[…] es wäre unbesonnen, die natürliche Form des Gelenkes wiederherzustellen, selbst wenn es in unserer Macht stünde, denn wir würden damit die Chance auf eine knöcherne Konsolidierung erheblich verringern. Es ist deshalb in der Behandlung solcher Fälle ausreichend, den Arm seitlich am Körper zu bandagieren und den Unterarm in einer Schlinge zu unterstützen. Der besonnene Chirurg wird es aber nie versäumen, dem Patienten zu vermitteln, dass ein gewisser Grad an Beeinträchtigung der Beweglichkeit des Gelenkes eine dauerhafte Folge dieser Verletzung sein wird [1].

Robert William Smith (1807–1873), irischer Pionier der Chirurgie, Pathoanatom und erster Ordinarius für das Fach Chirurgie des 1847 gegründeten, renommierten Trinity College hat sich nicht nur einen Namen mit der Smith-Fraktur des distalen Radius gemacht [2], sondern Beobachtungen zu einer anderen ebenso recht häufigen Fraktur des Erwachsenen festgehalten, dessen Behandlung über 150 Jahre später immer noch kontrovers diskutiert wird.

Einführung

Proximale Humerusfrakturen (PHF) sind häufig und machen etwa 6 % aller Frakturen des Erwachsenen aus [3]. Zirka 70 % treten jenseits des 60. Lebensjahres auf mit einer Inzidenzspitze nach dem 80. Lebensjahr. Die Anzahl der PHF beträgt jährlich ca. 200–250 pro 100.000 Einwohner bei zunehmendem Trend [4]. Die Inzidenz nimmt mit dem steigenden Lebensalter und weiblichen Geschlecht deutlich zu. Einer finnischen Studie zufolge ist bis 2030 mit einer Verdreifachung der Inzidenz osteoporotisch bedingter proximaler Humerusfrakturen des über 60-jährigen Patienten zu rechnen [5, 6]. Auch vor dem Hintergrund der zunehmend alternden Bevölkerung wird diese Verletzung künftig immer mehr an sozioökonomischer Bedeutung gewinnen.

Es ist bekannt, dass der Großteil dieser Frakturen (etwa 75 %) konservativ mit gutem Ergebnis behandelt werden kann [4]. Dennoch gibt es große nationale wie internationale Unterschiede in der Therapie mit Operationsraten weit über 25 % in einigen Institutionen, was ein uneinheitliches Therapieregime und den fehlenden Konsens in der Behandlung dieser so häufigen Verletzung unterstreicht [4, 7].

Die aktuelle S1-Leitlinie „Oberarmkopffraktur“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) hält zwar fest, dass ein Großteil aller Frakturen konservativ behandelt werden kann. Es stellt sich jedoch die Frage, wie genau sich jene konservative Therapie gestalten lässt [8].

Im folgenden Artikel soll eine mögliche Entscheidungshilfe vorgestellt und ein Einblick in die Erfahrungen der Autoren gewährt werden, wie diese stetig zunehmende Verletzungsart erfolgreich konservativ behandelt werden kann. Die Erfahrungen stützen sich dabei auf einen Patientenstrom von jährlich mehr als 200 Patienten eines Level-1-Traumazentrums, von denen in der Klinik für Unfallchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover unter der Leitung von Herrn em. Prof. Dr. Krettek, zwischen 01/2016 bis 09/2021 jährlich ca. 80 % erfolgreich einer konservativen Therapie zugeführt werden konnten und im Rahmen einer prospektiven Observationsstudie, dem Hannover Humerusregister (ClinicalTrials.gov Identifier: NCT03060876), systematisch nachkontrolliert wurden.

