Forensische Psychiatrie war lange Zeit ganz auf die Frage der Schuldfähigkeit orientiert, also psychiatrisch-diagnostisch, nicht auf Delinquenzprognose, also nicht kriminologisch ausgerichtet. Kriminologische Kenntnisse über den Langzeitverlauf von Straftätern waren wenig verbreitet. Sie wurden auch kaum benötigt, denn dass forensische Psychiater und Rechtspsychologen Strafgefangene oder Maßregel-Insassen zur individuellen Kriminalprognose begutachten, ist eine relativ junge Entwicklung in der Strafrechtspflege. Bis weit in die 1980er-Jahre trafen fast nur Richter kriminalprognostisch basierte Entscheidungen: Die Aussetzung von Strafen oder Maßregeln zur Bewährung entschieden sie aus eigener Überlegung (um hier das Wort Kompetenz zu vermeiden), sehr oft ohne Gutachter. Kriminalprognostische Gutachten bei Strafgefangenen waren Raritäten; nur erfahrene Gutachter sollten so etwas machen.

Manche dieser erfahrenen Gutachter neigten dazu, die Prognose aus der Diagnose und dem aktuellen psychischen Befund abzuleiten; das sind die Prognosen, die in der Rückschau als „intuitiv“ und in Amerika als „clinical“ bezeichnet wurden und die oftmals fehlgingen, weil sie die kriminologisch gesicherten Risikofaktoren nicht kannten oder nicht berücksichtigten.

Es gab dann aber in den späten 1980er-Jahren einige aufsehenerregende Tötungsdelikte durch vorzeitig entlassene Langstrafer, die gutachterlich für ungefährlich gehalten worden waren, und es gab mehrere Tötungsdelikte von stark gelockerten Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs. Erst jetzt und unter öffentlichem Druck entwickelte sich unter Psychiatern und Psychologen eine Debatte darüber, nach welchen wissenschaftlich fundierten Kriterien Kriminalprognosen zu stellen sind. Erst jetzt wurde in breiterem Umfang die Forschungsliteratur aus Nordamerika und Skandinavien zur Kenntnis genommen, die dann in den hiesigen Diskurs Eingang fand.

Gleichwohl gab es immer schon einen methodisch korrekten Zugang zur Bearbeitung kriminalprognostischer Fragestellungen, nämlich auszugehen vom Wortlaut der Strafprozessordnung und zu klären, ob die in der Tat (oder den Taten) zutage getretene Gefährlichkeit eines Verurteilten fortbesteht. Die primäre Quelle der Erkenntnis ist nicht die psychiatrische Diagnose oder die Persönlichkeitsstruktur, sind nicht Einstellungen und Fantasien, sondern das, was der Täter über seine realen Handlungsbereitschaften dokumentiert hat in einer juristisch aufgeklärten Tat – oder in Tatserien oder in einem breiten Spektrum unterschiedlicher Taten. Wenn wir unterstellen, dass dies die Fakten sind, dann stellen wir von ihnen ausgehend die Beziehung her zu der Persönlichkeit, zu den Mustern von Denken, Fühlen, Werten, Sozialverhalten und Wünschen dieses Täters, und ihren Veränderungen in der Zeit und in unterschiedlichen sozialen Umgebungen.

Das Delinquenzmuster in der Vergangenheit ist wesentlicher Gegenstand der standardisierten kriminalprognostischen Instrumente, und es hat sich herausgestellt, dass bereits ein relativ kleiner Satz von Merkmalen wie Alter bei Delinquenzbeginn, Zahl der Vorstrafen, Art der Delikte, Bewährungsbruch etc. ein erhebliches Maß an Aufklärung über die gruppenstatistische Wahrscheinlichkeit eines delinquenten Rückfalls ermöglicht. So wird jeder Berufsanfänger, der sich eines etablierten Instruments bedient, schlagartig zum vermeintlichen Experten der kriminalprognostischen Beurteilung dieses Verurteilen – selbst, wenn er von ihm kaum mehr weiß als das Strafregister.

Will man jedoch eine individuelle Prognose stellen, wie dies unser Rechtssystem fordert, und will man zudem festhalten, auf welchen Feldern therapeutischer oder erzieherischer Interventionsbedarf besteht, so muss man sich der Problematik stellen, dass die Erhebung von Lebensgeschichten und die Deutung von Biografien wesentlich aufwendiger und komplexer sind als das Auszählen von Vorstrafen. Wäre das Erkunden von Biografien und das Erzählen von Geschichten nicht eine alte psychiatrische Leidenschaft: Sie wären aus der forensischen Psychiatrie wohl verschwunden.

