Einleitung

Die in dieser Ausgabe der FPPK publizierte Arbeit von Borchard und Gerth (2020) adressiert ein Thema, das die forensische Psychiatrie und Rechtsprechung seit der Etablierung eines zweigliedrigen Straf- und Maßregelsystems (von Liszt 1882) beschäftigt, nämlich die Differenzierung „bad or mad?“ (Kröber und Lau 2000). Die Autoren geben vor, diese Thematik dadurch auflösen zu können, dass ein forensisches „Diagnosesystem“ zur Erfassung von Risikomerkmalen für die Begehung weiterer Straftaten angewandt wird, und verweisen in diesem Kontext auf das von Urbaniok entwickelte Forensische Operationalisierte Therapie-Risiko-Evaluations-System (FOTRES; Urbaniok 2016).

Da Borchard und Gerth offensichtlich sehr grundlegend bisherige Vereinbarungen des Umgangs mit Krankheit, psychischer Störung, Risiko für Fremdgefährdung und Therapie infrage stellen, ist es geboten, einige der von ihnen geäußerten Punkte kritisch zu kommentieren bzw. richtig zu stellen. Dabei wird es 1) darum gehen, welche Überschneidungen, aber auch Unterschiede es zwischen Krankheit, psychischer Störung und behandelbaren Risikofaktoren gibt und welche sinnvollen Behandlungssettings und Behandlungsansätze dafür existieren. 2) Werden etablierte, theoretisch fundierte Rehabilitationsmodelle wie das Risk-Need-Responsivity(RNR)-Modell (Andrews und Bonta 2010), die den Behandlungsprozess nachweislich erfolgreich steuern können, von Borchard und Gerth kaum erwähnt. Im Rahmen der forensisch-psychiatrischen Fallkonzeption, Behandlungsplanung und Behandlungsevaluation werden Risikomerkmale bereits berücksichtigt. Ein entsprechendes Vorgehen muss daher keinesfalls neu erfunden werden. Als Lösung für die Steuerung entsprechender Prozesse wird von Borchard und Gerth schließlich 3) das FOTRES vorgeschlagen, das laut Borchard und Gerth gegenüber allgemeinpsychiatrischen Kriterienkatalogen einen inkrementellen Beitrag zur forensischen Diagnostik leiste. Für diese Aussage fehlt jedoch der empirische Beleg. Außerdem ergeben sich 4) mit der Anwendung dieses Instruments, das gängige Begrifflichkeiten neu definiert, Kommunikationsprobleme und Fallstricke, die abschließend skizziert und diskutiert werden.

Ad 1): Störungsbilder und Krankheiten werden nicht zur Erfassung dynamischer Risikofaktoren gemacht, sie sind aber hilfreich zur Einschätzung forensisch-klinischer Fragestellungen

Diagnosen (griechisch διάγνωσις, Unterscheidung von διά [diá-] „durch“ und γνώσις [gnósis] „Erkenntnis, Urteil“) werden in der sprachlichen Übereinkunft zur Feststellung von Krankheiten benutzt. Die Konstruktion von Krankheitskriterien oder diagnostischen Vorgaben betreffs psychischer Störungen, wie sie in den psychiatrischen Klassifikationssystemen ICD-10 (WHO 2004) und DSM‑5 (APA 2015) niedergelegt sind, erfolgt allerdings aus anderen Gründen als die von Faktoren, die für das Risiko der Begehung von Straftaten relevant sind und mit Belegen für deren Bedeutsamkeit in den zugehörigen Manualen (z. B. für den Static-99 (Hanson und Thornton 1999)) dargestellt werden. Die Einteilung der Klassifikationssysteme war nämlich eine Reaktion auf die früher stark schulenabhängige Diagnostik, die spätestens nach Einführung von für bestimmte Störungen spezifischen Behandlungsmethoden nicht mehr akzeptabel war (Saß 1987).