Grundprinzipien der konservativen Behandlung proximaler Humerusfrakturen

Die konservative Behandlung lebt von dem Verständnis der auf die Fraktur wirkenden sog. „deforming forces“, dem Einfluss der Gravitationsgraft und dem gezielten Einsatz von Hilfsmitteln unter Berücksichtigung der Frakturmorphologie (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Schematische Darstellung der auf die proximale Humerusfraktur wirkenden dislozierenden Muskelkräfte („deforming forces“). M. deltoideus (A), M. infraspintatus + teres minor (B), M. supraspinatus (C), M. subscapularis (D), M. pectoralis major (E)

Bereits in den 1860er-Jahren propagierte Lucas-Championnière ein frühfunktionelles, konservatives Behandlungsprinzip, welches auf der Beobachtung beruhte, dass eine Frakturheilung in einer korrekten, anatomischen Position nicht zwingend notwendig sei, um eine gute Funktion zu erreichen [9]. Mehrere Autoren bestätigten diese Hypothese später, welche mit einem fundamentalen Grundprinzip der Wiederherstellungschirurgie bricht. Wie DePalma und Cautilli [10] und Mills und Horne [11] stellten auch Young und Wallace [12] fest, dass das Röntgenbild nicht zwangsläufig mit dem klinischen Ergebnis korrelieren würde [13]. Der multiaxiale Charakter des Glenohumeralgelenks und die Existenz des skapulothorakalen Nebengelenks würden erhebliche Deformitäten des proximalen Humerus kompensieren und akkurate Repositionsmaßnahmen nichtig machen [9, 12]. Insbesondere bei älteren Patienten seien einige Autoren wie Flatow der Meinung, dass fast jeder Grad an ossärer Deformität toleriert werden würde [14].

Einige Autoren wiesen zudem auf ein anderes, bisher seltener thematisiertes Phänomen hin, dass beispielsweise eine dislozierte 4‑Part-Fraktur nach Neer nur eine Woche später spontan als gering dislozierte 1‑Part-Fraktur in Erscheinung tritt [15, 16]. Eine der ältesten Hypothesen besagt, dass für dieses Selbstkorrekturpotential die Schwerkraft eine treibende Kraft sei [9, 15]. DePalma und Cautilli [10] und andere stellten schon vor Jahrzehnten die Hypothese auf, dass das Eigengewicht des betroffenen Arms von etwa 4–7 kg in vielen Fällen ausreichend sei, um die meisten Frakturen zu korrigieren [9]. Die Pendelübungen nach Codman in der sog. „Hanging-loose-Position“ basieren auf dieser Theorie als fundamentaler Teil der Nachbehandlung [15], unterstreichen die Bedeutung der frühzeitigen Mobilisierung des Patienten und machen Bettlägerigkeit beispielsweise aufgrund von Begleitverletzungen oder Sarkopenie bei ansonsten kognitiv unbeeinträchtigten Patienten zu einer Herausforderung für die konservative Therapie (Abb. 2; [9]).

Abb. 2
figure 2

Darstellung der Pendelübungen nach Codman in der sog. „Hanging-loose-Position“ [15]

Indikationen

Eine Reihe randomisierter Studien und Metaanalysen konnte bisher keine Überlegenheit der operativen gegenüber einer konservativen Therapie beim am häufigsten betroffenen geriatrischen Patienten aufzeigen [17,18,19]. Zudem würde gemäß des letzten systematischen Cochrane Reviews Evidenz belegen, dass eine Operation mit mehr Komplikationen und höheren Folgeoperationsraten verbunden sei [20]. Es stellt sich jedoch die Frage, wie man diese Evidenz aus teils „kontrollierten“ Studienbedingung in eine alltagstaugliche Entscheidungshilfe einfließen lassen kann. Potenziell hilfreiche, klare Grenzwerte (Alter, Dislokationsgrad, Frakturmorphologie, Komorbiditätslevel) für eine Indikationsstellung (konservativ vs. operativ) sowie Wahl des optimalen Operationsverfahrens lassen sich auch nicht aus der aktuellen S1-Leitlinie „Oberarmkopffraktur“ der federführenden Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie e. V. (DGU) ableiten. Das Gremium hält lediglich fest, dass die Therapiewahl der PHF individuell zu stellen sei [8].

