Hintergrund

Proximale Humerusfrakturen gehören zu den dritthäufigsten osteoporotischen Verletzungen in Deutschland und stellen die zweithäufigste osteoporotische Verletzung der oberen Extremität dar [1,2,3]. Während das Frailty-Konzept bei hüftgelenknahen Frakturen und die damit einhergehende Auswirkung auf Mobilität, Morbidität und Alltagsaktivitäten gut bekannt ist, ist dieselbe Bedeutung bei proximalen Humerusfrakturen noch in den Kinderschuhen [4, 5]. Doch durch die stets steigende Lebenserwartung wird die Inzidenz der proximalen Humerusfrakturen v. a. bei > 65-Jährigen in den kommenden Jahren weiter deutlich steigen [1,2,3, 6, 7]. Dies rückt erneut die mannigfaltigen Therapieoptionen in den Fokus [8,9,10,11,12,13].

Ziel ist neben der Erhaltung von Beweglichkeit und Funktion, eine Rückkehr in die Selbstständigkeit (wenn zuvor vorhanden) verbunden mit möglichst geringen Komplikationen und einer geringen Mortalität. Osteosynthetische Versorgungsmöglichkeiten beinhalten v. a. die winkelstabile Platten- und Nagelosteosynthese, welche jedoch mit einer Komplikations- und operativer Revisionsrate von 16–50 % einhergehen, auch wenn die Komplikationsraten durch additive Maßnahmen wie z. B. die Doppelplattenosteosynthese mutmaßlich in Zukunft noch gesenkt werden können [14,15,16].

Bei der endoprothetischen Therapie hat die primäre Versorgung mittels inverser Prothese an Bedeutung gegenüber der anatomischen Prothese gewonnen und wird in der Literatur als valides Verfahren mit gut reproduzierbaren Ergebnissen genannt [17,18,19,20,21]. Neer [22] postulierte zwei wichtige Faktoren zur Therapieentscheidung für eine operative Versorgung, nämlich eine Fragmentdislokation > 1 cm sowie eine Kalottenabkippung > 45°. Habermeyer et al. [23] verschärften diese Kriterien zugunsten einer operativen Indikation ab bereits 0,5 cm Verschiebung und 30°-Kopfabkippung. Studien konnten jedoch zeigen, dass die Wahl des operativen Verfahrens neben der Frakturmorphologie oft auch von der persönlichen Präferenz und Expertise des Operateurs stark beeinflusst wird [24]. Es stellt sich die Frage, ob für die Wahl des Therapieverfahrens der Monoverletzung „proximale Humerusfraktur“ der „geriatrische Patient“ selbst im Vordergrund der Indikationsentscheidung stehen sollte.

Ziel dieser Studie ist es, den Stellenwert der konservativen Therapie gerade im Vergleich zur kopferhaltenden, operativen Therapie darzustellen und zu zeigen, dass sich hiermit vergleichbare, reproduzierbare Ergebnisse erreichen lassen, die sich anhand von subjektiver Patientenzufriedenheit, vergleichbarer Scoreergebnisse sowie niedrigen Komplikationsraten messen lassen.

Material und Methoden

Um die Versorgungsrealität besser analysieren zu können, führten wir eine Auswertung aller Daten der primär am Haus versorgten proximalen Humerusfrakturen über einen 10-Jahres-Zeitraum zwischen 2007 und 2016 durch. Es wurden 766 Patienten identifiziert. Über die Jahre fiel ein Wandel der Indikationsstellung zugunsten der konservativen Behandlung auf. Neben dem deutlichen Rückgang der Plattenosteosynthese zeigt sich ein Anstieg von Nagelosteosynthesen und wir bestätigen den Trend zur primären Implantation einer Inversen Prothese (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

10-Jahres-Versorgungsanalyse eines Maximalversorgers bei proximalen Humerusfrakturen