Allerdings ist es keineswegs so, dass – wie es Borchard und Gerth nahelegen – in den Manualen der Klassifikationssysteme vor deren Anwendung im juristischen Kontext abgeraten würde. Vielmehr wird im DSM‑5 (APA 2015) davor gewarnt, Diagnosen mit Rechtsbegriffen gleichzusetzen. Es heißt dort aber auch wörtlich: „Wenn beispielsweise das Vorhandensein einer psychischen Störung eine Bedingung für eine rechtliche Maßnahme ist (z. B. zwangsweise zivilrechtliche Unterbringung), dann erhöht die Anwendung eines anerkannten Diagnosesystems die Sicherheit und Verlässlichkeit der Entscheidung“ (S. 33).

Auch über Schwächen der Klassifikationssysteme wird von Borchard und Gerth einseitig berichtet: Sicher ist die beklagte mangelnde Validität und Reliabilität bestimmter psychischer Störungen – insbesondere im forensischen Kontext – ein Problem. Dieses Problem ist aber allenthalben bekannt und durch sozial erwünschtes Antwortverhalten oder auch Leugnung selbstverständlich. Es wird in den Arbeitsgruppen, die mit der Entwicklung der Störungsmanuale befasst sind bzw. in den Leitlinien verschiedenster Fachgesellschaften auch adressiert und macht umso mehr Probleme, je unschärfer der Übergang von einer Normvariante zur Störung ist (bei einer schizophrenen Psychose also weniger als bei Persönlichkeitsstörungen). Gegenwärtig steht man außerdem kurz davor, die Persönlichkeitsstörungen im Rahmen der ICD-11 dimensional zu fassen (Herpertz 2018), was deutlich macht, dass im Rahmen der regelmäßigen Überarbeitungen beider Manuale auf breiter fachlicher Basis an den von Borchard und Gerth skizzierten Schwächen der diagnostischen Systeme gearbeitet wird. Darüber hinaus existieren weltweit Bemühungen, um die Reliabilität und Validität der neuen ICD-11-Diagnoseleitlinien zu testen. Auch durchaus ermutigende Beispiele zum DSM (hier z. B. Seto et al. (2016) zur Pädophiliediagnose) finden keine Erwähnung.

Ganz unabhängig von Klassifikationen wird um den Krankheitsbegriff in der Psychiatrie schon lange kontrovers diskutiert. Krankheit ist, wie Häfner (1981) zutreffend formuliert hat, ein lebensweltlicher, im Kern eindeutiger, an den Rändern unscharf begrenzter Begriff. Diese Unschärfe dadurch auflösen zu wollen, dass alternative Diagnosekonzepte ins Spiel gebracht werden, ist nicht so simpel, wie Borchard und Gerth vorgeben. Schließlich ergeben sich durch die Krankheitsbegriffe Ansprüche an Hilfe aus dem medizinischen Solidarsystem (Helmchen 2003), letztlich ein Behandlungsanspruch. Dieser kann nicht von der Möglichkeit getrennt werden, Heilung bzw. Besserung der gesundheitlichen Schwierigkeiten mittels einer geeigneten und auch evidenzbasierten Therapie herbeizuführen. Zu den konkreten Möglichkeiten und Erfolgsaussichten einer Behandlung der von ihnen skizzierten Risikomerkmale äußern sich Borchard und Gerth jedoch nicht. Vielmehr scheinen sie implizit von einer Therapierbarkeit delinquenten Verhaltens auszugehen, obwohl z. B. hinsichtlich der Therapiemöglichkeiten bei dissozialen Persönlichkeitsstörungen (Gibbon et al. 2010; Khalifa et al. 2010) Skepsis angezeigt ist. Auch die im Rahmen des Sexual Offender Treatment Programme (SOTP) gemachten Erfahrungen aus England sprechen gegen eine an der Delinquenz ausgerichtete Therapieranordnung (Mews et al. 2017).