Die Abb. 3 zeigt eine schematische Darstellung einer möglichen Entscheidungshilfe, die sich im Institut der Autoren zwischen 01/2016 und 09/2021 als Algorithmus bewährt hat. Übliche feste Cut-off-Werte zur operativen Versorgung wie beispielsweise Alter (< 65 vs. ≥ 65 Jahre), Frakturmorphologie, Knochenqualität oder Dislokationsgrad existieren hier nicht. Stattdessen wird abgesehen von einigen absoluten Operationsindikationen jede Fraktur einer primär konservativen Therapie zugeführt. Bei dislozierten Frakturen fließen patientenbezogene Faktoren (Alter, Komorbidität, Aktivitätsgrad bzw. Anforderungsprofil, Patientenwunsch sowie die Schmerzentwicklung im Verlauf (Abb. 4)) in die Therapiewahl mit ein, wodurch diese Entscheidungshilfe auch der Empfehlung der Leitlinie gerecht wird, die Therapiewahl individuell an den Patienten anzupassen.

Abb. 3
figure 3

Schematische Darstellung einer bewährten Entscheidungshilfe nach Krettek et al. [22] für die Behandlung proximaler Humerusfrakturen (VAS visuelle Analogskala)

Abb. 4
figure 4

Schematische Darstellung des Schmerzverlaufs (VAS visuelle Analogskala)

Vergegenwärtigt man sich, dass die Kombination aus einer dislozierten PHF bei einem jungen, hochaktiven Patienten in einem größeren Traumazentrum mit entsprechendem Patientenstrom ein eher selteneres Szenario ist, so ist nachvollziehbar, dass mit Hilfe dieses Schemas der Großteil der PHF, wie eingangs erwähnt, konservativ behandelt werden kann.

Bildgebende Diagnostik

Während die konventionelle Röntgendiagnostik in 2 Ebenen (anterior-posterior [a.-p.] und y‑view) gemäß der aktuellen S1-Leitlinie der AWMF als notwendige Untersuchung erachtet wird, werden MRT und CT als fakultative Diagnostiken aufgeführt. Als mögliche Gründe für Letzteres werden neben der besseren Beurteilung der Tuberkula und Kalotte, der glenohumeralen Zentrierung, Einschätzung der Knochenstruktur, Beurteilung einer „Head-split-Situation“ und der Vorteil der dreidimensionalen (3D-)Rekonstruktion sowie die mögliche Entscheidungshilfe bei der Wahl einer operativen Versorgungsart (Osteosynthese vs. Endoprothese) aufgeführt [8].

Welchen Mehrwert eine zusätzliche kosten- und strahlenträchtige CT-Diagnostik tatsächlich hat, wird in der Literatur kontrovers diskutiert und lässt sich nicht abschließend klären.

Am Institut der Autoren wurden beide Bildgebungsmodalitäten (Röntgen und CT) routinemäßig herangezogen, um u. a. die Frakturmorphologie rein deskriptiv zu klassifizieren (Varus/Valgus, impaktiert/distrahiert, metaphysäre Integrität, Schafttranslation) und die geeignetste Repositions- sowie Retentionsmaßnahme auswählen zu können. Dies unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die CT-Diagnostik am liegenden Patienten durchgeführt wird.

Aus Sicht der Autoren ist zu empfehlen, dass konventionelle Röntgendiagnostik und Bildwandlerdurchleuchtung zwingend in aufrechter Körperposition (sitzend, vorzugsweise stehend) angefertigt werden sollten, um nicht nur das Selbstkorrekturpotential besser einschätzen zu können, sondern auch um die initiale, mutmaßliche Dislokation nicht zu überschätzen (Abb. 5). Wenn dies am Unfalltag aufgrund von Schmerzen, Bettlägerigkeit oder anderen Gründen wie beispielsweise Polytraumatisierung nicht möglich ist, sollte sie im Verlauf vor jeglicher Therapieentscheidung (konservativ vs. operativ) wiederholt werden.

