand der Risikomerkmale, die eine erhöhte Rückfallwahrscheinlichkeit indizieren, auf den Schweregrad der Störung zu schließen (Briken und Müller 2014).
Die Berliner Position von Rasch (1991) lehnte sich teils an das Konzept der psychopathologischen Entwicklung an, teils an Venzlaffs Diktum: Es kommt auf den Einzelfall an. Rasch hat sich zumeist damit begnügt, den Begriff der „Abartigkeit“ zu kritisieren. Der damit gemeinte Bereich umfasst bei ihm alle psychischen Störungen jenseits der psychischen Krankheiten. Der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit seien entscheidend. Bei den Fällen, die er als psychopathologische Entwicklung sah, betonte er die Bedeutung von schweren und umfassenden Persönlichkeitsdeformierungen, die er als „typisierende Umprägung“ bezeichnete, wie z. B. den Typus des depravierten Junkies.
Die Heidelberger Position der 1990er-Jahre bemühte sich um psychopathologische Lösungsversuche. Janzarik (1993) erörterte die Persönlichkeitsstörungen in Hinsicht auf die vorhandenen Abwandlungen von Struktur und Dynamik. Bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung hielten sich dynamische und strukturelle Auffälligkeiten in etwa die Waage mit Betonung des dynamischen Aspekts. „Hyperaktivität schon in der Vorpubertät, frühe sexuelle Aktivität mit häufigem Partnerwechsel, Impulsivität, Reizbarkeit, Aggressivität, fehlende Empathie wären vornehmlich dem dynamischen Aspekt, eine verantwortungslose, über mitmenschliche Bindung sich hinwegsetzende Lebensführung, ein Mangel an vorausschauender Planung, Unbeständigkeit, Unzuverlässigkeit, Arbeitsscheu wären dem strukturellen Aspekt zuzurechnen“ (Janzarik 1993, S 429). Stark zu einer ungesteuerten Dynamik hin verschoben sei das Gleichgewicht bei den intermittierend explosiblen (disruptiven) Störungen und auch bei der emotional instabilen Gruppe. Hingegen liege bei der paranoid-schizoiden Gruppe das Gewicht auf strukturellen Besonderheiten, emotionaler Kälte und Empathiemangel.
Seelische Abwandlungen, so Janzarik, erhöhten das Risiko delinquenten Handelns in dem Maße, in dem ein Missverhältnis zwischen einer instabilen und impulsiven Dynamik und einer insuffizienten Struktur bestehe. Das gelte nicht nur für Persönlichkeitsstörungen, sondern auch für manche sexuellen Deviationen, „in denen ein durch Bahnung verfestigtes suchtähnliches Triebverlangen einer Desaktualisierung widerstrebt.“ Auch die „Schwere“ der „Abartigkeit“ müsse vom strukturellen Befund her bestimmt werden, von den Deformierungen und Defizienzen des individuellen Wertgefüges – „weil nur hier und nicht in den konturlosen Phänomenen des dynamischen Bereichs Invarianz und Identität aufzufinden sind“ (Janzarik 1993, S. 432).
Im Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit verwies Janzarik (1993, S. 432 f.) auf den Unterschied zwischen Krankheitsprozess und Persönlichkeitsstörung, welche in aller Regel Auseinandersetzung und Anpassung zulasse. „Die Verantwortung dafür, wie einer geworden ist, kann ihm, solange eigene Entscheidungen die Entwicklung dahin wesentlich mitgestaltet haben, nicht abgenommen werden. Die ‚Schwere‘ einer Abartigkeit wird dadurch nicht gemindert.“
Auch Saß (1987) forderte eine psychopathologische Fassung des Zustandes, der dem Rechtsbegriff der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ zu subsumieren ist, bereits auf der ersten, diagnostischen Stufe des Beurteilungsverfahrens. Er orientierte sich an den etablierten Persönlichkeitsstörungen, die nach ihrem jeweiligen Schweregrad eine Zuordnung zu dem Rechtsbegriff erlauben könnten. Für den zweiten Schritt der Beurteilung der Steuerungsfähigkeit schlug er Gesichtspunkte vor (Saß 1987, S. 119), die auch Eingang in die „Mindeststandards für Schuldfähigkeitsgutachten“ (Boetticher et al. 2007) fanden. Genannt werden: psychopathologische Disposition der Persönlichkeit, Hervorgehen der Tat aus neurotischen Konflikten, Einengung der Lebensführung, Stereotypisierung des Verhaltens, Progredienzphänomen, emotionale Labilisierung, Beeinträchtigung der Abwehr- und Realitätsprüfungsmechanismen. Fraglich ist, ob diese Merkmale wirklich Steuerungsfähigkeit beleuchten, und nicht viel eher den Schweregrad einer psychischen Gestörtheit. Faktisch geht es hier eher um die ICD-10-Eingangskriterien für die Diagnose „F60 spezifische Persönlichkeitsstörungen“.
Gegen eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit Persönlichkeitsgestörter (nicht aber Psychosekranker!) sprächen Tatvorbereitungen, planmäßiges Vorgehen, die Fähigkeit abzuwarten, Vorsorge gegen Entdeckung. So auch Janzarik (1993, S 433): „Die Fähigkeit, ein in den Handlungsplan aufgenommenes Sanktionsrisiko handelnd zu kontrollieren, kann auch bei völliger Missachtung von Rechtsgütern als Hinweis auf ein nach Unrechtseinsicht gesteuertes Verhalten gelten.“