Hinzu kommt, dass der medizinische und der rechtliche Krankheits- oder Störungsbegriff nicht deckungsgleich sind. Mit dem Krankheitsbegriff begegnen sich im Sozial‑, Zivil- und Strafrecht medizinische und juristische Terminologie. Diese Schnittstelle wird jedoch von Borchard und Gerth komplett ausgeklammert. Bei Feststellung einer Krankheit können Ansprüche von der erkrankten Person und an die erkrankte Person entstehen, aber auch ein Schutz der Person vor bestimmten Anforderungen oder ein Recht auf Unterstützung. Entsprechend definiert das Sozialrecht Krankheit als regelwidrigen, körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand, der Arbeitsunfähigkeit, Behandlung oder beides nötig macht. Im strafrechtlichen Kontext ist der Krankheitsbegriff bezogen auf die Schuldfähigkeitsbegutachtung von Bedeutung, da nur bestraft werden darf, wer für eine Straftat auch verantwortlich ist. Die Verwendung des Krankheitsbegriffes und damit die Anwendung von Diagnosen erfolgt folglich nicht primär, um daraus die Behandlungsbedürftigkeit oder -fähigkeit eines Straftäters abzuleiten, sondern um die Frage der Schuld zu klären.

Außerdem ist es schlichtweg falsch, allgemeinpsychiatrische Konzepte als alleinige Eingangskriterien für rückfallpräventive Maßnahmen zu bezeichnen. Vielmehr ist entscheidend, dass die Krankheit ursächlich mit dem begangenen Delikt zusammenhängen muss, dass der betroffene Mensch in seiner Fähigkeit, eine rationale Entscheidung zu treffen, beeinträchtigt ist und sich deswegen beispielsweise von einer drohenden Strafe nicht abschrecken lässt. Schon die Einschätzung des ursächlichen Zusammenhangs ist eine normativ-rechtliche und nicht eine psychiatrische oder psychologische (auch wenn sich der Richter psychologischen oder psychiatrischen Sachverstands bedienen kann). Auch für die Entscheidung, in welcher Form und Ausprägung ein Mensch, der einen Rechtsbruch begangen hat, zur Verantwortung gezogen wird, ob und wie er daraufhin bestraft und/oder behandelt wird, spielen juristisch-normative Überlegungen zu Schwere der Straftat eine Rolle.

Eingangskriterium für den Strafvollzug ist die Sanktionswürdigkeit der Tat. Dazu ist keine psychische Störung oder gar Krankheit notwendig, auch wenn sie dennoch häufig vorkommt. Dabei sind manche psychische Störungen risikorelevant (z. B. die häufigen Persönlichkeitsstörungen), andere weniger oder gar nicht (z. B. unter Umständen Nikotinabhängigkeit). Borchard und Gerth vertreten nun die Auffassung, dieses Vorgehen stehe „im Widerspruch zu einer differenzierten und zielführenden forensischen Einschätzung und Versorgung. Denn es ist fraglich, ob davon ausgegangen werden sollte, dass nur diejenigen Straftäter deliktpräventiv in forensisch-psychiatrischen Kliniken behandelt werden können, die während der Tat nicht einsichts- und nicht steuerungsfähig waren. Viel eher ist anzunehmen, dass die Frage der Schuldfähigkeit weder etwas mit der Gefährlichkeit, noch mit der Behandlungsbedürftigkeit eines Täters zu tun hat.“ Allerdings befinden wir uns nicht in einer Gesellschaft, in der die Frage der Krankheit allein vom Risiko aus gedacht wird. Für eine solche Behauptung fehlt darüber hinaus die Auseinandersetzung mit der entsprechend zuständigen Disziplin. Wenn Borchard und Gerth sich für eine umfassende Reform des Maßregelrechts stark machen möchten, wäre dafür nicht die Auseinandersetzung mit diagnostischen Standards der Psychiatrie/Psychologie, sondern mit den gesetzlichen Vorgaben des Maßregelrechts notwendig.