Abb. 5
figure 5

A.-p-Röntgenaufnahme einer 85-jährigen Patientin am Unfalltag in liegender Position (a) und etwa 3 Wochen später in stehender Position mit nahezu vollständiger Selbstkorrektur der am Frakturtag bestandenen mutmaßlichen Fehlstellung (b)

Hilfsmittel und Nachbehandlung der konservativen Therapie

Die Wahl des geeignetsten Hilfsmittels/Orthese für die Reposition und Retention erfolgt unter Berücksichtigung der Frakturmorphologie, den auf die PHF wirkenden dislozierenden Muskelkräften („deforming forces“) und der Tatsache, dass sich Einflussmöglichkeiten lediglich auf die körperstammfernen Anteile des Oberarms, also dem Humerusschaft, beschränken (Abb. 1). Die Position der stammnahen kleinen Hauptfragmente (Tuberculum majus und minus, Humeruskopfkalotte) hingegen lässt sich nur schwer beeinflussen. Es hat sich bewährt, bei gröberen Dislokationsgraden diese unter Bildwandlerkontrolle, falls vorhanden, in aufrechter sitzender, vorzugsweise stehender Position, anzulegen.

Erfahrungsgemäß hat eine optimale Reposition und Retention durch die nachfolgend aufgeführten Hilfsmittel/Orthese längst nicht den gleich hohen Stellenwert beim geriatrischen, als beim jungen, aktiveren Patienten, der residuelle knöcherne Deformitäten nicht im gleichen Maße funktionell verzeiht (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

A.-p.-Röntgenaufnahmen eines 79-jährigen Patienten mit erheblicher Schafttranslation, metaphysärer Trümmerzone und valgisiertem Kalottenfragment (a). Unter Verzicht auf besondere Repositionsmanöver und Hilfsmittel orthograde Selbstkorrektur der Schaftposition, jedoch varisierte Kalotte nach etwa 6 Wochen (b). Bei regredientem Schmerzverlauf trotz dessen Fortführung der konservativen Therapie. Nach etwa 6 Monaten Konsolidierung in Malunion (c) mit dennoch gutem funktionellem Resultat (subjektiver Schulterwert: 80 %, absoluter Constant Score: 75 von 100 Punkten, keine Schmerzen; def)

Gilchrist-Verband

Der Gilchrist-Verband ist nützlich bei einfachen Frakturen und dient in erster Linie der Schmerzreduktion (Abb. 7). Er kann darüber hinaus als Grundlage für vielfältige Modifikationen zwecks Frakturretention dienen. Bei der Anlage sollte auf die richtige Größenauswahl geachtet werden. Zudem hat es sich bewährt, kommerziell erwerbliche Verbände auf Höhe der Ellenbogenfurche und auf Handgelenksniveau zu inzidieren, um ein Einschneiden des Verbands bei nach distal auslaufendem Hämatom/Schwellung zu vermeiden und dem Patienten mehr Handfreiheit zu geben (Abb. 8).

Abb. 7
figure 7

Patient mit anliegendem Gilchrist-Verband

Abb. 8
figure 8

Negativbeispiel eines angelegten zu kleinen Gilchrist-Verbands. Finger und Hand sollten immer frei(geschnitten) sein, ebenso die potenziellen Schnürfurchen in der Ellenbeuge. Auf Höhe der gestrichelten roten Linien kann bei dieser kommerziell erhältlichen Ausführung eine Inzision des Verbands ein schmerzhaftes Einschneiden auf Höhe der Ellenbogenfurche verhindern und dem Patienten erheblich mehr Komfort durch freie Nutzung der Hand/Finger bieten

Gipsverstärkter Gilchrist-Verband

Bei instabiler Fraktursituation (bspw. metaphysärer Trümmerzone oder Kombinationsverletzung mit begleitender Humerusschaftfraktur) kann eine zusätzliche Gipsverstärkung hilfreich sein und mehr Stabilität und damit Schmerzlinderung liefern (Abb. 9). Hierbei sollte unbedingt auf Druckstellen geachtet werden.

Abb. 9
figure 9

Patientin mit gipsverstärktem Gilchrist-Verband

Abduktionskissen

Bei varisch dislozierten Frakturen und/oder Tuberculum-majus (TM)-Beteiligung bietet sich die Anlage eines Abduktionskissens an. Die Anlage lebt von dem Prinzip, dass sich lediglich die Position des Schafts beeinflussen lässt und dem dislozierten Kalotten- und/oder TM-Fragment nachgeführt wird (Abb. 10).