Wir führten eine retrospektive Single-center-Kohortenstudie, der konsekutiv operativ und konservativ versorgten proximalen Humerusfrakturen durch. Es konnte ein Gesamtkollektiv von 240 Patienten an einem überregionalen Traumazentrum im Zeitraum von 2013 und 2015 herausgefiltert werden, von denen 97 operativ kopferhaltend, 90 konservativ und 53 mittels Prothese versorgt wurden. Ausschlusskriterien für die klinische Nachuntersuchung wurden wie folgt definiert: Alter > 18 Jahre, fortgeschrittene Demenz, neuromuskuläre Erkrankungen, Pflegegrad ≥ IV. Aus den vorliegenden Akten konnten Alter, Geschlecht, Komorbiditäten, Medikamente, Body Mass Index (BMI), Nikotinabusus, betroffene Seite, Schwere der Verletzung, Weichteilschaden, Unfallursache, Begleitverletzungen, Zeitpunkt der Operation, Verweildauer, Nachbehandlung, Komplikationen und Patientenzufriedenheit ermittelt werden. Die endoprothetisch versorgten Patienten wurden nicht nachuntersucht.

Therapeutisches Vorgehen

Die konservative Behandlung erfolgte in Abhängigkeit der Dislokationsrichtung im Gilchrist-Verband mit oder ohne Hypomochlion (valgisch impaktiert) oder im Abduktionskissen (varisch). Ab der zweiten Woche wurden Pendelübungen durchgeführt. Röntgen – und klinische Kontrollen erfolgten nach 1, 3 und 6 Wochen.

Für die Indikationsentscheidung wurden die Neer-Kriterien zugrunde gelegt und dann in Abhängigkeit von Patientenkonstitution und Wunsch eine individuelle Entscheidung getroffen. Alle operativ versorgten Patienten wurden in Beach-chair-Lagerung in Intubationsnarkose durch Oberärzte mit langjähriger Erfahrung versorgt. Zum Einsatz kamen die Philos-Platte (Fa. DePuy Synthes, Umkirch, Deutschland) und der MultiLoc (Fa. DePuy Synthes).

Outcome-Parameter

Im Rahmen der klinischen Nachuntersuchung wurden tägliche Aktivitäten abgefragt, das Bewegungsausmaß erhoben und eine Kraftmessung (Flexibar) der oberen Extremitäten durchgeführt. Zudem wurden der Constant Murley Score (CMS; [25]), Disability of Arm, Shoulder and Hand Questionnaire (DASH; [26]), Subjective Shoulder Value (SSV) [27] und die visuelle Analogskala (VAS) erhoben.

Radiologische Auswertung

Von allen Patienten waren mindestens Röntgenbilder direkt postoperativ und 6 Wochen postoperativ vorhanden. Hierbei wurden neben der AO (Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese)-Klassifikation, die Neer-Kriterien ([22]; Dislokation > 45° und Fragmentverschiebung > 1 cm) zugrunde gelegt und die Hertel-Klassifikation [28] angewendet. Zusätzlich wurde die Intaktheit des medialen Scharniers, die mediale Extension, Head-split-Komponente, Humeruskopfnekrose und varische oder valgische Abkippung beurteilt.

Statistik

Die statistische Auswertung erfolgte mit IBM SPSS® Statistics (Version 27, IBM, Armonk, NY, USA). Zur Prüfung der Normalverteilung wurde der Shapiro-Wilk-Test genutzt. Bei Normalverteilung wurden der t‑Test für unabhängige und abhängige Stichproben sowie der One-Way-Anova (einfaktorielle Varianzanalyse) genutzt. Bei fehlender Normalverteilung wurden nicht-parametrische Tests wie Kruskal-Wallis- oder Mann-Whitney-U-Test verwendet. Die Darstellung von Zusammenhängen erfolgte bei Normalverteilung mit der Korrelation nach Pearson. Das Signifikanzniveau beträgt p = 0,05.