Diese Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass die Frage einer Therapie an der Schnittstelle von Medizin und Recht von unterschiedlichen und nur z. T. fachspezifisch-diagnostischen Überlegungen abhängt. Dieser komplexen Ausgangslage wird man mit einem oberflächlichen Generalangriff auf diagnostische Standards nicht gerecht.

Ad 2) Es existieren bereits allgemein anerkannte forensisch-psychiatrische Standards zur Beurteilung forensisch-psychiatrischer Fallkonstellationen

Ohnehin ist es aus hiesiger Sicht ausgesprochen fraglich, ob in der Tat ein spezifischeres Klassifikationssystem notwendig ist, anhand dessen, wie von Borchard und Gerth (2020) empfohlen, angeblich risikorelevante Eigenschaften erfasst werden können, die sich auf Persönlichkeit und Störung beziehen. Schließlich wurde eine Vielzahl tatsächlich bedeutsamer Risikoeigenschaften bereits identifiziert und mittels verschiedener, validierter Risikomodelle und Erhebungsinstrumente handhabbar gemacht (z. B. das Level of Service Inventory [LSI-R] von Andrews und Bonta (1995), das Historical Clinical Risk Management-20 [HCR-20] von Douglas et al. (2014)) oder die Violence Risk Scale [VRS] von Wong und Gordon (1999)), was Borchard und Gerth zu Recht anerkennen.

Die Berücksichtigung kriminogener Kriterien im Rahmen eines adäquaten Fallmanagements ist daher weder strittig noch neu: Es gibt aus hiesiger Sicht keine forensisch psychiatrische Institution, bzw. es sollte keine geben, die bei der Therapieplanung nicht auch die spezifischen kriminogenen Risikomerkmale Betroffener berücksichtigt. Dieses Vorgehen wird in dem theoretisch fundierten und empirisch vielfach abgesicherten RNR-Modell von Andrews und Bonta (Andrews und Bonta 2010) seit über 20 Jahren propagiert und gehört inzwischen zum State of the Art forensischer Behandlung, und zwar sowohl im Straf- als auch im Maßregelvollzug (z. B. Müller et al. (2017)). Es ist in der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie also seit Jahren selbstverständlich, kriminogene Risikofaktoren zu adressieren.

Man sollte daher nicht so tun, als würden in der therapeutischen Praxis ausschließlich die in den Klassifikationssystemen als diagnostisch relevant eingeschätzten Symptome behandelt. Schließlich wird ein schizophrener Patient im Rahmen einer fachgerechten Therapie nicht nur im Hinblick auf diagnostisch relevante Merkmale wie Wahn oder Halluzination therapiert, sondern es wird nach Abklingen der psychotischen Symptomatik auch an der Krankheitseinsicht, antisozialen Persönlichkeitsmerkmalen, Beziehungsstörungen oder der Tagesstruktur gearbeitet (Habermeyer et al. 2012; Eusterschulte et al. 2017). Insofern ist die Berücksichtigung diagnoseferner Aspekte bei der Therapieplanung gang und gäbe. Es kann daher nicht die Rede davon sein, dass eine fachlich fundierte, deliktpräventive Therapie anhand des Rehabilitationsmodells RNR im Maßregelvollzug oder Strafvollzug, inklusive der Sozialtherapie, bislang nicht praktiziert werde bzw. mangels geeigneter Klassifikationen bzw. Instrumente gar unmöglich sei.

3) FOTRES als Alternative zur schweren psychischen Störung nach ICD oder DSM und als Voraussetzung für die Anordnung therapeutischer Maßnahmen bei Straftätern?