Abb. 10
figure 10

Patient mit varisch dislozierter Fraktur vor (links) und nach (rechts) angelegtem Abduktionskissen. Der Schaft wird in diesem Beispiel durch Abduktion des Arms dem dislozierten Kalottenfragment nachgeführt

Achselrolle

Eine Achselrolle kann gezielt unter der Achsel eingesetzt werden, um als Hypomochlion einer Schafttranslation nach medial durch den Zug des M. pectoralis major entgegenzuwirken. Solch eine Rolle kann sehr simpel durch gerollte Tücher oder herkömmlichen elastischen Verbandsbinden hergestellt, in einem Schlauchverband eingeführt und so weit wie möglich proximal unter die Achsel platziert werden. Die freien Enden des Schlauchverbands werden an der kontralateralen Halsregion leicht angezogen und verknotet (Abb. 11).

Abb. 11
figure 11

Patient mit medialer Schafttranslation vor (links) und nach (rechts) angelegtem Gilchrist-Verband samt Achselrolle nach Krettek et al. [21, 22]. Diese fungiert als Hypomochlion, um der Schafttranslation nach medial durch den Zug des M. pectoralis major entgegenzuwirken

Zu beachten ist: Je dicker die Rolle gewickelt wird, desto größer mag die vermeintliche Hypomochlionwirkung sein, desto weniger weit proximal jedoch wird sie sich in der Achsel platzieren lassen. Je härter die Rolle gewickelt wird, desto suffizienter die Hypomochlionwirkung, jedoch üblicherweise zu Ungunsten des Tragekomforts und der Patienten-Compliance. Auch hierbei muss auf Druckstellen geachtet werden.

Eine Achselrolle kann in Kombination mit all den hier genannten Hilfsmitteln angewendet werden.

Schultertasche

Ein frühzeitiger Umstieg auf eine Schultertasche, idealerweise nach 1–3 Wochen, wird bei fast allen Frakturen angestrebt. Diese lässt sich vom Patienten einfach an- sowie ablegen und bietet Komfort in der Übergangsphase zur Wiedererlangung der Selbstständigkeit und Alltagstauglichkeit.

„Hanging cast“

Durch eine zirkulierte Gipsanlage vom distalen Humerus über den 90° flektierten Ellenbogen bis zum proximalen Oberarm reichend lässt sich ein sog. „hanging cast“ erstellen. Zusätzliche Gipsschichten unter dem Olecranon in Schaftsachse des Humerus oder gar kleinere eingegipste Gewichtsscheiben können dabei helfen, grobe Frakturverkürzungen und Impaktionen mit Hilfe der Schwerkraft besser zu korrigieren (Abb. 12). Vorsicht ist geboten insbesondere bei betagten und alleinstehenden Patienten. Neben gipsassoziierten Druckstellen am Ellenbogen kann die Wahl eines „hanging cast“ die soziale Versorgungssituation dieser bereits durch die PHF beeinträchtigten, in aller Regel dennoch ambulant verbleibenden Patientengruppen zusätzlich erschweren (Abb. 13). Ein Kompromiss kann die Wahl eines leichteren und wesentlich angenehmer zu tragenden Kunststoff-Casts statt Weißgips darstellen. Dieser ist jedoch mit dem Nachteil eines geringeren Traktionseffekts behaftet.

Abb. 12
figure 12

Patient mit eingestauchter Fraktur vor (links) und nach (rechts) angelegtem „hanging cast“. Das Gewicht des Casts fungiert in diesem Beispiel als Gegenspieler der nach kranial dislozierenden Kraft des M. deltoideus

Abb. 13
figure 13

Gipsassoziierte Druckstelle am Olecranon als mögliche Komplikation der konservativen Therapie nach Anlage eines „hanging cast“. Auf ausreichende Wattierung bekannter, gefährdeter Stellen ist zu achten

Aufklärung

Aufklärung ist ein wichtiger Aspekt, der nicht nur vor einer Operation thematisiert werden sollte. Zu Recht wird es in der aktuellen S1-Leitlinie der AWMF als Stichwort bei beiden Therapiemodalitäten aufgeführt. Neben einer Aufklärung über den Stand der Literatur und möglichen Komplikationen sollten realistische Behandlungsziele im Vorfeld skizziert werden und bei geriatrischen Patienten die Angehörigen frühzeitig eingebunden werden (Abb. 13).

