Wahnsyndrome und insbesondere der schizophrene Wahn standen lange Zeit im Zentrum der klinischen Psychiatrie, aber auch der Psychopathologie, insbesondere zu Zeiten, als diese noch die wesentliche Grundlagenwissenschaft unseres Faches darstellte. Inzwischen hat die Bedeutung der Wahnphänomene in den theoretischen Auseinandersetzungen und in der klinischen Praxis ein wenig abgenommen. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass im Zeitalter der operationalisierten Diagnostik und einer damit einhergehenden Verkürzungstendenz auf die einschlägigen Kriterienlisten weniger Gewicht auf die subtile psychopathologische Analyse der abnormen seelischen Phänomene gelegt wird. Darüber hinaus kommt es durch den umfassenden und frühen Einsatz neuroleptischer Medikation seltener zur Ausbildung umfangreicher, intensiv ausgestalteter Wahnphänomene. Ungeachtet solcher Verschiebungen stellen Wahnsyndrome weiterhin einen klinisch und forschungsmäßig gleichermaßen wichtigen Kernbereich psychiatrischer Problemstellungen dar. Aus diesem Grund haben wir in einem ersten Schwerpunkt dieses Heftes 3 Arbeiten versammelt, in denen es um forensische Aspekte bei Wahn bzw. wahnhaften Störungen geht.

Wenn eingangs der Eindruck geäußert wurde, dass Wahnerkrankungen ein wenig an Bedeutung verloren haben, so stellt das „Stalking“ eine Ausnahme von diesem Trend dar. Die Zunahme entsprechender Verhaltensauffälligkeiten, die sogar zur Einführung des neuen Straftatbestandes „Nachstellung“ im § 238 StGB geführt hat, ist in ihren psychopathologischen und in ihren psychosozialen Verknüpfungen sowie v. a. auch in ihren medienbezogenen Aspekten noch ungenügend verstanden. Ob es sich im Übrigen wirklich um eine Zunahme oder nur um eine vermehrte Beachtung handelt, vergleichbar mit anderen medienaffinen Themen in der Randzone zwischen Psychiatrie und Zeitgeist, muss durchaus noch abgewartet werden. – Dressing u. Foerster analysieren in ihrem Beitrag unterschiedliche Formen von Stalking-Verhalten im Hinblick auf geläufige psychiatrische Störungsbilder wie Erotomanie, pathologische Verliebtheit und affektgetragene Wahrnehmungsverzerrungen. Wichtig sowohl für Therapie und Prognose sowie auch die forensischen Konsequenzen sind differenzialdiagnostische Abgrenzungen zwischen noch einfühlbaren Verhaltensauffälligkeiten, psychopathologischen Entwicklungen in wahnhafte Verfassungen hinein und schließlich den eindeutigen psychotischen Zuständen.

Patienten, die mit wahnhaften Depressionen gem. § 63 StGB in einem Maßregelvollzugskrankenhaus untergebracht sind, werden in der Arbeit von Stolpmann et al. untersucht. Die Autoren konstatieren erhebliche Wissensdefizite in wichtigen Problembereichen, etwa der Schuldfähigkeitsbeurteilung, des „erweiterten Suizids“, der Gefährlichkeitsprognose und der spezifischen medikamentösen Behandlung. Von daher wird erheblicher Forschungsbedarf deutlich. Den juristischen Rahmen für die Beurteilung der Schuldfähigkeit im Zusammenhang mit Wahnerkrankungen steckt der Heidelberger Kriminologe Dölling ab. Zu Recht wird eine differenziertere Betrachtungsweise der Wahnphänomene gefordert, dies im Unterschied zum forensischen Alltagsverständnis, wonach das Vorhandensein von Phänomenen nicht näher differenzierten Wahns häufig pauschal mit Aufhebung der Verantwortlichkeit gleichgesetzt wird.

Insgesamt zeigt sich bei Lektüre dieser Arbeiten, dass Graduierungen des Wahns für die Beantwortung der forensisch-psychiatrischen oder auch psychologischen Fragestellungen nach Schuldfähigkeit und Prognose zwar nötig sind, doch fehlen verlässliche und allgemein anerkannte Parameter für Grenzziehungen. Dies betrifft weniger den floriden Wahn der akut psychotischen Erkrankung, denn hier ist die Desintegration der kognitiven, aber auch der affektiven Funktionen so deutlich ausgeprägt, dass per conventionem Schuldunfähigkeit ausgenommen wird. Dabei besteht auch hier bei genauerer Betrachtung ein theoretisch und konzeptionell zwar wenig beachtetes, umso schwierigeres Problem, nämlich die auch in der Handbuchliteratur vernachlässigte Frage, ob es im floriden Wahn eher um eine Störung der Einsichts- oder der Steuerungsfähigkeit geht. Hier hat Janzarik [1] mit seiner wichtigen Arbeit über Einsicht, Steuerung und Einsichtssteuerung zwar eine sehr differenzierte Beschreibung des Problems geliefert, doch stehen eine vertiefte Rezeption und Auseinandersetzung gerade im rechtlichen Schrifttum noch aus.