Zwar verweisen Borchard und Gerth zu Recht auf einige Probleme des aktuellen Konzepts der Persönlichkeitsstörungen gemäß ICD-10 und DSM‑5, deren teilweise geringe Reliabilität und fragliche Validität etc. Wenn sie aber „eine kohärente forensische Herangehensweise“ fordern, die „eine weitaus deutlichere Klarheit in Indikations- und Verlaufseinschätzungen bieten könnte“, formulieren sie einen Anspruch, dem das von ihnen als Alternative empfohlene FOTRES dann auch tatsächlich gerecht werden sollte. Daher wäre es interessant gewesen zu erfahren, wie die entsprechenden Kennwerte für dieses System aussehen. Um die Schlussfolgerungen von Borchard und Gerth zu rechtfertigen, sollten diese Kennwerte zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar besser sein.

Was die Reliabilität anbelangt, liefert die internationale Datenbank PsycINFO, die von der Amerikanischen Psychologischen Vereinigung verantwortet wird, bei der Kombination der Schlüsselwörter „FOTRES“ und „reliability“ allerdings nur einen einzigen Treffer. In der betreffenden Arbeit (Keller et al. 2011) finden sich Angaben zur Beurteilerübereinstimmung anhand des Korrelationskoeffizienten in Klassen (ICC). Für 15 Fälle, die separat von 3 Beurteilern anhand der Aktenlage eingeschätzt worden seien, hätten sich demnach nur niedrige (ICC = 0,23) bzw. moderate Werte (ICC = 0,53) für die Bereiche strukturelles Risiko bzw. Beeinflussbarkeit – 2 Auswertungskomponenten des FOTRES – ergeben. In der PubMed-Datenbank, die einen Überblick über medizinische Veröffentlichungen in anerkannten wissenschaftlichen Journalen ermöglicht, fanden sich unter dem Suchbegriff DSM‑5 am 12.02.2020 insgesamt 25.558 Einträge. Demgegenüber betraf nur ein einziger Eintrag (Rossegger et al. 2011) das von Borchard und Gerth als Alternative zu den Klassifikationen propagierte FOTRES. Die Datenbank PSYNDEX, in der das Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) deutschsprachige psychologische Fachbeiträge sammelt, weist unter dem Schlagwort FOTRES mit Datum vom 07.02.2020 16 singuläre Treffer aus, darunter nur 3 (Karanedialkova et al. 2010; Pein et al. 2012; Rettenberger et al. 2017), die nicht von Urbaniok oder Mitarbeitern verfasst worden sind. Darüber hinaus ergeben sich schon durch die Anzahl von ca. 100 im FOTRES definierten Merkmalen und durch die Komplexität der Konstrukte hohe Anforderungen hinsichtlich der Möglichkeit, die Beurteilerübereinstimmung dieses Verfahrens überhaupt empirisch prüfen zu können.

Die Datenbankrecherchen verdeutlichen, dass von einer Überlegenheit des FOTRES gegenüber diagnostischen Standards nicht die Rede sein kann. Vielmehr wurde das von Urbaniok entwickelte Instrument bislang wenig und v. a. kaum unabhängig beforscht. Von einer breiten empirischen Unterstützung, idealerweise im Sinne unabhängiger Replikationen im Rahmen des wissenschaftlichen Peer-Review-Prozesses, kann im Hinblick auf das FOTRES keine Rede sein. Dementsprechend kommen auch Rettenberger et al. (2017) zu dem Schluss, dass betreffs konzeptioneller und psychometrischer Eigenschaften des FOTRES Unklarheit herrsche.

Letztlich fehlt es an Nachweisen für die Eignung des FOTRES, v. a. als Diagnosemanual, bzw. an Daten zur psychometrischen Güte des Instruments. Es ist daher ausgesprochen fraglich, ob der vorab skizzierte komplexe fachliche bzw. nochmals anspruchsvollere interdisziplinäre Diskurs durch das von Borchard und Gerth beschriebene Vorgehen verbessert werden kann.