Dieses Heft also widmet sich den Reizen der verstehenden Erschließung einer Lebensgeschichte im Spannungsverhältnis zur Delinquenzgeschichte dieses Menschen und der daraus abzuleitenden Prognose. Vielleicht sollte man statt von Prognose von einem prognostizierten Möglichkeitsraum sprechen.

Es beginnt mit dem Beitrag des Historikers und Philosophen Jörg Baberowski zu der Frage, was die Lebensgeschichte lehrt und was nicht. Mit provokativer Klarheit verdeutlicht er, dass die Verwandlung einer Fakten-Chronik in eine Biografie ein kreatives, sinngebendes Geschehen ist, die Herstellung einer Erzählung. Solche Erzählungen stehen in der Gefahr, die enorme Bedeutung des Zufälligen zu unterschlagen. Gleichwohl sind solche bisweilen riskanten Sinngebungsprozesse unvermeidlich und werden für die soziale Interaktion essenziell benötigt.

Der Beitrag des Psychiaters und Philosophen Matthias Bormuth über die Grenzen des Verstehens am Beispiel der Biografie von Ulrike Meinhof verdeutlicht den Kampf der Verstehens-Konzepte bei der Betrachtung einer Biografie: Beruhte die Radikalisierung Frau Meinhofs auf einer erhöhten Gewaltbereitschaft infolge von Läsionen des Mandelkernes, wie einige biologische Psychiater behaupteten, oder war der in einem politischen Umfeld und Diskurs gewachsene Radikalisierungsprozess dann auch Grundlage der Bereitschaft, Morde gutzuheißen? Bormuth beschreibt eine an Jaspers angelehnte kasuistische Methodik.

Florian Berg und H.-L. Kröber beschreiben den Beginn der deutschen standardisierten Kriminalprognostik – nicht zufällig in der NS-Zeit. Schon in der Weimarer Zeit wollten die Strafrechtsreformer gerne besser unterscheiden zwischen erstens den unverbesserlichen Rückfalltätern, zweitens den Besserungsfähigen und drittens jenen Gelegenheitstätern, die auch ohne Behandlung nicht rückfällig werden. Der Import amerikanischen Knowhows ermöglichte 1936 die Schaffung eines Instruments von 15 Merkmalen, mit dem fortan auch kriminaldiagnostisch ungeübte Hilfskräfte sozusagen am Fließband all jene angeblich hoffnungslosen Fälle aussortieren konnten, die keinerlei Anstrengung mehr zu rechtfertigen schienen.

Der Rechtspsychologe und Kriminologe Martin Rettenberger schildert den Siegeszug der standardisierten Prognoseinstrumente in Nordamerika, die zwischen 1960 und 1990 sämtliche Vergleichstests gegenüber intuitiven Prognosen haushoch gewannen und damit zugleich das auf die Aussagekraft von psychiatrischen Diagnosen setzende Erfahrungswissen des einzelnen Prognostikers infrage stellten. Die Situation wandelte sich nach Implementierung der wesentlichen Risikofaktoren in das Bewusstsein und die Arbeit der Prognostiker; gleichwohl blieb die von Rettenberger erläuterte Problematik, dass die individuelle Modifizierung der statistischen Prognosewerte anhand des individuellen Eindrucks des Gutachters die Vorhersagegüte verschlechtern könnte.

Die Rechtspsychologen Klaus-Peter Dahle und Robert Lehmann sind sich einig mit Rettenberger, dass unsere Rechtsordnung eine individuelle Prognose vorschreibt und sich mit nur gruppenstatistischen Aussagen nicht begnügen kann. Beide erläutern die Stärken und Schwächen der beiden gebräuchlichen Vorgehensweisen, des standardisierten statistischen Vorgehens wie auch der komplexen klinisch-idiographischen Fallbeurteilung. Diese bezieht wesentliche Elemente und Muster des Lebenslaufes in die Fallerkundung ein und erreicht so einen deutlich höheren Individualisierungsgrad. Dahle und Lehmann haben die Methodik an 221 Strafgefangenen überprüft und konnten zeigen, dass die klinisch-idiografische Methode in Kombination mit der standardisierten Erfassung der basalen Risikofaktoren zu einer signifikanten Verbesserung der Prognosegüte führt.