4-Phasen-Nachbehandlungsschema des Hannover Humerusregisters

Unter der Federführung von Herrn em. Prof. Dr. Krettek ist ein frühfunktionelles 4‑Phasen-Nachbehandlungsschema für die konservative Behandlung der PHF entwickelt worden, welches sich für den Großteil der Frakturen bewährt hat [21, 22].

Ziel dieser Nachbehandlung ist eine möglichst schmerzfreie Wiederherstellung der Schulterfunktion für Alltagsaktivitäten und damit rasche Wiedererlangung der Selbstständigkeit.

Schmerzmonitoring.

Schmerz, gemessen auf der visuellen Analogskala (VAS), ist in der Frühphase der Nachbehandlung erfahrungsgemäß ein wichtiger klinischer Parameter, dessen Entwicklung Hinweise darauf gibt, inwieweit der Bruch bereits konsolidiert ist und Aktivitäten gesteigert werden können (Abb. 4). Im Behandlungsalgorithmus der Autoren dient er auch als Entscheidungshilfe in der Wahl der Therapiemodalität (Abb. 3).

Bei komplexeren Frakturen kann eine zusätzliche dynamische Röntgenbildwandlerkontrolle unter passiver Bewegung der Extremität hilfreich sein, um die Übungsstabilität der Fraktur besser einschätzen zu können.

Es bleibt zu erwähnen, dass es sich hierbei lediglich um ein Schema handelt und es in Einzelfällen (bspw. seltener vorkommende isolierte Tuberculum-majus-Frakturen, höhergradige Schafttranslationen, Varus‑/Valgusdislokation bei jüngeren Patienten) sinnvoll ist, davon abzuweichen. Insbesondere der entscheidende Übergang von Phase 1 zu 2 und dem Beginn erster Übungen mag bei komplexeren, instabilen Frakturen später zu wählen sein, als hier dargestellt. Für den Behandler mag sich hier ein Dilemma ergeben aus frühzeitiger Freigabe für Pendelübungen und Vermeidung einer sekundären Kapsulitis bedingt durch prolongierte Immobilisation auf der einen Seite und dem Risiko sekundärer Dislokationen auf der anderen Seite (Abb. 14).

Abb. 14
figure 14

Mögliches „Dilemma“, mit welchem der Behandler im Laufe der konservativen Nachbehandlung komplexerer Frakturen konfrontiert werden kann

Die folgenden 4 Phasen werden voneinander unterschieden:

Phase 1 (Woche 1) Ziel: Ruhigstellung, Analgesie und Abschwellung

Verband:

In der Regel Gilchrist-Verband in Abhängigkeit vom Frakturtyp.

Übungen:

Strikte Immobilisation des Schultergelenks. Handgelenk und Fingergelenke hingegen dürfen und sollen bewegt sowie selbst beübt werden. Zum Bewegen des Ellenbogengelenks kann der Gilchrist-Verband geöffnet werden. Alle Aktivitäten sollen schmerzfrei oder im nur moderaten Schmerzbereich durchgeführt werden.

Kontrolle:

Eine Woche nach Fraktur zur klinisch-radiologischen Verlaufskontrolle (Röntgen Schulter a.-p. und y‑view).

Bei komplexeren Frakturen oder nicht abfallendem Schmerzgradienten sollte eine Verlängerung der Phase 1 in Erwägung gezogen werden (keine Eigenbeübung, keine Physiotherapie).

VAS:

Median 5

Phase 2 (Woche 2–3) Ziel: Schmerzkonsolidierung und passive Beweglichkeit

Verband.

Im Idealfall Umstieg auf Schultertasche.

Übungen/Körperpflege:

Beginn mit Pendelübungen aus der Schultertasche heraus (Abb. 2) und geführte passive Bewegungen mit Hilfe des kontralateralen Arms.