Ergebnisse

Demografische Daten

Den Einschlusskriterien entsprachen 128 Patienten (57 konservativ, 71 operativ). Davon konnten 91 Patienten mit einem durchschnittlichen Follow-up von 3,4 (1,9–4,5) Jahren nachuntersucht werden. 112 Patienten wurden aufgrund der unter Material und Methoden genannten Ausschlusskriterien ausgeschlossen. Das Kollektiv bestand zu 66 % aus Frauen und 34 % aus Männern. In 43 Fällen war die rechte Seite betroffen und in 40 Fällen die dominante Seite. Im Schnitt war das Kollektiv 62 (Range: 19–87) Jahre alt, wobei das Durchschnittsalter in der konservativen Gruppe höher lag (64 vs. 60,5 Jahre). Auffällig war, dass die Patienten mit Nagelosteosynthese einen deutlich höheren Altersdurchschnitt aufwiesen mit 71,6 Jahren. Im Schnitt hatten alle Patienten einen BMI von 27,75 (Range: 18,5–44) kg/m2. 17 % (n = 16) des Kollektivs waren Raucher. Die häufigsten Unfallursachen waren Stürze aus geringer Höhe, Verkehrsunfälle und Sport/Freizeitunfälle. 3 Patienten waren polytraumatisiert. Die Verweildauer im Krankenhaus betrug durchschnittlich 5,2 (Range 0–21) Tage (konservativ: 2,4; operativ 7,9 Tage), wobei die Operation im Schnitt nach 3,8 Tagen durchgeführt wurde. In allen Fällen lag ein geschlossener Weichteilschaden vor.

Konservative Therapie

Nachuntersucht werden konnten 41 konservativ behandelte Patienten. Als primäre Retentionsform erhielten 38 (92,7 %) der Studienteilnehmer einen Gilchrist-Verband, 2 ein Thoraxabduktionskissen und einem Patienten wurde ein Desault-Verband angelegt. Das Augenmerk wurde auf einen frühen Beübungsbeginn gelegt. Im Schnitt betrug die vollständige Ruhigstellung 10,5 ± 7,7 Tage. Eine partielle Ruhigstellung (überwiegend zur Nacht) wurde im Mittel für 5,5 Wochen durchgeführt. Ab der 3. Woche wurde mit aktiv assistierter Beübung begonnen.

Das durchschnittlich ermittelte Bewegungsausmaß betrug: Abduktion 139°, Anteversion 148°, Innenrotation 85°, Außenrotation 51°. In den Scores wurden im Schnitt im VAS Schmerz 0,9 Punkte (aus 10 Punkten) und im SSV 86 Punkte von 100 Punkten erzielt. Das Ergebnis des relativen CMS betrug 88,8 % und des absoluten CMS 70,7 Punkte. Im DASH zeigten sich durchschnittlich 16,5 Punkte.

Zu einer Operation war 8 Patienten geraten worden. Ausnahmslos alle Patienten zeigten sich mit der gewählten Behandlung zufrieden und gaben an, sich wieder einer konservativen Behandlung zu unterziehen.

Operative Therapie

Hierbei handelte es sich um 17 2-Part-, 22 3-Part- und 11 4-Part-Frakturen nach Neer. Die Neer-Kriterien waren in 47 Fällen erfüllt. Das durchschnittlich ermittelte Bewegungsausmaß betrug: Abduktion 119°, Anteversion 126°, Innenrotation 88°, Außenrotation 40°. In 18 % (n = 9) der Fälle wurde die Nagelosteosynthese durchgeführt. 41 Patienten erhielten eine Plattenosteosynthese.

In den Scores wurden im VAS Schmerz 1,8 Punkte aus 10 Punkten und im SSV 72 (Platte [P]: 73; Nagel [N]: 72) Punkte von 100 Punkten erzielt. Das Ergebnis des absoluten CMS betrug 63,5 (P: 64,9; N: 56,7) Punkte und des adaptierten CMS 79,9 (P: 80,9; N: 75,2) %. Im DASH zeigten sich durchschnittlich 24,2 (P : 24,1; N: 24,2) Punkte. In keinem Bereich zeigte sich ein signifikanter Unterschied in der Nagel- oder Plattengruppe (p > 0,05). Die Ergebnisse sind im Vergleich zur konservativen Therapie in Abb. 2 dargestellt.