Im Grundsatz ist diese Kombination von Erfassung kriminologischer Risikomarker und biografisch relevanter sozialer Denk- und Verhaltensmuster schon 2007 in den „Mindestanforderungen für Prognosegutachten“ (Boetticher et al. 2007) einer Arbeitsgruppe von Bundesrichtern und weiteren Juristen, forensischen Psychiatern und Rechtspsychologen für grundlegend erklärt worden. Es gehe im ersten Schritt darum zu ergründen, worin die in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit begründet war, welche intrinsischen und extrinsischen Merkmale im Verbrechen wirksam wurden. Im zweiten Schritt sei zu erkunden, wie sich diese Faktoren und die sie verbindende Person in der Zwischenzeit entwickelt haben in ihren Verhaltensmustern, psychischen Strukturen, sozialen Beziehungen und Intentionen. Drittens sei aufzuzeigen, welche Auswirkungen dies aktuell und künftig auf die Delinquenzbereitschaft und das Tatrisiko hat – bei Annahme möglicherweise unterschiedlicher sozialer Empfangsräume. Die Rechtspsychologen Maximilian Wertz, Helmut Kury und Martin Rettenberger haben 502 Gutachten einerseits der Münchner Universitätsabteilung für Forensische Psychiatrie, andererseits aus dem südbadischen Raum für die JVA Freiburg daraufhin überprüft, in welchem Umfang die Vorgaben der „Mindestanforderungen“ erfüllt wurden: keineswegs flächendeckend, und die Mängel hatten messbare Auswirkungen auf die an Rückfällen gemessene Vorhersagequalität. Die Studie verdeutlicht: Es geht nicht allein um die bessere Methodik, sondern immer auch um die handwerkliche Qualität, die beginnt mit der gebotenen Sorgfalt und fortlaufendem Kompetenzerwerb.

Zu den Defiziten mancher Prognosegutachten gehört, dass sie fast ausschließlich auf das Verhalten in der Haftanstalt oder der Maßregelklinik fokussieren und daraus ihre Prognose wie auch den Behandlungsbedarf ableiten. Der Kriminologe Michael Bock weist darauf hin, wie eingeengt die Aussagen anhand dieser Prüfstrecke sind, wie stark bestimmt durch die Besonderheiten, die sich aus den gravierenden Verhaltensrestriktionen in Haft ergeben. Auch er plädiert für eine differenzierte biografische Anamnese und kriminologische Analyse des Lebens des Probanden in Freiheit, weil sich nur durch einen innerbiografischen Vergleich mit dem Leben in Freiheit auch das Haftverhalten realistisch einordnen lässt.

Der letzte Artikel zum Schwerpunktthema stammt vom Psychiater Hans-Ludwig Kröber und kehrt zurück zum Auftakt-Beitrag von Baberowski: Was können wir aus dem Lebensverlauf eines individuellen Straffälligen lernen – wie zuverlässig, zutreffend und unvoreingenommen können wir seine Lebensgeschichte rekonstruieren – voreingenommen nicht wegen seiner Straftat, sondern wegen unserer vorbestehenden, erlernten, unreflektierten Deutungsschemata? Plädiert wird für eine erzählende Beschreibung unter weitgehendem Verzicht auf die Behauptung von Kausalbeziehungen, und eine große Achtsamkeit für zufällige und situativ bedingte Entwicklungen. Das Erstellen von Biografien, die relevant werden für einschneidende juristische Entscheidungen über einen Menschen, unterliegt hinsichtlich Sorgfalt und Fairness erheblichen ethischen Anforderungen.

Es folgt im Heft wie gewohnt der Journal Club mit dem psychologischen Beitrag von Lisa Francke über Impulsivität als Prädiktor sexuell motivierter Tötungen und dem kriminologischen Beitrag von Angelika Treibel über das Bedürfnis (der Bevölkerung) nach Bestrafung. Das Blitzlicht befasst sich, passend zum Schwerpunktthema, mit der vereinfachenden Neuformatierung einer Biografie durch den Erwerb des Opferstatus; der neue Rang der Erwähltheit wird dabei erkauft mit einem gravierenden Verlust von Buntheit, Lebendigkeit und Facettenreichtum dieser Lebensgeschichte.

Und zum Schluss finden Sie unsere Reise-Empfehlungen im Kongresskalender.

Hans-Ludwig Kröber