Die Schultertasche kann zur Körperpflege abgenommen werden. Zur Körperpflege kann geduscht werden und durch Vorwärts- oder Seitwärtsneigung des Rumpfes wird die Achsel zugänglich. Alle Aktivitäten sollen schmerzfrei oder im nur moderaten Schmerzbereich durchgeführt werden. Die Übungen sollen keine starken Schmerzen verursachen. Weiterhin freie Beübung von Ellenbogen‑, Hand- und Fingergelenken.

Kontrolle:

Drei Wochen nach Fraktur zur klinisch-radiologischen Verlaufskontrolle (Röntgen Schulter a.-p. und y‑view).

Nur Eigenbeübung, keine Physiotherapie.

VAS:

Median 4

Für den Patienten stellt diese Phase für gewöhnlich einen besonderen Meilenstein dar, da für ihn bereits relativ früh, idealerweise nach 1 Woche, die als einschränkend empfundene, strikte Immobilisation wegfällt, auf die wesentlich angenehmer Schultertasche gewechselt und schon mit ersten Pendelübungen (Abb. 2) begonnen werden kann.

Phase 3 (Woche 4–6) Ziel: aktive Beweglichkeit

Verband:

Jegliche Hilfsmittel/Orthesen teilweise oder ganz weggelassen werden.

Übungen:

Weiterhin Pendelübungen und geführte Bewegungen. Zusätzlich kann der Oberarm jetzt auch aktiv bewegt werden (bis 90° Abduktion und Anteflexion). Alle Aktivitäten sollen weiterhin schmerzfrei oder im nur moderaten Schmerzbereich durchgeführt werden. Weiterhin Beübung von Ellenbogen‑, Hand- und Fingergelenken.

Kontrolle:

6 Woche nach Fraktur zur klinisch-radiologischen Verlaufskontrolle (Röntgen Schulter a.-p. und y‑view).

Nur Eigenbeübung, keine assistierte Physiotherapie.

VAS Median:

3

Phase 4 (Woche 7–12) Ziel: aktive Beweglichkeit, Reintegration in den Alltag

Verband:

entfällt.

Übungen/Körperpflege:

Neben geführten und aktiven Bewegungen sind jetzt auch Dehnungsübungen mit einem sogenannten Schulterstab und Übungen mit Hilfe einer Umlenkrolle möglich (mit Rezept im Sanitätshaus erhältlich). Zusätzlich jetzt auch Beginn mit Physiotherapie. Beübt werden neben der Schulter auch Ellbogen‑, Hand- und Fingergelenke. Insbesondere die Dehnungsübungen werden bis an die Schmerzgrenze heran durchgeführt (in der Übergangszone zwischen Wohlbefinden und richtigem Schmerz).

Kontrolle:

Zwölf Wochen nach Fraktur zur klinisch-radiologischen Verlaufskontrolle (Röntgen Schulter a.-p. und y‑view).

VAS Median:

< 2

Weitere Bildgebung nur bei Beschwerden.

Versagen der konservativen Therapie

Bei nicht hinreichend abfallendem Schmerzgradienten und Ausbleiben der zeitgerechten Steigerung von Aktivitäten sollte mit dem Patienten eine Konversion auf eine operative Therapie diskutiert werden (Abb. 3). Frakturmorphologie, rein radiologische Zeichen der sekundären Dislokationen wie auch klinisch gut kompensierte Deformitäten spielen hingegen bei der überwiegend geriatrischen Patientengruppe eine eher untergeordnete Rolle für die Entscheidungsfindung (Abb. 6). Ein Beobachtungszeitraum von ca. 2–4 Wochen erscheint den Autoren als vertretbar, der jedoch in Abhängigkeit der Frakturmorphologie, des Patientenalters und -anspruchs sowie des initialen Schmerzgradienten variieren kann.

Herausforderungen und Voraussetzungen der konservativen Therapie

So wie eine erfolgreiche operative Therapie fachliche Expertise, Lernkurve und technische Ausstattung voraussetzt, wird hier ersichtlich, dass sich auch eine konservative Therapie weit komplexer gestalten kann und mehr als die bloße Anlage eines Gilchrist-Verbands ist. Die notwendige enge Patientenführung setzt Kapazitäten für ambulante, klinisch-radiologische Verlaufskontrollen voraus. Selbiges gilt für Expertise/Fachpflegepersonal hinsichtlich des Umgangs mit Hilfsmitteln/Gipsanlagen oder aber auch technischer Ausstattung.