4) Es drohen Begriffsverwirrung und die Pathologisierung delinquenten Verhaltens

Darüber hinaus ist der Umgang von Borchard und Gerth mit psychiatrischen/psychologischen Begrifflichkeiten insgesamt problematisch. Die im FOTRES definierten Risikomerkmale werden im Artikel mehrfach auch als „risikorelevante Persönlichkeitsmerkmale“ bezeichnet. Wenn es sich aber tatsächlich um Persönlichkeitsmerkmale im weitesten Sinne handeln würde, dann müsste eine plausible Herleitung aus wissenschaftlich begründeten strukturellen Theorien der Persönlichkeitspsychologie bestehen, also beispielsweise aus den sog. Big Five (McCrae und Costa 2008) oder dem HEXACO-Modell (Lee und Ashton 2008). Tatsächlich stellen die Big Five (konkret: deren ins Negative gewendete Pole) den Bezugsrahmen für das (dimensionale) Alternativmodell zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen im DSM‑5 (APA 2015) dar. Eine solche theoretische Fundierung wird von Borchard und Gerth für das FOTRES aber weder geltend gemacht, noch liegen nach Kenntnis der Autoren des vorliegenden Beitrags entsprechende Belege zur Konstruktvalidität vor. Der Status der „risikorelevanten Persönlichkeitsmerkmale“ des FOTRES in Bezug auf einschlägige Persönlichkeitseigenschaften im Sinne wissenschaftlich akzeptierter Beschreibungssysteme ist daher völlig unklar.

Hinzu kommt, dass sich das FOTRES hinsichtlich der darin definierten Risikoeigenschaften von den entsprechenden diagnostischen Standards des DSM bzw. der ICD-10/ICD-11 entfernt bzw. sie durch eigene Begrifflichkeiten ersetzt. Dies geschieht bewusst, denn diagnostische Kategorien sind laut FOTRES-Manual (Urbaniok 2016) „schädliche implizite Theorien für Risikobeurteilungen“ (S. 11). Daher werden „selbst die Risiko-Eigenschaften, die einen sehr engen Bezug zu psychiatrischen Diagnosen haben, anders definiert als die entsprechenden Diagnosen“ (Urbaniok 2016, S. 10). Es geht hier also nicht um eine Ergänzung international vereinbarter Vorgehensweisen, sondern um die Etablierung eines eigenen Denksystems. Dabei wird eine Deutungshoheit bzw. Überlegenheit ohne einen wissenschaftlichen Nachweis suggeriert, verbunden mit der nachdrücklichen Empfehlung, andere sollten dieses System ebenfalls übernehmen. Gleichzeitig wird der international übliche Konsens diagnostischer Leitlinien, ein Meilenstein für die Reliabilität zwischen Untersuchenden, nonchalant aufgekündigt.

