Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

die proximale Humerusfraktur ist Gegenstand der täglichen Arbeit vieler Schulter- und Ellenbogenchirurgen. Hierzu zählen die unmittelbare Frakturversorgung und die Behandlung ihrer Folgezustände. Wie kaum eine andere Verletzung wird die proximale Humerusfraktur kontrovers bewertet und ihre primäre Therapie wird auffällig verschieden interpretiert. Sei es die Frakturstabilität, der akzeptable Dislokationsgrad, konservative vs. operative Behandlung, Rekonstruktion oder Endoprothetik, über alles wird debattiert, im direkten Arbeitsumfeld und auf internationalen Fachkongressen, ein Konsens scheint nicht in Sicht.

Während bei gering dislozierten und stabilen Frakturformen die konservative Therapie in den meisten Fällen gute Ergebnisse liefert, sind die Behandlungsergebnisse komplexer Humeruskopffrakturen heterogen [1]. Dabei verstehen wir unter komplexen Frakturen in erster Linie dislozierte mehrsegmentale bzw. mehrfragmentäre Frakturen, Frakturen mit Beteiligung >20 % der Gelenkfläche (Headsplit) oder Luxationsfrakturen. Eine Fraktur kann aber auch durch andere Kennzeichen wie eine stark reduzierte Knochenqualität oder eine extreme Fragmentdislokation (Ischämierisiko) „komplex“ werden [2]. Zusätzliche Begleitverletzungen der Gefäße und Nerven sowie der Rotatorenmanschette oder der langen Bizepssehne sorgen darüber hinaus für eine hohe Variabilität und machen eine differenzierte Betrachtung erforderlich.

Ziel der Primärbehandlung einer komplexen proximalen Humerusfraktur ist neben der Schmerzfreiheit die schnelle Wiedererlangung der Schulterfunktion. Dabei kann sich der Behandler nur sehr eingeschränkt an der aktuell existierenden Evidenz orientieren. Erstens weil Patienten mit komplexen Frakturen (z. B. Luxationsfrakturen) von den meisten prospektiv randomisierten Studien ausgeschlossen wurden [3]. Zweitens weil aufgrund einer starken Heterogenität hinsichtlich Operateur und gewähltem Verfahren Rückschlüsse für das therapeutische Vorgehen stark limitiert sind [2, 3]. Bei vielen Behandlern führten derartige Studien zu einer Verunsicherung und Fehleinschätzungen, die sich in der heutigen Zeit allzugänglicher Empfehlungen und Erfahrungsberichte auf unsere Patienten überträgt.

Vor dem Hintergrund der „value-based medicine“ und einer qualitätsbasierten Vergütung ist der Bedarf an hochwertigen Studien und guter Evidenz höher denn je [4]. Die aktuelle Evidenzlage sollte aber keinesfalls dahingehend fehlinterpretiert werden, dass es gleichgültig ist, welche Therapie wir indizieren. Vielmehr fordert sie uns auf, die biologischen und biomechanischen Grundlagen vor Augen zu führen, die Ergebnisse gut angelegter nicht randomisierter Studien zu berücksichtigen und daran das Therapiekonzept gemeinsam mit dem Patienten auszurichten.

Dabei ist es entscheidend, die individuellen Ansprüche des Patienten zu berücksichtigen. Beim jungen Patienten ist die Rekonstruktion nach wie vor das „Maß aller Dinge“, da sie die besten klinischen Ergebnisse bei Erhalt des Schultergelenks zulässt. Neuere Arbeiten zeigen zudem, dass bei anatomischer Rekonstruktion und stabiler Osteosynthese gute Ergebnisse auch für Frakturen mit Gelenkflächenbeteiligung möglich sind und das Risiko einer avaskulären Nekrose dann gering ist [5]. Die Frakturhemiendoprothese steht als Reserveoption für Fälle zur Verfügung, bei denen technisch eine anatomische Rekonstruktion misslingt oder die Stabilität der Osteosynthese gefährdet ist.

Beim älteren Patienten hat die inverse Frakturendoprothese nicht nur im deutschsprachigen Raum sondern weltweit Einzug in die Behandlung der komplexen proximalen Humerusfraktur gehalten. Auch wenn Langzeitergebnisse aktuell noch nicht vorliegen und Komplikationen weitreichende Folgen für den Patienten haben, so profitiert gerade der alte Patient von einer schnelleren Wiedererlangung der Selbstständigkeit und einer höheren Lebensqualität als dies zuvor mit den Therapiealternativen erreicht wurde [6]. Beim älteren Patienten hat die inverse Frakturendoprothese daher die Frakturhemiendoprothese nahezu verdrängt. Ihr vermehrter Einsatz sorgt auch dafür, dass die Komplikationsrate der Osteosynthese in dieser Altersgruppe rückläufig ist [7].

Im vorliegenden Themenheft soll die Diagnostik und Therapie der komplexen proximalen Humerusfraktur beleuchtet werden. Grundlage für die Einschätzung und Entscheidungsfindung ist die Frakturmorphologie. In einer einführenden Übersichtsarbeit werden daher die für die klinische Praxis wichtigsten Charakteristika der Frakturmorphologie beschrieben. Darauf folgt eine Arbeit zur Diagnostik, Klassifikation und Therapie der Headsplitfraktur. Jeweils ein Betrag befasst sich mit den Grundlagen und Ergebnissen der anterioren Luxationsfraktur und der posterioren Luxationsfraktur. In einem separaten Beitrag wird dann die Therapiestrategie bei glenohumeraler Kombinationsfraktur vertieft. Ein systematisches Review vergleicht die Ergebnisse der aktuellsten prospektiven Studien zur Frage anatomische oder inverse Frakturendoprothetik bei komplexer proximaler Humerusfraktur. Eine technische Note zur anatomischen Reposition und Fixierung der proximalen Humerusfraktur rundet das Heft ab und soll helfen, die Qualität der Rekonstruktion auch bei schwierigen Frakturen zu verbessern.

Wir hoffen, dass Sie sich nach der Lektüre des aktuellen Leitthemas für die nächste komplexe proximale Humerusfraktur gut gewappnet fühlen.

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Prof. Dr. Helmut Lill

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Prof. Dr. Markus Scheibel

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PD Dr. Ben Ockert