Abb. 2
figure 2

Vergleich zwischen konservativer und operativer kopferhaltender Therapie: a Vergleich des Bewegungsumfangs in Grad. b Vergleich der Scoreergebnisse in Punkten (SSV Subjective Shoulder Value, DASH Disability of Arm, Shoulder and Hand Questionnaire, CMS Constant Murley Score)

Die Gesamtkomplikationsrate betrug 20 %. Diese beinhalteten: postoperatives Hämatom (n = 1), Humeruskopfnekrose (n = 10), Infekte (n = 1), Schraubenperforation (n = 10), Pseudarthrose (n = 1), Implantatversagen (n = 1) und Nagelhochstand (n = 1). In 2 Fällen musste eine operative Revision (Implantatversagen und Reosteosynthese, Infektdébridement) durchgeführt werden. Elf Patienten stellten sich im Verlauf zur Implantatentfernung mit Narkosemobilisation (Philos n = 10, MultiLoc n = 1) erneut vor. Beim Vergleich Verläufen mit und ohne Komplikationen zeigten sich keine Unterschiede bezüglich Frakturmorphologie, radiologischen Kriterien oder Alter der Patienten. Lediglich die Wartezeit bis zur Operation war in der komplikationsbehafteten Gruppe höher (4,85 vs. 3,6 Tage). Im Vergleich zeigte sich ein tendenziell besseres Abschneiden ohne Komplikationen, jedoch kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen (Komplikationen vs. keine Komplikationen) in den klinischen Ergebnissen.

Radiologische Auswertung

Insgesamt waren in 88 Fällen die Neerkriterien erfüllt. In 3 Fällen bestand eine Luxationsfraktur. Diese Patienten wurden ausnahmslos operativ versorgt. Im untersuchten Kollektiv gab es keine Head-split-Komponente. Bei den operativ versorgten Patienten war in 7 Fällen das mediale Scharnier intakt und das Kalkarsegment (metaphysäre Extension) im Schnitt 10,5 mm lang.

Im Subkollektiv der 41 konservativ Behandelten hatten nach den Kriterien von Neer 16 (39,0 %) Patienten eine dislozierte Fraktur und 25 (61,0 %) eine nicht oder geringfügig dislozierte Fraktur (Neer 1). Eine Fraktur (1,8 %) betraf das Collum anatomicum und 2 (4,9 %) Frakturen das Collum chirurgicum. Frakturen der Gruppe IV nach Neer kamen bei 8 (19,5 %) Patienten vor und Frakturen der Gruppe IV/V in 12,2 % (n = 5) der Fälle (Abb. 3). In 8 Fällen war das mediale Scharnier intakt.

Abb. 3
figure 3

Proximale Humerusfraktur nach einem Sturz bei einer 79-jährigen Patientin: konservative Therapie. (a) a.p. Röntgen-Aufnahme der linken Schulter umgehend nach Trauma. (b) a.p. Röntgen-Aufnahme der linken Schulter: Verlaufskontrolle drei Wochen posttraumatisch mit deutlich verbesserter Stellung

Im operativen Subkollektiv zeigte sich eine andere Verteilung. Nach Neer zeigten sich 3 Typ-I-, 16 Typ-II-, 19 Typ-IV-Frakturen. Typ-V- und -VI-Frakturen kamen in weiteren 12 Fällen vor. Insgesamt waren es 17 2-Part-Frakturen, 22 3-Part- und 11 4-Part-Frakturen.

Im gesamten Kollektiv entwickelten 10 Patienten eine Humeruskopfnekrose (3 konservative, 7 operative Humeruskopfnekrosen).

Diskussion

Dass eine proximale Humerusfraktur signifikante Einflüsse auf Alltagsaktivitäten, Lebensqualität und auch Mortalität v. a. geriatrischer Patienten hat, ist unumstritten [29, 30]. Unklar bleibt jedoch nach wie vor die Wahl der geeigneten Therapie. Grob dislozierte Frakturen, Head-split‑, Luxationsfrakturen, offene Verletzungen und begleitende neurovaskuläre Schäden stellen klare Operationsindikationen v. a. beim jungen Patienten dar. Doch für einen Großteil der Patienten bleibt das Therapieverfahren und Operationsverfahren eine individuelle Entscheidung.