Die resultierende Heterogenität der Begrifflichkeiten bzw. deren Bedeutung führt genau wieder zu der Einbahnstraße der Schulenabhängigkeit psychiatrisch-psychotherapeutischer Begrifflichkeiten, die man mit der Entwicklung diagnostischer Standards überwinden wollte. Sie verhindert ein einheitliches, fachlich allgemein anerkanntes diagnostisches Vorgehen und kann schon aus diesem Grunde nicht im Interesse des Faches sein. So wird z. B. eine pädosexuelle Präferenz bzw. Affinität im FOTRES-Manual als auf Minderjährige (d. h. Personen unter 16 Jahren) ausgerichtete Beziehungs- und Sexualitätswünsche definiert (Urbaniok 2016), was in offensichtlichem Widerspruch zu den Vorgaben der psychiatrischen Klassifikationssysteme steht, denn die Diagnose der Pädophilie bzw. pädophilen Störung betrifft sowohl in der ICD-10- (WHO 2004) als auch in der DSM-5-Klassifikation (APA 2015) eine sexuelle Präferenz für vor- bzw. präpubertäre Kinder, unabhängig von der juristischen Definition des Schutzalters. Schon diese Diskrepanz verdeutlicht, welche terminologischen Missverständnisse und Risiken drohen, wenn diagnostische Grundlagen und internationale Vereinbarungen des Faches einfach ausgehebelt bzw. durch eine separate Eigenterminologie ergänzt werden. Schließlich unterscheidet sich die sexuelle Erregbarkeit durch ein vorpubertäres Kind nicht nur diagnostisch, sondern auch therapeutisch und prognostisch grundlegend von einer viel häufigeren Erregbarkeit durch z. B. eine bzw. einen 15-jährige/15-jährigen, körperlich i. d. R. schon voll entwickelte/entwickelten, aber noch minderjährige/minderjährigen Jugendliche/Jugendlichen (Habermeyer et al. 2019a). In ähnlicher Weise werden im FOTRES zahlreiche diagnostische Begriffe (z. B. „Pyromanie“, „narzisstische Persönlichkeitsstörung“, „Sadismus“) durch eigene Begrifflichkeiten („Affinität für Feuer und Brände“, „sadistische Präferenz“, „narzisstische Persönlichkeit“ etc.) ersetzt. Somit bedingt die Anwendung des Instruments die Gefahr der „Jingle“-Täuschung, wenn unterschiedliche Konzepte irrtümlich für identisch gehalten werden, weil sie den (annähernd) gleichen Namen haben (Thorndike 1913).

Wenn man das FOTRES-Instrument, wie es Borchard und Gerth in Anlehnung an Urbaniok (2016) tun, als ein diagnostisches ansehen möchte, besteht die Gefahr einer generellen Pathologisierung von Rechtsbrechern: Wie fatal eine Vermischung bzw. gar Verwechslung solcher kriminogenen bzw. psychosozialen Faktoren und medizinischen Diagnosen ist, bzw. was droht, wenn Verhaltensmerkmale zu Diagnosen erklärt und damit zur Grundlage und Basis der Anordnung einer Therapie und insbesondere einer Therapie gegen den Willen einer Person werden, kann am Beispiel der Schweiz illustriert werden. Das dortige Bundesgericht hat nämlich Begriffe aus dem FOTRES, wie von Borchard und Gerth vorgeschlagen, tatsächlich als diagnostische Kategorien genutzt und einen „Dominanzfokus“ bzw. eine „Vergewaltigungsdisposition“ im Zusammenspiel mit narzisstischen bzw. dissozialen Persönlichkeitszügen zur Grundlage der Anordnung von Therapiemaßnahmen zugelassen [Urteil 6B_933/2018, Urteil 6B_828/2019], wobei es im zweitgenannten Urteil sogar um eine stationäre Maßnahme ging, die im deutschen Recht einer Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 63 StGB entspricht.

Dass die im FOTRES erfassten Risikomerkmale auf diese Weise in den Rang von Diagnosen erhoben wurden, hat zu juristischer Kritik (Bommer 2020) geführt. Das erstgenannte Bundesgerichtsurteil ist unlängst sogar von einer juristischen Jury, die es als Ausdruck einer unbegrenzten Pathologisierung von Kriminalität einordnet, zum „Fehlurteil“ des Jahres 2019 gekürt worden (Schmid 2020). Auch aus psychiatrischer Sicht (Habermeyer et al. 2020) wurde die Gefahr einer zirkulären, letztlich tautologischen Argumentation gesehen, wenn dem Delikt die entscheidende Relevanz für die Frage des Vorliegens einer psychischen Störung zukommt. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass eine Therapie zunächst eine Indikation und dann auch die Auseinandersetzung mit den Erfolgsaussichten, d. h. ihren Chancen und Risiken, erfordert. Entsprechende sachverständige Aussagen für die vom Bundesgericht als bedeutsam bezeichneten Konstrukte „Dominanzfokus“ und „Vergewaltigungsdisposition“ wurden mangels entsprechender Therapiestudien als unmöglich erachtet (Habermeyer et al. 2020). Ohnehin stellt sich angesichts dieser Urteile die sehr grundsätzliche Frage, was, wenn für die Anordnung einer Therapie solche diagnoseferne Aspekte ausreichen sollten, überhaupt noch Aufgabe eines psychiatrisch-psychotherapeutischen Sachverständigen ist bzw. sein kann. Um psychiatrisch-psychotherapeutische Kernkompetenzen betreffs Diagnose und Therapieaussichten scheint es nämlich nicht mehr zu gehen.