Eine andere Problemzone betrifft die Differenzierung des Wahns in diagnostischer Hinsicht. Zwar wird in der traditionellen Psychopathologie und auch in den operationalisierten Klassifikationssystemen der Gegenwart weitgehend die Fiktion aufrechterhalten, dass es in Bezug auf Wahnphänomene kategoriale Unterscheidungen gibt, etwa zwischen tiefen Überzeugungen, überwertigen Ideen, wahnhaften Syndromen und schließlich dem „echten“ Wahn. In der klinischen Empirie allerdings finden wir sowohl im allgemeinpsychiatrischen wie im forensischen Bereich eher dimensionale Verhältnisse vor, also ausgesprochen fließende Übergänge zwischen noch normalpsychologisch einfühlbaren, sodann abnormen, schließlich wahnähnlichen und am Ende absoluten und irreversibel fixierten Wahnphänomenen. Ein Beispiel für die oft bruchlos anwachsenden psychopathologischen Entwicklungen dieser Art finden sich bei der Querulanz, die insoweit nicht nur im sozialen Miteinander, sondern auch in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht Anlass zur Beunruhigung gibt.

Im zweiten Schwerpunktthema dieses Heftes geht es um Probleme des Suizids in geschlossenen Institutionen, hier im psychiatrischen Fachkrankenhaus oder in Haftanstalten. Die Arbeit von Felthous, einem forensischen Psychiater aus den USA, beleuchtet die Problematik durch Vergleiche auf unterschiedlichen Dimensionen: zum einen in der zeitlichen Erstreckung, zum anderen bei der Gegenüberstellung von Suizid in Haftanstalten unter lokaler bzw. kommunaler Kontrolle („jails“) vs. denjenigen unter bundes-/einzelstaatlicher Kontrolle („prisons“) und schließlich nach der Art der vorgeworfenen bzw. abgeurteilten Straftaten. Interessant ist der Befund, dass die Suizidrate gewalttätiger Häftlinge doppelt so hoch ist wie die von nichtgewalttätigen Häftlingen. Darüber hinaus bilden sich die Zeiträume unmittelbar nach Beginn des Freiheitsentzugs und um die Verhandlung herum als besonders risikoträchtig ab. Wir haben diese Arbeit auch deshalb aufgenommen, weil sie reichhaltiges kriminologisches Vergleichsmaterial aus einem anderen Rechtsraum enthält und somit eine interessante Hintergrundsfolie für die Analyse der hiesigen Situation abgibt.

Die aktuellen Verhältnisse im Gebiet der Europäischen Union werden in dem Beitrag von Rabe u. Konrad abgehandelt, der sich auf empirische Daten vorwiegend der europäischen Strafvollzugsstatistik stützt. Ähnlich wie in der US-amerikanischen Arbeit werden Gesichtspunkte zur Erkennung von Risikofaktoren und Suizidprävention abgeleitet und entsprechende Maßnahmen in den Haftanstalten angeregt.

Die beiden Beiträge über Gefängnissuizid werden durch ein Manuskript von Wolfersdorf et al. über den Patientensuizid im psychiatrischen Fachkrankenhaus ergänzt. Hier zeigen sich interessante Berührungspunkte hinsichtlich Risikoerkennung, Prävention und Gestaltung der Versorgung. Die über die letzten Jahrzehnte schwankenden Suizidraten werden ebenso diskutiert wie Wandlungen der diagnostischen Gepflogenheiten. Abschließend gehen die Autoren auf einige der gutachterlichen Fragestellungen ein, die nicht selten nach Suizidversuchen bzw. Suiziden in einem Krankenhaus aufgeworfen werden.

Es zeigt sich, dass Suizid und Suizidprävention einerseits vor dem Hintergrund der Garantenstellung von Arzt und Krankenhaus gegenüber dem Patienten und damit vor dem Gebot größtmöglicher Sicherheit zu sehen sind. Andererseits entsteht hier, wie in vielen forensischen Bereichen, zu den Rechten auf Freiheit, Menschenwürde und Selbstbestimmung ein natürliches Spannungsverhältnis, das einen ständigen gesellschaftlichen Diskurs erfordert.