Ge et al. [31] verglichen 192 Patienten mit 2‑ und 3‑Part-Frakturen, die osteosynthetisch sowohl mit Nagel- als auch Plattenosteosynthese versorgt wurden mit einer konservativen Behandlung. In der Gruppe der 3‑Part-Frakturen zeigte sich ein verbessertes Outcome in der operativen Gruppe gegenüber der konservativen Behandlung, v.  a. die Außenrotation betreffend.

Olerud et al. [32] konnten in ihrer randomisierten Studie von 60 Patienten mit 3‑Part-Frakturen Vorteile für die operative Versorgung mittels winkelstabiler Plattenosteosynthese gegenüber einer konservativen Therapie zeigen, welche anhand von verbessertem ROM („range of motion“) und CMS belegt wurden. Dieser besagte Vorteil ging jedoch mit einer Rate von 30 % operativer Revisionen einher, welches gerade für geriatrische Patienten ein deutlich erhöhtes Risiko darstellt. Wobei hier neuere Verfahren wie die Doppelplattenosteosynthese, intramedulläre Allografts o. Ä. nicht berücksichtigt werden und sich bei einer gezielten Anwendung die Komplikations- bzw. Revisionsrate in Zukunft mutmaßlich reduzieren lässt.

Feissli et al. [33] kommen hingehen in ihrer Studie mit Vergleich zwischen Osteosynthese und konservativer Frakturbehandlung bei AO-A2-, -A3- und -B1-Frakturen zu dem Ergebnis, dass die konservativ behandelte Gruppe eine höhere Wahrscheinlichkeit hatte in ihren ursprünglichen Selbstständigkeitsgrad zurückzukehren.

Caliskan et al. [34] verglichen in einem ähnlichen Kollektiv zu unserem 92 Patienten, welche sowohl mit Philos-Plattenosteosynthese, als auch konservativ behandelt wurden. Dabei wurden 2‑, 3‑ und 4‑Part-Frakturen eingeschlossen. Bei 2‑Part-Frakturen zeigte sich eine signifikant höhere Kraftentwickelung sowie ein leichtgradig verbessertes Bewegungsausmaß in der 3‑Part-Frakturgruppe bei den operativ versorgten Frakturen. Die Autoren schlussfolgerten jedoch, dass die konservative Therapie immer noch Methode der Wahl sei, da die Krafterhöhung auf einzelne Muskelgruppen beschränkt war und die erhobenen Scores für Funktion und Schmerz keinen signifikanten Unterschied aufwiesen.

In der multizentrischen, randomisierten PROFHER-Studie wurden 250 Patienten mit operativer und konservativer Therapie verglichen und 2 Jahre nachuntersucht. Die Ergebnisse wurden anhand Oxford Shoulder Score, SF 12 und Komplikationsraten ausgewertet. In allen Bereichen fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen konservativer und operativer Therapie, sodass die Autoren schlussfolgerten, dass der Trend zur operativen Stabilisierung dislozierter proximaler Humerusfrakturen nicht gerechtfertigt sei [35].

Ähnliche Ergebnisse wurden in einer Studie von Brouwer et al. [36] gezeigt, bei einer erneut vergleichbaren Anzahl an Patienten. Hier konnte ebenfalls kein Vorteil zugunsten einer operativen Versorgung bei 3‑ und 4‑Part-Frakturen gezeigt werden, bei einer sehr langen Follow-up-Zeit von 10 Jahren.

Auch wenn zunächst Vorteile bei Bewegung und Funktion nach osteosynthetischer Versorgung auftreten, konnten mehrere Studien zeigen, dass spätestens beim 2‑Jahres-Follow-up keine Unterschiede mehr erkennbar sind [8, 9].

In der aktuellen Literatur weist die Inverse Prothese, gerade bei 3‑ und 4‑Part-Frakturen, als primäre Versorgungsstrategie gute und reproduzierbare Ergebnisse mit einer hohen Patientenzufriedenheit auf und geht oft mit einer geringeren Revisionsrate, als bei den osteosynthetischen Eingriffen, einher [17,18,19,20,21]. Auch im Vergleich zur Osteosynthese schneidet die Inverse Prothese gut ab. Lanzetti et al. [37] konnten bei über 70-Jährigen und 3‑ und 4‑Part-Frakturen zeigen, dass die primäre inverse Prothese zu einem verbesserten Outcome der Scores sowie zu einer vergrößerten ROM führt. Aus diesem Grunde haben wir die Untersuchung der Patienten mit Prothese nicht in den Mittelpunkt dieser Studie gestellt. Wichtiger war uns die Abgrenzung zwischen konservativer Therapie und Osteosynthese genauer zu beleuchten.