Fazit

Die Therapieindikation in der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie erfordert, wie in allen medizinisch-therapeutischen Bereichen, eine sorgfältige Diagnostik nach den in den Klassifikationssystemen vorgegebenen fachlichen Standards. Darüber hinaus werden bei der Risikoerfassung und Behandlungsplanung jedoch auch diagnoseferne, deliktrelevante Aspekte berücksichtigt. Die Behandlungsplanung nach dem RNR-Prinzip (Andrews und Bonta 2010) kann auf eine Vielzahl statischer, stabil-dynamischer und akuter Risikofaktoren zurückgreifen, die mit gut validierten Instrumenten erhoben werden können. Für das statische Risiko haben sich hier Instrumente wie der VRAG (Harris et al. 1993) oder der Static-99 (Hanson und Thornton 1999) etabliert, für stabil-dynamische Risikofaktoren z. B. der Stable-2007 (Hanson und Harris 2007) oder jüngst für Gewalt- und Sexualstraftäter auch die VRS (Lewis et al. 2013) und die VRS-SO (Olver et al. 2018; Eher et al. 2020). Faktoren der Ansprechbarkeit („responsivity“), wie Intelligenz oder Psychopathie, können ebenfalls mit gängigen Instrumenten gemessen werden, und auch die Verlaufsmessung gelingt mit einem solchen Vorgehen.

Möglicherweise könnte das FOTRES ebenfalls einen wertvollen Beitrag zu Therapieplanung und -evaluation leisten. Bislang ist aber fraglich, ob dieses Instrument dazu, wie von Borchard und Gerth behauptet, einen „inkrementellen“ Beitrag gegenüber dem üblichen Vorgehen liefert. Ob und, wenn ja, wie ausgeprägt FOTRES hier einen Beitrag bzw. gar Vorteil bietet, müsste durch Forschung belegt werden. Borchard und Gerth sind nur zu ermutigen, entsprechende Studien auf den Weg zu bringen. Hierdurch würde der Wissensstand sicherlich erhöht, insbesondere wenn dabei auch das zur Risikoeinschätzung führende Vorgehen im FOTRES transparenter gemacht würde (also Gewichtungen, Kombinationsregeln und Verrechnungen von Einzelindikatoren für übergeordnete Kennwerte).

Bis dies geschehen ist, sollten die im forensischen Kontext tätigen Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten und auch die Juristen bzw. Vollzugsbehörden allerdings auf der Einhaltung bewährter Standards beharren. Obwohl auch diese Standards nicht ohne Mängel sind, ist nicht einzusehen, warum gerade in einem der sensibelsten Bereiche der psychiatrisch-psychotherapeutischen Arbeit auf allgemein anerkannte diagnostische Vorgaben verzichtet werden sollte (de Tribolet et al. 2015). Therapeutische Maßnahmen gemäß Strafgesetzbuch sind, da sie im Zwangskontext durchgeführt werden, hinsichtlich ihrer Legitimation in besonderer Weise auf einen stabilen und von Einzelmeinungen unabhängigen Bezugsrahmen angewiesen (Habermeyer et al. 2019b). Fällt dieser weg, droht ein Legitimitätsverlust, der das Fach bzw. die Tätigkeit im Fach ethisch fragwürdig macht.