Zukunftsausblick

Neuroblockade dislozierender Kräfte

Aus der Tatsache heraus, dass sich die Position der stammnahen, kleinen Hauptfragmente (Tuberculum majus und minus, Humeruskopfkalotte) nur schwer beeinflussen lässt und sekundäre Dislokationen bzw. residuelle knöcherne Deformitäten beim seltener betroffenen jungen, aktiven Patienten gefürchtet sind, ist die Idee entstanden, die oben genannten „deforming forces“ unter Berücksichtigung der Frakturmorphologie gezielt mit einem Medikament zu modulieren, das sich in anderen Fachbereichen der Medizin (Neurologie, Dermatologie, Gynäkologie, Urologie, Ästhetische Medizin, Zahnmedizin) seit Langem bei den unterschiedlichsten Indikationen bewährt hat und teilweise sogar von Krankenkassen getragen wird (Abb. 1).

Botulinumtoxin Typ A (Dysport, Ipsen Pharma GmbH, München, Deutschland), ein Neurotoxin, das die präsynaptische Freisetzung des Neurotransmitters Acetylcholin aus cholinergen Nervenendigungen blockiert und so zu einer schlaffen Lähmung der Skelettmuskulatur führt, ist bisher im Rahmen individueller Heilversuche von den Autoren angewendet worden.

Das Toxin wird lokal intramuskulär injiziert, die Wirkung tritt innerhalb einiger Tage ein und kann üblicherweise je nach Dosierung 2 bis 6 Monate anhalten.

In der Fraktursituation sollen gezielte Botox-Infiltrationen in die oben genannten „deforming forces“ nicht nur gefürchtete sekundäre Dislokationen verhindern, sondern im besten Falle auch bereits bestehende Dislokationen adressieren bzw. einer Befundverschlechterung frühzeitig entgegenwirken.

Eine frühfunktionelle konservative Therapie soll dadurch infiltrierten Patienten weiterhin zugänglich sein, ohne Furcht vor den oben genannten Komplikationen haben und abweichend vom stufenweisen Nachbehandlungsschema prolongierte Ruhigstellungen oder gar operative Konversionen in Kauf nehmen zu müssen.

Die Anwendung von Botulinumtoxin in der konservativen Therapie der proximalen Humerusfraktur ist nach umfangreicher Sichtung der Literatur und den Kenntnisständen der Autoren ein Novum.

Weitere Studien außerhalb von individuellen Heilversuchen einschließlich Kosten-Nutzen-Analysen sind jedoch noch erforderlich, um das tatsächliche Potenzial dieses möglichen Add-ons der konservativen Therapie zu untersuchen.

Fazit für die Praxis

  • Der Großteil proximaler Humerusfrakturen kann erfolgreich konservativ behandelt werden.

  • Die konservative Behandlung lebt von dem Verständnis der sog. „deforming forces“, dem Einfluss der Gravitationsgraft und dem gezielten Einsatz von Hilfsmitteln unter Berücksichtigung der Frakturmorphologie.

  • Proximale Humerusfrakturen können ein Selbstkorrekturpotential aufweisen.

  • Bildgebende Diagnostik (konventionelles Röntgen und/oder Röntgendurchleuchtung mittels Bildwandler) sollte vorzugsweise in aufrechter Körperposition (sitzend, vorzugsweise stehend) angefertigt werden. Wenn dies am Unfalltag aufgrund von Schmerzen nicht möglich ist, sollte es im Verlauf vor jeglicher Therapieentscheidung (konservativ vs. operativ) wiederholt werden.

  • Schmerz, gemessen auf der visuellen Analogskala (VAS), ist nach Erfahrung der Autoren ein wichtiger klinischer Parameter in der Nachbehandlung.

  • Das radiologische Outcome korreliert nicht immer mit dem klinischen Outcome in der überwiegend geriatrischen Patientengruppe.