Interessanterweise kommen weitere Studien zu dem Ergebnis, dass Patienten ähnliche mittelfristige Ergebnisse aufweisen, die entweder primär endoprothetisch oder verspätet endoprothetisch versorgt wurden [38], auch nach fehlgeschlagener konservativer oder osteosynthetischer Behandlung. Sie schlussfolgerten, dass die Option der konservativen Therapie stets in Betracht gezogen werden sollte, da auch das „Salvage“-Prozedere der inversen Prothesen zu zuverlässigen und zufriedenstellenden Resultaten führt [39].

Für die konservative Therapie ist sicher die Art der Nachbehandlung entscheidend. Unsere positiven Ergebnisse unter konservativer Behandlung sind ggf. auf die frühe Mobilisation und überwiegend kurze Ruhigstellungszeit unter 2 Wochen zurückzuführen.

Die Daten dieser Studie unterstützen den Stellenwert der konservativen Therapie mit dem Augenmerk auf den (geriatrischen) Patienten selbst. Denn, v. a. im Vergleich zwischen den Neer-positiven Patienten, die sowohl operativ als auch konservativ versorgt wurden, zeigen sich vergleichbare Ergebnisse, sowohl in objektiven und subjektiven Scores als auch beim Bewegungsumfang ohne einen signifikanten Unterschied. Diese Erkenntnis hat die Autoren dazu veranlasst im klinischen Alltag beim geriatrischen Patienten v. a. bei impaktierten Frakturen die Neer- und nicht die Habermeyer-Kriterien als Grenzlinie zwischen Osteosynthese und konservativer Therapie zur Anwendung zu bringen.

Limitationen

Die Limitationen dieser Studie sind eindeutig. Zum einen liegt ein heterogenes Patientengut vor, zum anderen werden in der operativ versorgten Gruppe zwei Operationsmethoden zusammengefasst, wobei die Plattenosteosynthese klar überwiegt. Des Weiteren, beinhaltet die operativ versorgte Gruppe mehr Patienten mit höherer Neer-Klassifikation, was einen Bias darstellen könnte und die schlechteren Ergebnisse begründen könnte. Zuletzt muss das niedrige Follow-up kritisch betrachtet werden. Die Letalitätsquote (25 % in der konservativ versorgten Gruppe) sowie eine hohe Anzahl von Patienten mit hohem Pflegegrad und fortgeschrittener Demenz sind Hauptgründe für das hohe „lost to follow up“.

Fazit für die Praxis

  • Proximale Humerusfrakturen gehören zu den dritthäufigsten osteoporotischen Verletzungen in Deutschland und stellen die zweithäufigste osteoporotische Verletzung der oberen Extremität dar.

  • Durch die stets steigende Lebenserwartung wird die Inzidenz der proximalen Humerusfrakturen v. a. bei > 65-Jährigen in den kommenden Jahren weiter deutlich steigen.

  • Ziel dieser Studie ist es, den Stellenwert der konservativen Therapie gerade im Vergleich zur kopferhaltenden, operativen Therapie darzustellen.

  • Die Behandlung der proximalen Humerusfraktur bleibt weiterhin eine Herausforderung mit einer multifaktoriellen – häufig auch individuellen Indikationsentscheidung abhängig von Funktionsanspruch, Alter, Komorbiditäten und Erfahrung sowie Präferenz des Operateurs.

  • Die konservative Therapie kann in Erwägung gezogen werden, teils auch bei formell bestehender Operationsindikation (v. a. 2‑ und 3‑Part-Frakturen), da sich hiermit vergleichbare mittelfristige Ergebnisse mit hoher Patientenzufriedenheit und reduziertem (perioperativem) Risiko erzielen lassen.